Die Spionin, die in die Kälte ging

Aus Überzeugung für den Kommunismus wurde Edith Tudor-Hart Fotografin – und Agentin für Stalin.
Von Axel Reiserer, London

Das Mädchen in dem zerrissenen Pullover vor der Auslage einer Bäckerei im Londoner East End, dessen resignierter Blick ihr Wissen verrät, dass die Köstlichkeiten für sie unerreichbar bleiben werden; der Kriegsveteran auf einer Straße in Wien, aus dessen Anzugbeinen zwei Stöcke ragen, dort, wo einmal seine Füße waren; die demonstrierenden Bergarbeiter in Südwales, die dem strömenden Regen trotzen und ein Plakat tragen mit der Aufschrift: „Wir sind ausgezogen, um das Sklavengesetz zu zerschmettern“ – die 1908 in Wien geborene Fotografin Edith Tudor-Hart hat mit ihrer Kunst, die derzeit in einer sehenswerten Retrospektive im Wien Museum zu sehen ist, das soziale Elend ihrer Tage eindringlich aufgezeigt.

Tudor-Hart wollte aber mehr. „Wir waren alle begeistert von der russischen Revolution“, erinnert sich ihr Bruder, der heute 101-jährige Kameramann und Fotograf Wolf Suschitzky im Gespräch in seiner Wohnung in Westlondon. Der Vater von Edith und Wolf, Wilhelm Suschitzky, hatte 1901 im 10. Bezirk gemeinsam mit seinem Bruder Josef die erste Arbeiterbuchhandlung Wiens eröffnet. „Er war ein Freidenker, aus der jüdischen Gemeinde trat er aus, und wir wuchsen ohne jedes Wissen um die jüdische Religion auf. Aber er war sehr großzügig und tolerant gegenüber anderen Meinungen. Doch Edith war er nie radikal genug.“

Mitarbeiterin des sowjetischen Geheimdienstes
Als die Entente-Mächte in Russland gegen die Kommunisten intervenierten, löste das unter vielen jungen Sympathisanten der Revolution große Bestürzung aus. „Damals wollten viele den Russen helfen“, erinnert sich Suschitzky. Er glaubt, dass „Edith schon damals in Wien begonnen hat, für die Russen zu arbeiten.“ Bewiesen ist seit 1998 durch Aktenfunde in Moskauer Archiven, dass Edith Tudor-Hart nach der Auswanderung aus Österreich 1933 nach Großbritannien Mitarbeiterin des sowjetischen Geheimdienstes war.

Unter dem wenig originellen Decknamen „Edith“ war sie unter anderem für die Anwerbung des britischen Spions Kim Philby für die Sowjets verantwortlich. Philby war der bekannteste Vertreter der legendären „Cambridge Five“, die im Herzen des britischen Establishments vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg für Moskau spioniert hatten. Als junger Mann mit linken Sympathien war der frische Absolvent der Eliteuniversität Cambridge 1933 nach Wien gegangen, um den Kampf gegen den Faschismus aus erster Hand zu erleben.

Seine Zimmerwirtin Alice „Litzi“ Friedman, eine jüdische Kommunistin, die 1932 aus politischen Gründen einige Wochen inhaftiert gewesen war, wurde bald seine erste Geliebte. Nach dem Februar-Putsch 1934 heirateten sie am 24. Februar in Wien auf dem Standesamt. Für Litzi war es das Ticket in die Freiheit, kaum war das junge Paar nach Großbritannien entkommen, zerbrach die Beziehung. Doch wie sich Philby noch viele Jahre (und Ehen) später erinnerte: „Obwohl die Basis unserer Beziehung in gewissem Sinne eine politische war, habe ich sie wirklich geliebt und liebte sie mich.“

Friedman hatte eine Freundin aus Wien, die zu diesem Zeitpunkt schon fast ein Jahr in London lebte. Edith Tudor-Hart hatte in den späten 1920er-Jahren in Wien den britischen Arzt Alexander Tudor-Hart kennengelernt, der sich hier über neue Behandlungsmethoden in der orthopädischen Chirurgie bei Professor Lorenz Böhler (der im Mai 1938 der NSDAP beitreten sollte) weiterbildete. Edith schwankte damals zwischen einer Berufstätigkeit als Fotografin oder Kinderpädagogin. 1925 absolvierte sie eine Ausbildung bei Maria Montessori in London, nach ihrer Rückkehr arbeitete sie eine Zeitlang in einem Kindergarten in der Troststraße in Wien-Favoriten. Über die ebenfalls hier tätige Beatrice Tudor-Hart lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. 1929 verbrachte sie dann ein Jahr am Bauhaus in Dessau, wo sie Fotografie bei Walter Peterhans studierte.

Ihr Bruder, Wolf Suschitzky, der ebenfalls nach dem Februar-Putsch 1934 Österreich verließ und sich schließlich in London niederließ, sieht ein gemeinsames Motiv: „Sie wollte etwas tun, um die Gesellschaft zu verändern.“ Die Macht des neuen Mediums war augenscheinlich, auch der Partei: „Die Fotografie ist eine herausragende und unverzichtbare Methode der Propaganda im revolutionären Kampf geworden“, schrieb 1931 Willi Münzenberg, Herausgeber der deutschen Arbeiter-Illustrierten- Zeitung und einer der originellsten und innovativsten Köpfe der kommunistischen Bewegung der Zwischenkriegszeit (was ihm vermutlich 1940 den Tod durch Sowjetschergen bescherte) in seinem Aufruf „Der Arbeiter-Fotograf“.

„Cambridge Five“
Edith Tudor-Hart war nach der Hochzeit mit Alexander 1933 nach London gegangen. Während er eine Praxis im Arbeiterbezirk Brixton im Süden der Stadt aufmachte, fotografierte Edith die Not im Londoner East End: „Sie hatten nie Geld. Das Elend war schrecklich und er behandelte viele Leute gratis“, erinnert sich Suschitzky, „es war sehr schwer, etwas zu verkaufen, und die Bezahlung war elend“. Und sie arbeitete den Sowjets zu: Als Litzi 1934 plötzlich als frischgebackene Frau Philby in London auftaucht, stellte Edith den Kontakt zur sowjetischen „Rezidentura“ her. Kim Philby erhielt von einem offenbar übermütigen Sowjetbürokraten den Decknamen „Söhnchen“.

Bis heute steht der Verrat der „Cambridge Five“ in der britischen Wahrnehmung ohne Beispiel dar. Ihr führender Vertreter war Philby, der sich 1963 angesichts der drohenden Enttarnung nach Moskau absetzen konnte, wo er 1988 als Träger des Leninorden (und schwerkranker Alkoholiker) im Alter von 76 Jahren starb. Noch 1990 gab die sowjetische Post eine Marke mit seinem Konterfei heraus. Philby war genau jener Typ des britischen Geheimagenten, den es nur in Filmen geben soll(te): weltgewandt, vielsprachig, geistreich, verführerisch, umfassend gebildet und unendlich cool. Einer seiner engsten Freunde war ein gewisser Graham Green.

Was Philby alles an Stalins Geheimdienst verraten hat, bleibt bis heute umstritten. Stalin, krankhaft paranoid, konnte sein Glück gar nicht fassen, und misstraute der allzu reichlich sprudelnden Quelle. Dass Philby aus einer Spitzenposition des Londoner Foreign Office gänzlich ungeniert an die Moskauer Ljubljanka berichtete, haben die Briten bis heute nicht verwunden. Zudem war er es, der die anderen vier (Donald Maclean, Guy Burgess, Anthony Blunt und wahrscheinlich John Cairncross) der „Cambridge Five“ zur Arbeit für die Sowjets gewinnen konnte.

Aus Cambridge gab während des Zweiten Weltkriegs auch der österreichische Chemiker Engelbert Broda, überzeugter Kommunist, weltführende Autorität in seinem Fach und Bruder des späteren Justizministers Christian Broda, Geheimnisse über das amerikanische Atomprogramm an Moskau weiter. Sein Sohn Paul, der heute als Professor für Biologie an der Universität Manchester lehrt, berichtet darüber in seinem im Vorjahr erschienenen Buch Scientist Spies. Suschitzky: „Es gab damals einige Leute in Großbritannien, die dachten, die westlichen Alliierten seien allzu verschwiegen gegenüber den Russen, die immerhin unsere Verbündete gegen Hitler waren. Es gab welche, die ihr Wissen an die Sowjets weitergeben wollten. Edith hat das, glaube ich, vermittelt.“

Stiefvater Paul Brodas wurde ausgerechnet sein Kollege Allan Nunn May, ein britischer Physiker, den ebenfalls Edith Tudor-Hart an den sowjetischen Geheimdienst vermittelte. Daneben soll sie Kurierdienste geleistet haben, schreibt der ehemalige KGB-Mann Oleg Zarew in seinem 1998 erschienen Buch The Crown Jewels: The British Secrets at the Heart of the KGB Archives. Nunn May wurde 1945 überführt und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er starb 2003 im Alter von 91 Jahren in Cambridge.

Finanzielle Nöte und andere Schwierigkeiten
Tudor-Hart arbeitete niemals für Geld oder irgendeine andere Gegenleistung für die Sowjetunion. „Das einzige, was man gefunden hat, war eine Taxirechnung über fünf Pfund“, sagt ihr Bruder. Über ihre geheime Tätigkeit sprach sie nie: „Sie war Kommunistin und Parteimitglied, aber sie hat das nie betont. Sie hatte gelernt, wie man sich benimmt, wenn man für die Russen arbeitet“, meint Suschitzky. Er bezeichnet sich ebenfalls stolz als politisch Linker – „Ich glaube immer noch an eine gerechtere Verteilung des Reichtums der Erde“ – und fügt aber hinzu: „Mir hat das nie gefallen, wenn man mir gesagt hat: ‚Die Partei ist das Wichtigste in deinem Leben, und wenn die Partei befiehlt, springe aus dem Fenster, dann musst du es tun.‘“

Umgekehrt wohl seine Schwester. Die Enthüllungen über die Verbrechen des Kommunismus, die Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn 1956 und die Intervention des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei 1968 müssen ein Schock gewesen sein für jeden Menschen, der sich der Sache verschrieben hatte. Suschitzky beantwortet die Frage nur indirekt, aber vielsagend: „Es war für viele sehr schwer hinzunehmen, dass die Kommunisten so viele Menschen geschlachtet haben. Die Partei hatte so eine Macht über ihre Mitglieder, das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.“

Edith Tudor-Hart hat dafür einen hohen Preis bezahlt. Der britische Geheimdienst beschattete sie viele Jahre, ihre Wohnung wurde durchsucht, sie hatte enorme Schwierigkeiten, ihre Arbeiten zu verkaufen und war stets überzeugt, dass sie auf einer schwarzen Liste stand. Nach dem Überlaufen Philbys 1963 zerstörte sie ihren Werkindex und wohl auch einen Teil ihrer Negative. Wenig später gab sie die Fotografie völlig auf. „Ich kann nicht mehr“, sagte sie ihrem Bruder, einem schon damals erfolgreichen Kameramann und Fotografen.

Finanzielle Nöte plagten sie zeitlebens. Die Ehe mit ihrem Mann Alex scheiterte, er ging 1936 als Freiwilliger in den Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner, 1938 erfolgte die Scheidung. „Er war ein sehr netter Mann. Nur war er immer so überbegeistert, erst für Stalin, dann für Mao, immer nach dem letzten Schrei der Revolution“, sagt Suschitzky.

Der schwerste Schlag in ihrem Leben aber war die Erkrankung ihres 1936 geborenen Sohnes Tommy, der mit fünf Jahren an Autismus erkrankte. Jahrelang bemühte sich Tudor-Hart selbst um die Betreuung, schließlich musste sie ihn in Betreuung geben. Kinder waren immer eines ihrer zentralen Motive gewesen, jetzt wurden sie es noch mehr. Es gibt Fotos von ihr, da sieht man, dass ihr beim Drücken des Auslösers das Herz gebrochen ist. Sie zog sich mehr um mehr zurück in die Kälte ihres Schmerzes. Edith Tudor-Hart starb 1973. Ihr Sohn überlebte sie um mehr als 15 Jahre.

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