Durch Bush wird die Religion in den USA zur Privatsache

Von Philipp Steger

Auch wenn die Wiederwahl von George W. Bush keine Überraschung war, Bemerkenswertes lieferten die Analysen der Wählerbefragungen: Die Exit Polls (Wählerbefragungen nach Stimmabgabe) zeigten, dass als Wahlmotiv das Thema Wirtschaft plötzlich überholt worden war durch das Motiv „moralische Werte“ – überraschende 22 Prozent gaben an, dass dies bei der Stimmabgabe ausschlaggebend gewesen sei. 80 Prozent dieser Gruppe wiederum stimmten für George W. Bush. Eine Analyse des Wahlverhaltens nach religiösen Gruppierungen bestätigt, dass viele Moral mit Religiosität – vorzugsweise christlicher – gleichsetzen: die „Born Again Christians“, fundamentalistische Christen, machten mit 23 Prozent den bei weitem stärksten und einflussreichsten Pro-Bush-Wählerblock aus. 78 Prozent der Wähler in dieser Gruppe wollten den Präsidenten weiterhin im Amt sehen. Die Konsequenz daraus, dass nämlich Politiker aller Couleurs künftig verstärkt an konservative, christliche Werte appellieren müssen, halte ich für sehr problematisch. Denn aus Angst, mit christlichen Fundamentalisten in einen Topf geworfen zu werden, stehen immer weniger liberale und progressive Politiker öffentlich zu ihrer Religiosität; der steigende Assimilationsdruck verleitet auch religiöse Minderheiten dazu, ihre Religiosität in die Privatsphäre zu verbannen; und Mitte-rechts-Politiker überholen einander im vorauseilenden Kniefall vor der vermeintlichen Macht jener, die ein – wenn schon nicht von Gott, so zumindest von gottesfürchtigen Männern gelenktes – Amerika wollen. Die Republikaner rufen zwar am lautesten nach einer christlichen Nation, sie haben aber weder das amerikanische Christentum noch Gott für sich gepachtet. Anhänger der traditionellen Glaubensrichtungen tendierten – mit einer wichtigen Ausnahme – zwar eher zu George W. Bush, aber bei weitem nicht so deutlich wie die Fundamentalisten: 59 Prozent der Protestanten und 52 Prozent der Katholiken votierten für Bush, während 40 Prozent der Protestanten bzw. 47 Prozent der Katholiken dem demokratischen Herausforderer ihre Stimme gaben. In der Analyse religiös motivierten Wahlverhaltens heben sich drei Gruppen als eindeutige Kerry-Unterstützer hervor: jene 10 Prozent der Wähler, die keiner Religionsgemeinschaft angehören; jene sieben Prozent der Wähler, die einer nicht jüdisch-christlichen Religion angehören; und die drei Prozent jüdischen Wähler. In der ersten Gruppe wählten 67 Prozent Kerry, in der zweiten 74 Prozent. Von diesen drei stellen allerdings bloß die jüdischen Wähler eine Gruppe dar, die auch jenseits von Wahlforschung – ob zu Recht oder Unrecht sei dahingestellt – als weitestgehend homogene und kohärente Gruppe wahrgenommen wird. 74 Prozent amerikanischer Juden wählten John Kerry. Damit sind „Born Again Christians“ und Juden die einzigen religiösen Gruppen, die überwiegend dem einen oder anderen politischen Lager zugehören. Was der einen Gruppe erklärtes Ziel ist, nämlich das Ende der Trennung von Kirche und Staat, ist wohl der anderen Gruppe Alptraumszenario. Die öffentliche Präsenz fundamentalistischer christlicher Rhetorik, die Betonung der Rolle Gottes im Schicksal Amerikas und die allgegenwärtige Invokation einer christlichen amerikanischen Nation sind heute weiter verbreitet als noch vor vier Jahren. Um klarzustellen: Nichts weist auf eine generelle Zunahme der Diskriminierung religiöser Minderheiten in den USA in den vergangenen Jahren hin. Die zunehmende Diskriminierung von Moslems, Ausdruck der allgemeinen Post-9/11-Kultur der Angst, sollte jedoch nicht nur Moslems nachdenklich stimmen. Besonders bedenklich ist, dass der einseitigen Vereinnahmung von Religiosität im öffentlichen Raum kaum etwas entgegengesetzt wird. Seit Jahren, scheint es, hält sich die Mehrheit religiöser Menschen eisern an das – bedauerlicherweise gerade unter Liberalen und Progressiven weit verbreitete – Dogma, wonach die Trennung von Kirche und Staat Politikern und öffentlichen Funktionären Stillschweigen über ihre eigene Religiosität oder Spiritualität auferlegt. Diese selbst auferlegte Zurückhaltung führt im besten Fall zu uninspirierter Politik und im schlimmsten Fall zum Diktat religiöser Fundamentalisten. Der Mangel an Vielfalt von verschiedenen im öffentlichen Raum gelebten Religionen weckt nicht von ungefähr die Versuchung, Amerika als christliche Nation zu reklamieren. Und während sich die Mehrheit zumindest rhetorisch und in der Öffentlichkeit zur Ersatzreligion des heute über allem waltenden wirtschaftlichen Paradigma bekennt, füllen religiöse Fundamentalisten das solcherart entstandene Vakuum. So gesehen ist Kerrys Entscheidung, seine Religiosität im Wahlkampf zu thematisieren, mehr als nur ein taktisches Zugeständnis an die so genannten Wertewähler; sie ist vielmehr Ausdruck seines Rechts, öffentlich über seinen Glauben zu sprechen. „Was immer man im öffentlichen Leben tut, sollte vom jeweiligen Glauben der Person geleitet sein“, sagte Kerry, betonte aber – im Unterschied zu seinem Kontrahenten -, dass die spezifischen Werte nicht über die Gesetzgebung anderen aufgezwungen werden sollten. Das ist zugegebenermaßen eine schwierige Gratwanderung, die nur am konkreten Beispiel beurteilt werden kann. Umso wichtiger ist es, dass Politiker und öffentliche Funktionäre offen über ihre Religiosität und ihr Wertesystem sprechen. Denn nur so können Wähler beurteilen, ob der Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat im Einzelfall gewahrt bleibt. Damit ist auch eine spezifische Herausforderung für religiöse Minderheiten verbunden, haben die meisten Menschen doch nur vage Vorstellungen über die von Minderheiten praktizierten Religionen. Ausdruck dieser Unwissenheit ist es etwa, wenn Meinungsforscher christliche Wähler in weitere Subgruppen unterteilen, alle jüdischen Wähler aber als eine homogene religiöse Gruppe zusammenfassen und so tun, als ob 5,2 Millionen amerikanische Juden allesamt den gleichen Zugang zum Judentum hätten. Vor kurzem zitierte die New York Times in einer kleinen Notiz eine Aussage von Ruth Bader Ginsburg, einer von Bill Clinton ernannten Richterin am US-Höchstgericht: „Ich bin Richterin, wurde als Jüdin geboren und erzogen und bin stolz, Jüdin zu sein. Die Forderung nach Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die jüdische Tradition.“ Die Präsidentenwahl hat die Weichen für die zukünftige Besetzung des neunköpfigen Gremiums gestellt und damit die politische Ausrichtung dieses Gerichtshofes festgelegt. In diesem Kontext gewinnen Ginsburgs Worte zusätzlich an Bedeutung, als ein wesentlicher Beitrag, um die unterschiedlichen Gesichter von Religiosität in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen und damit fortwährend an die immense Bedeutung von Religionsfreiheit zu erinnern.

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