Die strenge Wissenschaft vom Schach

Großmeister Michail Botwinnik war der sechste Schachweltmeister und begründete die Sowjetische Schachschule.
VON ANATOL VITOUCH

 

In Russland nannten sie ihn (und nennen ihn noch): den „Patriarchen“. Michail Moissejewitsch Botwinnik war das, was man sich unter einem Sowjetmenschen vorstellt. Die gefürchtete sowjetische Schachschule, deren letzte Generation noch bis vor wenigen Jahren das Weltschach dominierte, war sein Lebenswerk. Errichtet hat er es auf den wissenschaftlichen Prinzipien, die seine Arbeit als Elektroingenieur ebenso bestimmten, wie seine Karriere als Schachweltmeister.

„Gymnastik des Verstandes“

Analyse, Analyse, Analyse. So lässt sich – in Analogie zu Lenins „Studieren, studieren, studieren“ – der Zugang zum Schachspiel des 1911 bei St. Petersburg geborenen Sohnes einer Zahnärztin und eines Zahntechnikers bündig beschreiben. Strategische Dogmen durften nicht mehr einfach vollmundig proklamiert werden, wie von Siegbert Tarrasch bis zur hypermodernen Schachschule üblich, so postulierte Botwinnik.

Stattdessen musste die Wissenschaft vom Schach auf Empirie gründen. Wie Karl Marx die Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaft im Detail studiert und daraus allgemeine Erkenntnisse abgeleitet hatte, so sollte auch der aufstrebende Schachmeister vorgehen: Aus extensiver Untersuchung konkreter Stellungen gewann Botwinnik allgemeinere Erkenntnisse über die Mechanik des Spiels.

Und das war eine Methode, die nicht nur rasch praktische Erfolge zeitigte, sondern auch den Repräsentanten des kommunistischen Staates gefiel. Seit Lenin die Bedeutung des Schachspiels als „Gymnastik des Verstandes“ hervorgestrichen hatte, arbeitete man in der Sowjetunion daran, eine Generation junger Spieler heranzuziehen, die den Weltmeistertitel nach Russland holen sollten. Dass mit Alexander Aljechin seit 1927 ausgerechnet ein adeliger russischer Dissident den Titel innehatte, war für die Staatsführung besonders unerträglich. In Botwinnik erkannten die schachaffinen Parteigranden der KPdSU bald den idealen kommenden Weltmeister, der sich selbst so charakterisierte: „Jüdisches Blut, russische Kultur, sowjetische Erziehung.“

Geradlinig wie sein Selbstporträt geriet auch Botwinniks Aufstieg. Schwierigkeiten, wie die schwache Platzierung bei der Meisterschaft der UdSSR im Jahr 1940, beseitigte er streng methodisch: Da das Turnier alljährlich in kleinen, stark verrauchten Räumlichkeiten abgehalten wurde, in denen der Geräuschpegel hoch war, baute Botwinnik diese widrigen Bedingungen kurzerhand in sein Training ein. Er analysierte und schlief fortan vorwiegend in ungelüfteten, stark verrauchten Zimmern und spielte mit seinem Sekundanten Trainingspartien in störend lauter Umgebung. Bei der folgenden Sowjetmeisterschaft erzielte Botwinnik den alleinigen ersten Platz.

Botwinnik-Schachschule

Nachdem Alexander Aljechin 1946 gewissermaßen „im Amt“ verstorben war (er erstickte in einem Hotel in Estoril an einem Stück Fleisch), gewann Botwinnik 1948 das WM-Turnier der besten Spieler der damaligen Zeit mit drei ganzen Punkten Vorsprung und krönte sich zum neuen Weltmeister. Von nun an spielte er wenig Turnierschach und konzentrierte seine Energie auf seine gefürchteten Analysen wie auf die politische Zementierung seines Titels. Auf Betreiben sowjetischer Funktionäre wurde dem Weltmeister vom Weltschachbund FIDE ein Revancherecht bei Niederlage eingeräumt, von dem Botwinnik exzessiv Gebrauch machte: 1957 und 1960 verlor er den Titel jeweils durch deutliche Matchniederlagen gegen Wassili Smyslow und Michail Tal – nur um ihn beide Male im ein Jahr darauf angesetzten Revanchematch zurückzuholen.

Erst 1963 schaffte die FIDE das Revancherecht unter Protesten Botwinniks ab, der den Titel in diesem Jahr, und diesmal endgültig, an Tigran Petrosjan abgeben musste. In der Folge zog sich der bereits 52-Jährige nach und nach aus dem Turnierschach zurück und baute die Botwinnik-Schachschule auf – aus der mit Anatoli Karpow, Garri Kasparow und Wladimir Kramnik drei spätere Weltmeister hervorgingen, die von Botwinnik persönlich unterrichtet und geformt wurden.

Weniger Erfolg hatte Botwinnik mit einem weiteren Steckenpferd seiner späten Jahre, der Programmierung von Schachcomputern. Spielverständnis wollte der Ingenieur seinen Geräten beibringen, echte künstliche Intelligenz wollte er schaffen, und fokussierte bei der Programmierung daher lieber auf die selektive Verfolgung vielversprechender Pfade als auf die sture Steigerung der Rechenleistung. Mit paradoxen Ergebnissen: Botwinniks Maschine spielte manche Stellungen auf überraschend hohem Niveau, „übersah“ dafür aber zweizügige Mattangriffe. Der strenge Rationalist hatte einen genialen elektronischen Patzer erschaffen.

„Botwinniks Schachkarriere war die eines Genies, obwohl er kein Genie war“, sagte wiederum sein weltmeisterlicher Schüler Wladimir Kramnik über den 1995 in Moskau Verstorbenen. Eine dialektische Fügung, die dem Patriarchen des sowjetischen Schachs womöglich gefallen hätte.

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