Dürften wir in Teheran demonstrieren?

Sympathisches Auftreten, Eloquenz, elegante Zurückhaltung, dafür ist Dwora Stein bekannt. Dass die hohe Gewerkschafterin aus einer jüdischen Familie stammt und ihre Schwestern in Israel leben, wissen nur wenige. Wie hält sie es mit ihrer Herkunft, was denkt sie über die aktuelle Krisenlage?
Von Danielle Spera und Peter Menasse (Text) und Peter Rigaud (Fotos)

NU: Ihr Name sorgt sicher immer wieder für Spekulationen über Ihre Herkunft. Welche jüdischen Wurzeln haben Sie?

Stein: Ich komme aus einer jüdischen Familie und bin nach der Mutter meines Vaters benannt. Es ist bei uns Familientradition, dass alle ältesten Töchter nach ihr benannt werden, also heißen auch alle meine älteren Cousinen Dwora.

NU: Wie wichtig sind diese jüdischen Wurzeln für Sie?

Stein: Sehr wichtig, ich trage das Jüdischsein nicht vor mir her, wahrscheinlich ist es nicht vielen Menschen bewusst, dass ich Jüdin bin. Vielen wird es aber klar, wenn sie meinen Vornamen hören, wobei ich allerdings erwähnen muss, dass ich auch einen sehr deutschen Vornamen habe, nämlich Gertrude. Diesen Namen habe ich immer gehasst. Einmal habe ich meine Eltern gefragt, warum sie mich so genannt haben. Sie meinten, man wisse ja nie, welche Zeiten noch kommen werden. Es könnte sich also noch als sinnvoll erweisen, einen germanischen Namen zu haben, hinter dem man sich verstecken kann. Das hat mich sehr betroffen gemacht.

NU: Leben Sie ihr Judentum heute?

Stein: Das ist sehr vielfältig. Zwei meiner drei Schwestern leben in Israel, in Jerusalem und haben dort ihre Familien gegründet. Dadurch gibt es eine starke Bindung. Vom Judentum kann man sich ja ohnedies nicht loslösen. Ich bin mir meiner Herkunft sehr bewusst, bin aber nicht gläubig. Mein Vater war sehr religiös. Meine Mutter ist genau das Gegenteil, sie betrachtet das sehr distanziert, egal ob bei Juden oder jeder anderer Religion. Bei mir ist das ganz ähnlich, ich kann mit Religion nichts anfangen. Ich habe Respekt vor echter Gläubigkeit. Sie ist mir aber im Leben sehr selten begegnet. N

NU: Halten Sie z.B. die Feiertage ein?

Stein: Die Feiertage halte ich nicht mehr. Bei uns zu Hause war das aber klarerweise ein Thema, aber zum Feiern braucht man Familie und die gibt es hier für uns nicht mehr, meine Schwestern sind weg, mein Vater ist tot und meine Mutter sehr krank, sonst ist niemand mehr da.

NU: Wie hat Ihre Familie die Shoah überlebt?

Stein: Das war in unserer Familie ein stark tabuisiertes Thema. Mein Vater hat sehr gelitten, er hatte ein furchtbares Schicksal hinter sich mit dem Verlust von vielen ihm lieben Menschen, genau wurde das aber nie besprochen. Meine Mutter hat sehr lange in Wien überlebt, bis 1942, und ist dann von Schleppern gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Budapest gebracht worden, wo sie als U-Boot überlebte. Dort hat sie meinen Vater kennen gelernt, sie haben 1948 in einer jüdischen Zeremonie geheiratet und sind später nach Österreich geflüchtet. Mein Vater war ursprünglich aus Transsylvanien, aus einer sehr großen Familie. Der Teil, der überlebt hat, ist jetzt über die ganze Welt verstreut. Mein Vater war eigentlich Rabbiner, hat das aber nie praktiziert. Um zu überleben, ist er ins Textilgeschäft eingestiegen und war Händler, wie viele andere auch. Meine Mutter hatte keine Chance auf eine Ausbildung, sie hätte aber sicher das Zeug dazu gehabt.

NU: Wie war das in der Nachkriegszeit in Wien, das Klima war ja nicht gerade freundlich gegenüber Juden?

Stein: Unser Leben war sehr widersprüchlich. Meine Eltern haben einerseits auf Integration großen Wert gelegt, das zeigt sich ja auch in meiner Namensgebung – Gertrude! Andererseits bin ich während der Volksschulzeit am Shabbat nicht in die Schule gegangen. In der Mittelschule haben das meine Eltern geändert, mit dem Argument, ich müsste sonst zu viel nachlernen. Ab diesem Zeitpunkt war Samstag ein ganz normaler Tag für mich. Andererseits war aber mein Vater doch religiös. Ich war hin- und hergerissen zwischen Fremd- und Anderssein und dem So-sein-Wollen wie alle anderen auch. Wir haben zum Beispiel keine Weihnachten gefeiert. Das war eine Zeit lang ein großes Problem für mich. Dieses Nicht-genau-Wissen, wohin ich mich orientieren sollte, was bin ich jetzt? Soll man sich in die jüdische Gemeinde integrieren oder sich anderswo umschauen? Das war für mich fast nicht auszubalancieren. Ich habe mich dann nicht der jüdischen Gemeinde zugewandt, meine Schwestern aber sehr wohl. Ich war in keinen jüdischen Organisationen, sie hingegen sind in die Misrachi gegangen.

NU: Welche Erinnerungen haben Sie an die Schulzeit, war es ein Thema, dass Sie Jüdin sind?

Stein: Ich ging in die Kundmanngasse im 3. Bezirk. Irgendwann ist es zum Thema geworden, den Anlass weiß ich nicht mehr. Es gab da natürlich auch Schüler, deren Eltern Nazis waren, und die das dann in die Schule transportiert haben. Die Lehrer haben sich sehr unterschiedlich verhalten. Es gab Lehrer, bei denen ich mir gedacht habe, was tue ich eigentlich hier. Andere wieder haben sehr positiv Partei ergriffen. Damals habe ich erstmals Antisemitismus erlebt, z.B. in den Diskussionen im Geschichts- oder im Deutsch-Unterricht. Persönlich hat mich aber niemand angegriffen. N

U: Und wie ist das heute: Erleben Sie Antisemitismus?

Stein: Keinen gegen mich persönlich gerichteten.

NU: Ist es in der Gewerkschaftsbewegung überhaupt ein Thema, dass Sie Jüdin sind?

Stein: Ich weiß nicht, inwieweit es den Leuten bewusst ist, dass ich Jüdin bin, viele fragen nach meinem Vornamen und dann erzähle ich meine Geschichte. Aber ich habe keine negativen Erfahrungen gemacht.

NU: Heute existiert ja eine ganz neue Form des Antisemitismus in Europa, wie beurteilen Sie das?

Stein: Ich empfinde das als große Bedrohung. Was mich sehr betroffen gemacht hat, war der Karikaturenstreit. Ich war über die Wucht der Demonstrationen, über den Hass, der da herausgebrochen ist, erschrocken. Als ich am Ring eine Demonstration von jungen Moslems gesehen habe, dachte ich, wo leben wir eigentlich? Was ist da passiert, dass es auf einmal solche Emotionen gibt, das hat mich vor den Kopf gestoßen. Ich denke, Toleranz ist ein wichtiger Wert, aber das muss für alle Religionen gelten. Ich bin absolut dagegen, dass man die religiösen Gefühle anderer Menschen verletzt, aber beim Karikaturenstreit hat sich mir sehr stark die Frage nach der Verhältnismäßigkeit gestellt. In Wien waren die Demonstrationen ja noch im Rahmen, aber in ganz Europa war es überbordend. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden in Teheran demonstrieren. Das wäre wohl nicht gut möglich. Das macht mich sehr besorgt.

NU: Wie sehen Sie den Konflikt im Nahen Osten?

Stein: Es gibt einen totalen Wechsel in der politischen Landschaft, zuerst einmal durch den Wahlsieg der Hamas in Palästina und dann natürlich durch den Iran. Wir stehen jetzt einem ganz neuen Bedrohungspotenzial gegenüber.

NU: Wie soll man Ihrer Meinung nach den Iran vom Bau einer Atombombe abbringen, wenn die Diplomatie versagt?

Stein: Ich bin da zu weit weg, um die tatsächliche Gesprächsbereitschaft der Teheraner Führung zu beurteilen, aber vor einem Militärschlag hätte ich furchtbare Angst. Das ist es genau, was die Situation jetzt von früheren unterscheidet. Es ist schwierig zu beurteilen, ob alle Möglichkeiten des Gesprächs ausgeschöpft worden sind.

NU: Was halten Sie von der europäischen Politik in Sachen Iran?

Stein: Die ist nicht vorhanden. Aber wie soll ein so kleines Land wie Israel diesen Konflikt allein bewältigen, das geht ohne internationale Unterstützung nicht. Da braucht man Europa, da braucht man die USA. Eine europäische Politik gibt es in diesem Zusammenhang nicht.

NU: Und Europa steht im Großen und Ganzen nicht hinter Israel … Wenn jemand einspringt, sind es die USA.

Stein: Das ist traurig, es gibt einen gewissen Anti-Amerikanismus, den ich zu einem Teil sogar verstehe. Rumsfeld wirkte auch auf mich überheblich und atemberaubend schlicht. Das wird zu einem großen Problem, auch für Israel, dass nämlich nur noch Amerika da ist, während Europa schweigt und sogar noch parteiisch ist.

NU: Europa wird erkennen müssen, dass es auch bedroht ist. Jetzt sagt man leichtfertig, es wären ohnedies nur die Juden bedroht.

Stein: Das wird ganz bestimmt ein europäisches Problem. Das zeigt sich jetzt aktuell wieder am vereitelten Bombenterror in London oder in Deutschland. Wenn ich an Israel denke, ist es natürlich für mich persönlich sehr belastend, auch wenn meine Schwestern in Jerusalem derzeit nicht direkt bedroht sind. Aber die Bedrohung ist ja immer da. Die ganz große Belastung für meine Schwestern war die 2. Intifada mit den Selbstmordanschlägen. Sie konnten nicht mehr schlafen, beide haben drei Kinder, die großen durften nicht mehr ausgehen, nicht mit dem Bus fahren, jeder Weg, den die Kinder allein zurücklegten, war nervenaufreibend, weil man ständig in Sorge war, dass etwas passiert. Man kann sich kaum vorstellen, was es heißt, unter diesen Bedingungen zu leben. Meine älteste Nichte studiert jetzt in Tel Aviv, hat sich aber schon intensiv mit dem Gedanken beschäftigt, aus Israel wegzugehen.

NU: Wie beurteilen Sie die Kämpfe gegen die Hisbollah?

Stein: Ich halte die Situation für katastrophal. Vor allem, weil sich das Bedrohungsszenario so geändert hat. Es geht nicht nur um die beiden Soldaten, so bedauerlich deren Schicksal ist. Es geht um einen Überlebenskampf, wie der permanente Raketenbeschuss vorher gezeigt hat. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass es mir schon sehr weh tut, wenn Israel für zivile Opfer verantwortlich ist. Ich teile die Ansicht Ari Raths, dass das ganz offensichtlich keine sehr gut vorbereitete militärische Aktion war. Ich halte nichts von diesem Mythos der Unbesiegbarkeit, das ist sowieso ein Blödsinn. Das gibt es sowieso nicht, aber die Schwäche, die Israel jetzt gezeigt hat, ist eine Einladung. Das macht mir wirklich Angst.

NU: Die Sozialdemokratie hat nicht immer einen positiven Zugang zu Juden oder Israel gehabt. Wie geht es Ihnen damit?

Stein: Ich habe keine Funktion in der SPÖ. Doch ich habe mir fest vorgenommen, wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme, mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg zu halten. Wobei es da auch Facetten gibt, es ist nicht überall gleich, es gibt auch da Stimmen, die pro Israel sind. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre.

NU: Wie sind Sie zur Gewerkschaftsbewegung gekommen?

Stein: Ich bin eigentlich hineingerutscht und zwar über eine Arbeitsmarktmaßnahme. Ich habe Psychologie und Pädagogik studiert und bin dann über das Akademikertraining in das BFI gekommen, eine Einrichtung der Gewerkschaft und der AK. Ein Zufall. Und da bin ich mit der Gewerkschaftsarbeit in Berührung gekommen, das hat mich als sozial engagierter Mensch sehr fasziniert. So habe ich bei der GPA begonnen. Über die Gewerkschaftsbewegung habe ich auch meinen Mann kennen gelernt.

NU: Ist Religion zwischen Ihrem Mann und Ihnen ein Thema?

Stein: Mein Mann war evangelisch, ist aber ausgetreten. Religion ist kein Thema, wir feiern gar nichts. Weder das eine noch das andere. Für seine Eltern war es schwierig zu akzeptieren, dass ich Jüdin bin. Er hat aber eindeutig klar gemacht, dass er mit mir zusammen sein will. Juden waren ihnen einfach fremd. Als er aus der Kirche ausgetreten ist, war das schon ein Thema für sie. Letztendlich haben sie mich aber herzlich aufgenommen. Ich war sicher anders als die Menschen, die sie sonst kannten. Für meine Familie war es ein noch größeres Problem, dass ich mit einem Nichtjuden zusammenlebe. Mein Vater hat meinen Mann nie kennen gelernt; meine Mutter hat ihn erst nach dem Tod meines Vaters vor 15 Jahren zum ersten Mal getroffen. Meine Mutter hat meinen Mann aber vom ersten Moment an gern gehabt. Ich bin mit ihm dann auch zu meinen Schwestern gefahren, das war ein sehr schönes Erlebnis.

NU: Wenn Sie Ihre Schwestern besuchen, reizt es Sie nicht, in Israel zu leben?

Stein: Nein, ich will nicht nach Israel, ich bin Europäerin durch und durch. Als ich siebzehn war, bin ich zum ersten Mal hingefahren, das hat mich fasziniert, aber ich wusste schon damals, dass ich mein Leben in Wien verbringen will.

NU: In der Gewerkschaft sprach man zuletzt über grundlegende Reformen. Ist man da wirklich dran, oder wird es nur Kosmetik geben?

Stein: Ich heiße zwar Dwora und Dwora war ja eine Prophetin, aber ich kann leider nicht in die Zukunft schauen. Was jetzt passiert, ist Krisenbewältigung, doch die Perspektive für eine grundlegende Reformen fehlt. Wir leisten jetzt im Schatten der Krise gute Arbeit, aber wir brauchen eine Neuausrichtung. Dafür werde ich mich einsetzen, es wird ein hartes Stück Arbeit.

 

Zur Person

Dr. Dwora Stein wurde 1954 in Wien geboren, nach dem Studium der Psychologie und Pädagogik ist sie seit 1983 in der Gewerkschaft tätig, seit 2005 als Bundesgeschäftsführerin der Gewerkschaft der Privatangestellten. Seit dem Jahr 2000 ist sie auch Vizepräsidentin der Arbeiterkammer Wien.

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