Die verschwundenen Tora-Leser

Die Karäer sind – obwohl weitgehend unbekannt – Teil der jüdischen Welt. Obwohl die meisten Karäer nach 1948 nach Israel auswanderten, gibt es heute noch kleine Gemeinden in der Türkei, in Ägypten, Litauen, auf der Krim und sogar in Paris und den USA. NU besuchte einige Orte der karäischen Diaspora.
Von Thomas Schmidinger

Im 8. Jahrhundert nach Christi versammelte Anan ben David im heutigen Irak jene jüdischen Sekten um sich, die den Talmud ablehnten und ausschließlich die Tora als heiliges Buch anerkannten – sie nannten sich fortan „Karäer“, die Leser. Das Zentrum dieser Gruppe verlagerte sich im Laufe der Jahrhunderte nach Konstantinopel, Ägypten und in die Ukraine. Auch eine Reihe von Berbern in Nord-afrika konvertierten zum Karäertum und brachten schließlich das karäische Judentum nach Spanien. Erst die Vertreibung der spanischen Karäer unter Alfons VII. 1178 setzte dem westeuropäischen Karäertum ein Ende.

Die größte und intellektuell aktivste Gemeinde blieb im 20. Jahrhundert die karäische Gemeinde in Kairo. Mit über 6.000 Gläubigen lebte dort fast die Hälfte aller weltweit existierenden Karäer. Sie bewohnten ein eigenes Viertel, bildeten aber einen integrierten Teil der arabischsprachigen Bevölkerung. Die Karäer Kairos hatten kaum mehr Ähnlichkeit mit den rabbinischen Juden und bildeten einen akzeptierten Teil der arabischen Bevölkerung. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts, als der moderne Antisemitismus auch das politische Klima in Ägypten zu vergiften began, und als nach der Staatsgründung Israels und der Suez-Krise 1956 der Großteil der 65.000 ägyptischen Juden vertrieben wurde, verließen auch fast alle Karäer das Land. Heute leben keine 20 Karäer mehr in der ägyptischen Hauptstadt. Zwar existiert die karäische Synagoge noch, das Gemeindeleben ist jedoch zusammengebrochen. Die paar verbliebenen Karäer werden heute von der – ebenfalls winzigen – jüdischen Gemeinde mitbetreut.
Heute leben die ehemals ägyptischen Karäer großteils in Israel und haben die fast schon verschwundene karäische Gemeinde in Jerusalem wiederbelebt.
Auf dem karäischen Friedhof im Süden des Hinnomtals bei Giv’at Chananya liegen neben fast unleserlich gewordenen Grabsteinen aus vergangenen Jahrhunderten wieder Karäer begraben, die in Kairo, im Irak oder Istanbul geboren wurden. Die Synagoge im jüdischen Viertel der Altstadt, zerstört im Unabhängigkeitskrieg, wurde wieder aufgebaut. Die größten karäischen Gemeinden sind heute in Ramle (700 Haushalte), Ashdod (800 Haushalte), Beer-Sheva (250 Haushalte) und Ofakim (220 Haushalte).

Karäer aus Ägypten und von der Krim wanderten auch in die USA aus. Seit 1926 werden in New York karäische Gottesdienste gefeiert, die meisten schlossen sich rabbinisch-jüdischen Gemeinden an. Lediglich in San Francisco existiert eine eigene gut organisierte karäische Gemeinde.
Die Krim, wo die Karäer eine türkische Sprache angenommen hatten, war jedoch nicht nur Ausgangspunkt der karäischen Emigration in die USA. Bereits 1397 brachte der litauische Großfürst Vytautas Magnus von dort aus Ka-räer nach Litauen und ließ sie in Trakai als Wächter in der Nähe des Fürstensitzes ansiedeln. Da es karäischen Vertretern während der deutschen Besatzung Osteuropas gelang, die Nazis davon zu überzeugen, dass sie keine Juden wären, überlebten die meisten von ihnen die Shoah. Trakai ist somit auch heute noch das Zentrum der litauischen Karäer, deren ältere Generation immer noch teilweise die aus der Krim mitgebrachte karäische Turksprache beherrscht.

Das „Karäische“ ist heute die einzige mit hebräischen Buchstaben geschriebene Turksprache der Welt und wird seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mühsam wieder als Kultursprache der litauischen Karäer aktiviert. Ein kleines karäisches Museum macht in Trakai zudem auf die reiche Geschichte und das kulturelle und religiöse Leben dieser knapp 300 Menschen zählenden kleinsten Minderheit des Landes aufmerksam. Laut Angaben der Statistischen Abteilung der litauischen Regierung lebte 1997 der Großteil der litauischen Karäer in der Hauptstadt Vilnius (138), in Trakai (65) und Panevezys (31). In Trakai und Vilnius existiert auch noch jeweils eine funktionierende Kenesa, ein Gebetshaus der lokalen karäischen Gemeinde. Verbindungen unterhalten die litauischen Karäer vor allem zu den Karäern in Polen, wo eine kleine Gemeinde in Warschau existiert, und zu den Resten der einst großen karäischen Gemeinden auf der Krim.

Die Karäer auf der Krim unterhalten wiederum rege Kontakte zur karäischen Gemeinde in Istanbul, einer der ältesten noch existierenden Gemeinden, die allerdings im 20. Jahrhundert stark schrumpfte. Bereits die großen Brände im alten karäischen Viertel in Huskoy von 1756, 1883 und 1918 hatten der kleinen Gemeinde und ihrer Infrastruktur deutlich zugesetzt. Lediglich die alte Kol Kadosh Kushta Synagoge wurde nach 1918 wieder restauriert. Viele Gemeindemitglieder sind jedoch mittlerweile nach Israel und nach Paris ausgewandert. Die verbliebenen 60 Karäer verfügen zwar neben der Synagoge, in der jede Woche Gottesdienst gefeiert wird, noch über einen eigenen Friedhof, allerdings macht sich niemand Illusionen über den Bestand der Gemeinde. Senja Yaf, ein karäischer Arzt, meint: „In einigen Jahrzehnten wird es hier keine karäische Gemeinde mehr geben. Es werden weit weniger Kinder geboren, die Jungen heiraten Partner aus den anderen jüdischen Gemeinden oder Muslime. Wir sind einfach zu wenige, um die Gemeinde zu erhalten.“ Senja Yaf selbst holte sich als traditionsbewusster Karäer seine Frau eigens von der Krim.

Der Friedhof allerdings zeugt von einer weit zurückreichenden Geschichte der Karäer Istanbuls. Die Gemeinde war auch das Zentrum für kleinere karäische Gemeinden in anderen türkischen Städten. „Vor einigen Jahren war ein Mitglied unserer Gemeinde in Diabak¦r“, erzählt Senja Yaf. „Da sah er jemanden, der wie wir Karäer betete. Dieser wusste gar nicht, dass er Karäer war, sondern sagte, er sei vom Stamm Israel“, erzählt Senja Yaf. Heute weiß fast niemand mehr, dass es in der Türkei einst auch außerhalb Istanbuls Karäer gab. Mit den Gemeinden ist oft auch die Erinnerung an sie verschwunden. Erinnern kann sich Yaf allerdings noch daran, dass sein Urgroßvater ursprünglich aus Wien kam. Selbst seine Mutter habe bis 1938 noch die österreichische Staatsbürgerschaft gehabt. Danach habe sie sich bemüht, die türkische Nationalität zu bekommen. Der lange Arm des Nationalsozialismus hätte sonst auch ihr Leben in Istanbul erschwert.

Der Hinweis auf emigrierte Wiener Karäer macht neugierig: Gab es auch in Wien eine karäische Gemeinde? Ein karäischer Gelehrter aus Holland bestätigt mir, dass es vor 1938 einige karäische Familien in Wien gegeben hatte, wenn auch keine eigene Gemeinde. Anders in Galizien: Als es 1772 habsburgisch wurde, existierten in Brzezany, Halicz, Kukizow, Sambor, Tysmenice und Zolkiew karäische Gemeinden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist allerdings nur noch die Gemeinde in Halicz dokumentiert. Es würde nicht allzu verwunderlich sein, wenn viele dieser Karäer aus dem verarmten Galizien, so wie Tausende rabbinische Juden, im 19. Jahrhundert ihren Weg nach Wien gefunden hätten.

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