Die Tränen des Präsidenten

Von Helene Maimann

Für die aus aller Welt nach Wien eingeladenen Gäste, an die achtzig ehemalige Österreicher, teilweise mit Kindern und Enkeln a n g e reist, wird der Vormittag des 19. März 2002 zu einem unerwartet emotionalen Erlebnis. Dass sie vom Bundespräsidenten in der Hofburg empfangen werden, ist allein schon Grund zum Staunen. Langsam gehen sie durch die Prunkräume der Kaiserin Maria Theresia, von liebenswürdigen Beamten begleitet, von den anwesenden Medienleuten fotografiert und gefilmt. Erwartungsvoll versammeln sie sich im Empfangsaal, dann geht die Tür auf, herein kommt ein ernster Herr, geht auf Leon Zelman zu, begrüßt ihn, legt ihm beide Hände auf die Oberarme, schüttelt vielsagend den Kopf, sagt ihm etwas sichtlich Wichtiges, klopft ihm dann noch auf die rechte Schulter, tritt vor das Mikrofon und hält eine Rede. Thomas Klestil findet gemessene und aufrichtige Worte. Er spricht von den Schmerzen der Vertreibung, den Verlusten an Familie und Freunden, dem bitteren Schicksal des Exils, der Verantwortung der Österreicher, der Ehre, die die anwesenden Gäste der Republik erwiesen , indem sie ihr einen Besuch abstatten, fast alle zum ersten Mal nach mehr als sechzig Jahre n . Dann wird sein Ton wärmer, beschwörender. „Das ist ein anderes, ein neues Österreich, ein neues Land, mit einer neuen Generation“ ruft e r, breitet die Arme aus, als wollte er alle im Raum an sich drücken, schaut den Leuten ins Gesicht, die ihm gespannt zuhören, und dann fängt er plötzlich an zu weinen. Man hat ja schon gehört, dass der Präsident nah am Wasser gebaut hat, aber die ehemaligen Flüchtlinge, viele selbst mit nassen Augen, trifft es wie ein Schlag. Klestil, von seinem Gefühlsausbruch selbst überrascht, kommt zum Ende, ruft noch „Ein Präsident darf nicht weinen“ und wird nach dem Ende des offiziellen Teils von gerührten und aufgeregten Menschen umringt. Schön hat er gesprochen, euer Präsident, sagt eine alte Dame, sie ist weit über achtzig und hält sich kerzengerade. Er hat Herzensbildung, nie im Traum hätte sie sich so eine Begrüßung und so eine Rede vorstellen können.

„Nachdem mich die Österreicher hinausgeschmissen hatten, wollte ich nie wieder zurück. Und jetzt bin ich doch da, und Wien ist wunderschön und ganz neu angestrichen, das ist wirklich eine andere Stadt, eine andere Welt.“

Leon Zelman, der langerprobte Regisseur dieses Tages und dieser Woche, die sein „Jewish Welcome Service“ seit vielen Jahren für vertriebene Juden organisiert, könnte zufrieden sein. Der Bundespräsident nimmt sich Zeit, hört zu, stellt Fragen, gibt Antworten, lässt sich reihum mit den Gästen ablichten, ist locker und legt den Leuten vertraulich die Hand auf den Arm. Die Woche ist schon jetzt ein großer Erfolg, und übermorgen, weiß Leon, werden diese alten Leute beim “ Welser“ in Grinzing die Gläser heben und mit den Heurigenmusikern singen: East waunns aus wird sein Mit ana Musi und an Wein Daun pock ma die siebn Zweschgn ein Ehnder net.

Leon könnte also zufrieden sein. Ist er aber nicht. Er hat vorhin vom Bundespräsidenten gehört, dass das Parlament seinen Anspruch auf das Palais Epstein definitiv nicht aufgibt und sich das „Haus der Geschichte“, das er unbedingt hier und nirgends sonst etabliert wissen will, eine andere Bleibe wird suchen müssen. Das kann er nicht hinnehmen. Er muss mit Klestil darüber reden, sofort. Die beiden Männer führen mitten im Trubel ein längeres Gespräch, man sieht, sie kennen einander gut, Zelman beschwert sich gestenreich, Klestil legt ihm die Hand auf die Schulter, versucht zu erklären, zu begütigen.

Eine Stunde später, im Café Griensteidl, lässt Leon seiner Empörung freien Lauf. Dass ihm, dem alten Sozi, der sozialdemokratische Nationalratspräsident so was antun kann! Wo doch der Heinz Fischer ein alter Freund ist, seit über vierzig Jahren! Das „Haus der Geschichte“ wäre die Krönung von Leons Lebenswerk, es kann, es soll, es muss dort und nur dort entstehen, auf geschichtsträchtigem Boden, im jenem Hause des Juden Epstein, das der Ringstrassenarchitekt Theophil Hansen mitten in der Gründerzeit baute. Es hat zwar in den letzten hundert Jahren viele Hausherren gehabt, darunter die Sowjets und den Stadtschulrat – aber was für eine Genugtuung wäre es, genau hier ein „Haus der Geschichte“ einzurichten! Die Parteien sind doch dafür, und viele hohe Persönlichkeiten unterstützen ihn, von der Stadt Wien hört er nur positive Signale, wieso geht dann nichts weiter?

Leon hat sein ganzes Leben nach Auschwitz, Mauthausen und Ebensee damit verbracht, Wien, die Stadt, in der er 1946 gestrandet war „als lebens- und liebenswert zu zeigen, um zu rechtfertigen, dass ich recht gehabt habe, hier zu bleiben.“ In Abgründe zu blicken, hatte er keine Lust. Von den widerwärtigen Dingen hier, dem manifesten Antisemitismus, der behäbigen Selbstgerechtigkeit, dem unerträglichen Nachkriegskonsens, den zähen Restitutionsverweigerern, den kleinen und großen Nazis hat er lange die Augen abgewendet. „Ich sah das Schlechte an diesem Österreich nicht, weil ich es nicht sehen wollte. Mein privater Akt des Verdrängens, um leben zu können, traf sich mit den Akten der offiziellen Verdrängung auf absurde Weise.“

Kurt Waldheim setzte dem ein Ende, „er zwang mich zur Konfrontation mit meinen Illusionen“. Waldheim machte aus Zelman einen Botschafter des guten jüdischen Willens, trotz alledem. Leon mischte sich vehement in den Konflikt zwischen dem Jewish World Congress und Waldheim ein, flog nach Amerika und erklärte, Wien sei nicht antisemitisch, die Mehrheit hätte gegen den vergesslichen Kandidaten gestimmt. Er ließ sich benützen, um etwas dafür zu bekommen: Anerkennung und Terrain für jüdisches Leben in Wien. Erinnern als Quelle eines neuen Selbstbewusstseins. Das ist gelungen, es lag auch im internationalen Trend.

Dazu gehört für ihn aber, als nächster Schritt, die Festschreibung der Geschichte dieser Republik als gelebter Sieg über das Böse, die Niedertracht, den Tod – als Sieg des Lebens, der Demokratie, der Vernunft. Und der Versöhnung. Und in dieser Geschichte sind die Juden, davon ist Leon überzeugt, ein konstitutives Element. Die Norm a l i s i e rung seiner Stadt ist für ihn untrennbar verknüpft mit der Normalisierung des jüdischen Lebens. Deshalb das Epstein. Um dieser Verknüpfung ein Symbol zu verleihen.

Für Leon Zelman geschieht nichts in Österreich, das nicht auch ihn selbst tangiert. Alles hat Bezug, alles ist verwoben mit seinem persönlichen Leben, er nimmt leidenschaftlich Anteil an den Geschicken der Republik und vor allem an der Stadt, die ihm nach der Shoah eine neue Identität gegeben hat. Jene Juden, die es – wie ihn – nach 1945 hierher verschlagen hat, aber die bis heute auf ihren gepackten Koffern sitzen, zumindest mental, hat er nie verstanden.

Sie stellen sozusagen das Gegenmodell zu seinem Credo dar: Sich für das Leben in Wien zu entscheiden und alles dafür zu tun, dass es nach und nach so wird, wie es sein soll: Kosmopolitisch, offen, liberal, ein guter Platz für seine Menschen. Von nichts kommt nichts, und deshalb hat Leon Zelman seit je die ihm reichlich zugemessene Betriebs- und Beredsamkeit nach Kräften eingesetzt, um seine Ziele zu erreichen. Mit einer an Anmaßung grenzenden Gewissheit ist Leon überzeugt, dass er alle Widerstände überwinden kann. Seine Beharrlichkeit ist stadtbekannt, und seine Streitlust auch.

Was das „Haus der Geschichte“ anlangt, ist sein Ziel höchst ambitioniert. „Wien sollte“, sagte er 1999 in einem Interview, „Hauptstadt der Geschichte Europas werden.“ Und er glaubt, dass „Wien geradezu berufen ist, diese historische Aufarbeitung für die Welt sogar, nicht nur für Europa zu leisten.“ Ein fast utopisches Konzept, aber Leon hat keine Scheu vor Visionen. Und auch nicht vor großen Gefühlen. Er glaubt an die Macht der Überzeugung, des Worts. Sein Lebenswerk ist es, Wien mit seiner Geschichte, vor allem seiner jüdischen, zu konfrontieren und die Juden mit Wien zu versöhnen. Das hat er fünfzig Jahre lang beharrlich betrieben: Mit der Kulturzeitschrift „Das Jüdische Echo“, mit dem „ Reisebüro City“, das seit 1963 den Tourismus nach Israel aufbaute, mit dem 1978 eröffneten „Jewish Welcome Service“. Dazu gehört: Öffentlichkeit und ein intensives Networking. Und ein Gespür für Themensetzung.

In allen dreien ist Leon unbestritten ein großer Könner. Viele Jahre lang konnte man fast sicher sein, Leon in die Arme zu laufen, sobald man den Stephansplatz überquerte. Sein Reisebüro City, eine Dependance des Verkehrsbüros, liegt genau vis-à-vis des Domeingangs, er hat sich strategisch platziert, manche sagen, der Stephansdom befinde sich vis-à-vis von Zelman, das gefällt ihm natürlich. Leon, der Menschenfischer, begrüßte keinen, der ihm wichtig ist, ohne ihn mit einem Anliegen anzusprechen oder daran zu erinnern, dass da noch eine Zusage, ein Versprechen offen sei. Der Stephansplatz war dafür hervorragend geeignet, und da Leon viel unterwegs war, war die Trefferquote hoch.

Heute läuft er nicht mehr so viel herum, sein Schritt ist langsamer geworden, aber seine Überzeugungen trägt er deswegen nicht weniger eindringlich vor. „Mein Leben lang“, sagt er, „hab ich gepredigt, dass sich die Juden und die Nichtjuden aufeinander zu bewegen müssen, dass sich beide um einander und um diese Stadt bemühen müssen. Und dass da eine offene Sprache herrschen muss, auch und gerade von Politikern. Die Einladungen, die Österreich an ehemalige Vertriebene ausspricht und die wir vom Jewish Welcome Service umsetzen, sollen dokumentieren: Wir bekennen uns dazu, dass diese Verbrechen, diese Vertreibung geschehen sind, und dass wir mit dieser Vergangenheit endgültig gebrochen haben. Dies ist ein a n d e res Land geworden. Wenn der Nationalfonds Restitutionen auszahlt, dann ist das kein Geschenk, sondern Entschädigung für gestohlenes Hab und Gut. Das sollte alles klar ausgesprochen werden. Das ist der erste Schritt, um den Juden Normalität überhaupt einzuräumen. Und auch die Juden haben viele Schritte zu tun, um Normalität für sich selbst zu ermöglichen. Normalität ist das Wichtigste – und das am schwersten zu Erreichende.“

Zur Normalität der Juden, sagt Leon, gehört Selbstbewusstsein, das Wissen, wo man herkommt, das Wissen, wo man hingeht, Selbstachtung und Stolz. Er ist auf vieles stolz: Dass er seinen lebenslangen Kampf gegen Hitler gewonnen hat, „weil es in Wien gegen jede Hoffnung wieder eine lebendige jüdische Gemeinde gibt, weil es ihm nicht gelungen ist, die Stadt judenfrei zu machen.“ Dass es wieder hunderte jüdische Ärzte gibt, Anwälte, Uniprofessoren. Dass der Jude Bruno Kreisky Bundeskanzler wurde, auch wenn ihm dessen „Liebesbeziehung zur FPÖ“ schweres Kopfzerbrechen bereitete. Jeder Jude, der es hier in Wien zu etwas bringt, erfüllt Leon mit Stolz. „Wir Juden sind die Erben einer Welt, die fast ganz vernichtet worden ist, wir dokumentieren die Fortsetzung. Die Juden waren hier vor dem Krieg eine Normalität, und das müssen wir uns wieder erkämpfen“. Deswegen hasst er auch das Gerede von den „jüdischen Mitbürgern“. „Wir sind Bürger, keine Mitbürger. Wir sind auch keine Minderheit. Das drängt uns alles in eine Ecke, in ein Ghetto, aus dem wir glücklicherweise herausgekommen sind.“

Wir sitzen beim Italiener um die Ecke von seinem Büro, dauernd grüßt jemand, und Leon breitet seine Träume aus. Von einem neuen Europa, das es versteht, die Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft zu verknüpfen. Von den Jungen, seiner großen Hoffnung. „Wien soll ein Ort der Begegnung für junge Menschen sein, die die Geschichte suchen.“ Und natürlich vom Palais Epstein. Er ist nicht zufrieden, bald ist er fünfundsiebzig, und noch so viel zu tun! Der Bürgermeister ist ein persönlicher Freund von ihm, der Altbürgermeister auch, viele Politiker, Rote und Schwarze, unterstützen ihn, die Medienleute sowieso, er ist ein vielfach Geehrter, kennt Krethi und Plethi, Bill Clinton hat ihm die Hand gedrückt, und dem Bundespräsidenten kommen die Tränen, wenn er wieder eine Gruppe von ehemaligen Österreichern begrüßt. Aber Leon ist nicht zufrieden. Ungeduldig schaut er nach vorn. „ Was willst du, Leon, du hast doch so viel erreicht.“ „Nicht genug, nicht genug!“

Einen Tag später ruft er an. „Das war ein sehr interessantes Gespräch. Aber wir haben nicht über Israel gesprochen“. „Nein“, sage ich. „Und auch nicht über die Kultusgemeinde“. „Stimmt“, sage ich. „Naja“, sagt er. „Das kannst du ja alles in meinem Buch nachlesen. Wirst du es lesen?“ „Das werde ich tun“, sage ich. „Und vergiss ja nicht, mir einen Beitrag für das nächste „Echo“ zu schreiben.“ „Ich verspreche es“, sage ich fügsam.

 

Wer mehr über Leon Zelman erfahren will, sei auf seine Erinnerungen hingewiesen:

Leon Zelman, Ein Leben nach dem Überleben.

Aufgezeichnet von Armin Thurnher.

Kremayr & Scheriau, Wien 1995

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