„Eigentlich habe ich alles gemacht“

Ein Gespräch mit dem Theater-, Film- und Fernsehregisseur Wolfgang Glück.
Von Anatol Vitouch (Text) und Jacqueline Godany (Fotos)

Die Strichführung ist unverwechselbar. Trotzdem weiß ich nicht gleich eine Antwort, als Wolfgang Glück mich mit der Frage prüft, von wem die Zeichnung wohl stammt, die gerahmt an einer Wand seines Wohnzimmers hängt. Aufschluss gibt die Widmung: „À Wolfgang Glück. Jean Cocteau.“

Es ist nicht das einzige besondere Stück, das sich in Glücks Gersthofer Wohnung findet. Er ist gerade erst eingezogen, aber alles wirkt wohlgeordnet, hat schon seinen festen Platz: die Emigrationsausgabe der Werke Brechts ebenso wie die Fotos mit seinem Freund Billy Wilder.

Glück selbst macht einen genauso aufgeräumten Eindruck, ist hellwach trotz der frühen Stunde. Während der Besucher noch Bücher und Bilder bestaunt, denkt Glück, ganz Regisseur, schon über die optimale Sitzordnung nach. Zu behaupten, man sähe ihm sein Alter nicht an, wäre eine Schmeichelei, die er vermutlich pointiert kontern würde. Aber wenn er so im Sessel sitzt und erzählt – aufrecht, mit ruhiger Stimme – dann ist es, als ob Alter keine bestimmende Kategorie wäre.

Eigentlich, so Glück, sei er jetzt an einen Ort seiner Kindheit zurückgekehrt. Ein Stück die Bastiengasse hinauf steht das Haus, das einst seine Großeltern bewohnten, bis sie von den Nazis vertrieben wurden. Frühe Erinnerung? Es gibt noch frühere: „Der Zeppelin ist über Wien geflogen. Und ich habe aufgeschrien, weil ich mir eingebildet habe, dass er in das Schlafzimmer meiner Großmut ter hineinfliegt.“ Wie er später recherchierte, überquerte der Zeppelin Wien nur einmal, im Jahr 1931. Damals ist Wolfgang Glück gerade zwei Jahre alt. „Aber dieses Bild sehe ich noch heute vor mir.“

Noch einen historischen Augenblick, die Abschiedsrede Schuschniggs 1938, erlebt er hier einige Jahre später. Seine Eltern bringen den Neunjährigen an jenem Abend früh ins Bett, um der Radioansprache bei der Großmutter gemeinsam in Tränen zu lauschen. „Aber ich bin aufgestanden, die Treppe hinaufgestiegen und habe gesagt: ‚Warum wollt ihr mich nicht dabei haben, ich weiß doch sowieso alles.‘“

„Man erkannte sich unter den Anti-Nazis“
Bald darauf emigrieren die Großeltern nach England, dann in die USA. „Mein Onkel Paul hat sich großartig verhalten, sie bekamen ein kleines Haus in Hollywood.“ Sein Onkel Paul, das war kein anderer als Paul Henreid, der bald darauf mit seiner Rolle als Widerstandskämpfer Viktor László in Michael Curtiz’ Casablanca Weltruhm erlangen sollte. Glücks Eltern allerdings entscheiden sich 1938 als einzige in der Familie dafür, in Wien zu überdauern. „Mein Vater war Schriftsteller und Verleger. Im Ausland gab es für ihn keine Verdienstmöglichkeit. Außerdem haben meine naiven Eltern geglaubt, dass der Wahnsinn nicht lange dauern wird.“

Der Vater erhält Arbeitsverbot. Wolfgang Glück, evangelisch getauft, wird als „Judenmischling“ eingestuft und kann bis auf Widerruf das Akademische Gymnasium besuchen. Am Eislaufverein gegenüber der Schule, freundet er sich mit dem fast gleichaltrigen Otto Schenk an. Und wenn er morgens in den F-Wagen steigt, grüßt ihn der Schüler Helmut QuaQualtinger, der auf dem Weg aus Erdberg zur Stubenbastei ist. „Man erkannte sich unter den Anti-Nazis.“

Erste private Theateraufführungen mit Gleichaltrigen (auch von verbotenen Dichtern) finden in den Elternwohnungen statt. Nachts werden zuhause heimlich die Radionachrichten der BBC empfangen. Aber die Todesangst ist immer dabei.

„Jedes Mal, wenn es in der Früh an der Wohnungstür geklingelt hat, sind wir zusammengefahren, weil wir dachten, jetzt wird der Vater abgeholt. Ich weiß nicht, ob sie wirklich immer in der Früh gekommen sind, aber so hat man sich das vorgestellt.“ Als Glück Jahrzehnte später einmal Billy Wilders Frau erzählt, wie er die Nazizeit in Wien überlebt hat, will sie ihm nicht glauben, dass ein solches Überleben überhaupt möglich war. „Aber es war so. Und natürlich haben wir an den Feiertagen die langen roten Hakenkreuzfahnen aus den Fenstern gehängt, um nur ja nicht aufzufallen. Unlängst habe ich zu einem Historiker gesagt: ‚Wenn plötzlich ein Foto auftaucht, dann würde jeder sagen, na, die in diesem Haus müssen ja besondere Nazis gewesen sein!‘ Aber ohne Tarnung hätten wir’s kaum überlebt.“

Kaffee und Kuchen mit Bert Brecht
Das Leben nach der Diktatur beginnt für Glück mit der Aufnahme als Schauspielschüler am Max- Reinhardt-Seminar. Dort allerdings bleibt er nur zwei Wochen. Er will besonders originell sein und als erste Rolle den Leonce erarbeiten – nicht Hamlet, Karl Moor oder die anderen Heldenrollen. „Die Professorin hat gesagt: ‚Sie den Leonce? Das ist ein Liebhaber! Sie sind bestenfalls ein Brackenburg!‘ (der Looser in Goethes Egmont) Da hab’ ich geantwortet: ‚Danke, Komplexe hab ich schon selber genug!‘ und bin gegangen.“

Vom Theater aber will Glück auf keinen Fall lassen. Als Student der Theaterwissenschaft führt ihn ein Auslandssemester nach Zürich, wo ihm in der Hauptvorlesung zwei Mädchen auffallen, die nicht das fremde Schwyzerdütsch, sondern Österreichisch sprechen. Eine davon ist die Tochter Carl Zuckmayers. Sie trägt den klingenden Vornamen „Winnetou“ und nimmt Glück bald zu Bert Brechts Proben von Herr Puntila und sein Knecht am Züricher Schauspielhaus mit.

Brecht ist der Name Glück-Henreid aus Hollywood wohlbekannt. Er lädt Wolfgang Glück zu Kaffee und Kuchen in sein Haus. Und dort – unglaublich für diese Zeit – interessiert er sich für die Meinung des Achtzehnjährigen, begegnet ihm auf Augenhöhe. Brecht will wissen, wie es in Österreich aussieht, denn es gibt einen von Gottfried von Einem initiierten Plan, in Salzburg ein neues Festivalkonzept zu erarbeiten: mit Brecht als Autor, Berthold Viertel als Oberregisseur und Caspar Neher als Bühnenbildner. „Ich war natürlich begeistert davon, habe gesagt, er soll das unbedingt machen, es gäbe keine Nazis mehr in Österreich. Das habe ich damals wirklich gedacht. Und Brecht wollte – als Staatenloser – die österreichische Staatsbürgerschaft. Er würde auch ein neues Volksstück schreiben, sagte er, statt des veralteten Jedermann.“

Bekanntlich scheitert der Plan: Brecht erhält zwar die Staatsbürgerschaft, aber eine antikommunistische Kampagne lässt das Salzburger Projekt scheitern. Politiker, aber auch Schriftsteller wie Torberg und Hans Weigel greifen ein, implementieren später den ein Jahrzehnt dauernden Brecht-Boykott der Wiener Theater. „Auch Berthold Viertel hatte – als Freund und Wegbegleiter Brechts – ähnliche Schwierigkeiten.“

Wenn Glück von Berthold Viertel spricht, tritt ein besonderer Respekt in seine Stimme, der speziell für diesen Mann, seinen Lehrmeister, reserviert scheint. Heute beinahe vergessen, war Viertel damals der wichtigste Regisseur Wiens am Burgtheater. Als Viertels Assistent lernt Glück durch vier Jahre das Regiehandwerk; für ihn lehnt er später sogar das Angebot ab, als einer der Assistenten an Brechts inzwischen weltberühmtes Berliner Ensemble zu wechseln. Viertel hätte ihn ziehen lassen. „Er war bereits krank und ich wollte ihn nicht im Stich lassen.“

Dass er als Zwanzigjähriger von Viertel als Assistent engagiert wurde, verdankt Glück seiner Hartnäckigkeit: „Ich hatte gehört, dass die Premierenfeiern des Burgtheaters stets in der Gösser Bierklinik stattfanden. Also bin ich an einem Premierenabend früh dorthin gepilgert und habe mich frech an den größten reservierten Tisch gesetzt und gewartet. Schließlich kommen die Schauspieler, die großen: Werner Krauss und Käthe Gold und Josef Meinrad. Niemand weiß, zu wem der junge Mann am Tisch gehört. Als schließlich Viertel erschienen ist, habe ich den Wunsch vorgetragen, sein Assistent zu werden.“ Viertel lehnt ab, aber Glück insistiert, immer wieder. „Irgendwann hat er fast geschrien: ‚Nein, es geht nicht!‘ Und ich habe gesagt: ‚Ich muss aber …‘.

Glück erhält schließlich die Erlaubnis, bei der Bauprobe am nächsten Tag zuzuschauen. „Ich hatte keine Ahnung, was eine Bauprobe ist. Aber ich war dabei!“ Wenige Monate später ist er Viertels rechte Hand und bleibt es bis zu dessen Tod. Wie das ging? „Ich war halt gut“, lächelt Glück, „und wahnsinnig ehrgeizig.“

Nach Viertels Tod im Jahr 1953 nimmt Glücks eigene Regiekarriere Fahrt auf. Er inszeniert zunächst in Kellertheatern, später an kleineren und großen Häusern im ganzen deutschen Sprachraum, eilt von einem Projekt zum anderen und feiert Erfolge. Schon damals zieht es den Cineasten auch zum Kino. Allerdings sind die Möglichkeiten in Österreich beschränkt: „Es gab nur Heimatfilme und Leichte-Mädchen- Filme. Etwas anderes wurde nicht produziert.“

Die ersten Kinofilme Glücks tragen denn auch Titel wie Der Pfarrer von St. Michael und Mädchen für die Mambo- Bar. Parallel inszeniert er Fernsehfilme und vor allem zahlreiche Fernsehspiele, die in der Anfangszeit des Mediums mangels Aufzeichnungstechnik live gesendet werden. „Erich Neuberg, der Fernsehspielchef, hat zu mir gesagt: ‚Du machst zwei Produktionen pro Jahr. Bei einer kannst du machen was du willst, die andere muss ein Riesenerfolg sein.‘ So haben wir es gehalten. Das Fernsehen hat es plötzlich ermöglicht, Literatur bis ins hinterste Bauerndorf zu bringen.“

„Der Schüler Gerber“
Nicht mit allem, was er in dieser Zeit inszeniert, ist Glück heute zufrieden. „Aber ein paar gute Sachen waren schon dabei. Meine Fernsehverfilmung von Schnitzlers Traumnovelle zum Beispiel finde ich gelungen. Ich konnte fürs Fernsehen große Literatur, aber auch viel von den Jungen machen: Ingeborg Bachmann, H.C. Artmann, Peter Handke, Wolfgang Bauer, Peter Henisch etc.“ 1975 erhält Glück für seine innovativen Arbeiten bei ARD und ZDF den renommierten Grimme-Preis.

Zu jenem Projekt aber, mit dem ihm der Durchbruch im Kino gelingt, kommt er durch Zufall: Der für die Torberg-Verfilmung Der Schüler Gerber vorgesehene Regisseur fällt kurzfristig aus, Glück soll einspringen. „Ich habe mir das angeschaut und gesagt: ‚Das Drehbuch ist nicht gut; der Kameramann sollte ein jünger sein; der Hauptdarsteller ist falsch! Wenn ich das alles ändern darf, mache ich es.‘“ Tatsächlich zahlt die Produktionsfirma die schon engagierten Künstler aus und lässt Glück freie Hand bei Drehbuch und Besetzung. Eine gute Entscheidung.

„Der Film war 1981 im Kino ein Riesenerfolg. Bald darauf ist Café Malaria von Niki List herausgekommen. Diese beiden Filme haben die Filmförderung begründet, die erst die bis heute erfolgreiche künstlerische Entwicklung des österreichischen Films ermöglicht hat. Auch der Verband der österreichischen Filmregisseure wurde damals von uns gegründet.“

Das Fernsehen bedrängt Glück, eine weitere Torberg-Verfilmung nachzuschieben. 1987 wird er mit dem Film 38 – Auch das war Wien, der auf einem Roman Torbergs basiert, für den Auslands-Oscar nominiert, den er allerdings nicht bekommt. „Der Schüler Gerber war ein paar Jahre vorher nicht zum Oscar eingereicht worden; man zog den Bockerer vor. Schade, der ‚Gerber‘ hätte den Oscar vielleicht wirklich bekommen.“

Dennoch zahlt sich der Abstecher nach Hollywood aus: Glück lernt Billy Wilder kennen, der bald sein guter Freund wird und den er 1994 sensationell zu einem offiziellen Wien-Besuch überreden kann. Die Emigranten Wilder und Zinnemann sind es auch, die Glück als Mitglied der die Oscars vergebenden Academy vorschlagen, der er immer noch angehört. „Ich bin schon lange nicht mehr aktiv.“

Äußerst aktiv ist Glück ab 1994 als Lehrender an der Wiener Filmakademie, die er von 1997 bis 2003 auch als Institutsvorstand leitet. „Wenn man das ernsthaft macht, kostet es wahnsinnig viel Zeit. Und ich war natürlich so blöd, das ernsthaft zu machen.“

Für den österreichischen Film zahlt sich sein Engagement aus: Barbara Albert, Jessica Hausner, Valeska Grisebach – viele die später für das „Filmwunder“ der 90er-Jahre stehen, werden von Glück an der Filmakademie aufgenommen und ausgebildet. „Eigentlich hauptsächlich Frauen“, bemerkt er.

Und die Fortsetzung der eigenen künstlerischen Karriere? Die habe er sich 1995 durch den Flop des Films Es war doch Liebe? kaputtgemacht, winkt Glück ab. Irgendwann sei da auch ein Misserfolg in der Josefstadt gewesen. „Aber insgesamt habe ich so wahnsinnig viel gearbeitet.“ Über siebzig abendfüllende und vierhundert halbstündige Fernsehspiele und -Filme habe er in seinem Leben gemacht, rechnet Glück vor; dazwischen immer Theater (davon fünf Jahre am Burgtheater), Oper … – „Eigentlich hab’ ich das Gefühl, ich habe alles gemacht.“

Ist also die Zeit für Rückschau und Besinnung gekommen? „Mein Freund Robert Menasse ist mir sehr böse, dass ich meine Lebenserinnerungen nicht aufschreibe. Aber da müsste ich mich zwei Jahre hinsetzen – wofür?“ Da möchte Glück lieber doch noch einen Film machen. Auf dem Tischchen vor ihm liegt ein von ihm verfasstes Drehbuch, für das sich eine deutsche Produktionsfirma aktuell sehr interessiert. „Man wird sehen.“

Privat hat er jedenfalls gerade noch einmal neu angefangen. Glück ist frisch vermählt; seine dritte Frau hat er in Sankt Gilgen am Wolfgangsee, seinem seit Jahrzehnten bevorzugten Urlaubsdomizil, kennengelernt. „Ein gemeinsamer Freund hat uns einander vorgestellt. Und dann war es Liebe.“ Die Hochzeit fand im kleinen Kreis statt. Glücks Trauzeuge? Ein gewisser Michael Haneke.

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