Die Realität hat die Pessimisten enttäuscht

Der Gaza-Abzug war gerechtfertigt, sagt der ehemalige Oberrabbiner Israels, Israel Meir Lau, und lässt mit dieser Aussage aufhorchen. Das oberste Gebot sei, Leben zu retten, lautet seine Begründung. Der nunmehrige Oberrabbiner von Tel Aviv gilt als die moralische Autorität Israels. Jetzt wird sein Name immer wieder als Kandidat für das Amt des israelischen Staatspräsidenten genannt.
Von Danielle Spera

NU: Der Gaza-Abzug ist viel schneller und besser abgelaufen, als erwartet worden war. Wie ist Ihr Resümee?
Lau: Ich bin glücklich, dass der Abzug ohne Blutvergießen verlaufen ist. Aber erst die Zeit wird uns zeigen, ob es ein vernünftiger Schritt war. Es ist eine Chance, aber auch ein Risiko. Ich spreche von einem Sicherheitsproblem, davon, dass man Menschenleben aufs Spiel setzt. Ob es ein Gewinn für uns war oder vielleicht sogar das Gegenteil, das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Ich fürchte, weder die Regierung noch die Armeeführung können das jetzt beurteilen. Je nach Partei wird man es natürlich optimistisch oder pessimistisch sehen. Aber ob es langfristig gut oder schlecht war, das wird erst die Zukunft zeigen. Ich spreche jetzt nicht vom theologischen, vom halachischen Standpunkt. Wir müssen aber beten, dass sich dieser Schritt positiv auswirken wird. Ohne Optimismus und Glauben würden wir Juden gar nicht mehr existieren. Die Siedler und die Religiösen haben argumentiert, dass Gaza doch Teil von “Eretz Israel”, dem Heiligen Land, sei und es daher halachisch nicht gerechtfertigt gewesen sei, dieses Land zu übergeben. Was war Ihre Meinung zum Abzug aus Gaza? Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns aus einem Gebiet zurückziehen, diesmal ist allerdings alles anders. Diesmal zerstören wir unsere Siedlungen und geben Land ohne Abkommen her. Also diesmal war es ein einseitiger Rückzug. Es gab keine Verhandlungen, keine Friedensgespräche, keinen Waffenstillstand, nicht einmal ein Versprechen, dass es keine Angriffe auf Juden mehr geben werde. Doch Ministerpräsident Sharon ist sicher, dass es für Israel und den Nahen Osten die beste Entscheidung war. Wir leben in einer Demokratie und wir respektieren die Entscheidungen der Regierung und des Parlaments. Ich bin sehr froh, dass trotz allen Schmerzes und Leides kein Tropfen Blut vergossen worden ist, nicht bei den Siedlern und nicht auf der Seite der Soldaten. Im Gegenteil, sie haben Solidarität und Freundschaft gezeigt. Brüderliches Verhalten trotz tiefer Meinungsverschiedenheiten. Viele religiöse Israelis haben in Frage gestellt, ob ein Politiker überhaupt das Recht habe, über Land zu entscheiden, das Gott gegeben hat. Die Halacha schaut hier genau auf das so genannte “Pikuach Nefesh”, also ein Leben aus der Gefahr zu retten. Das ist das oberste Gebot und rechtfertigt alles. Es ist eine halachische Diskussion, die unter Rabbinern geführt wird, wo es auch unterschiedliche Standpunkte geben kann. Doch jeder versteht eine Sache: nämlich, dass das Versprechen der Bibel ein ewiges ist. Die Bibel spricht von Groß-Israel – auf beiden Seiten des Jordan. Das ist das Versprechen, das Abraham, Isaak und Jakob gegeben wurde, und es besteht doch kein Zweifel daran, dass wir deren Nachkommen sind. Als David Ben Gurion 1937 vor einem königlich-britischen Komitee sprach, das die Situation in Palästina untersuchte, sagte er, die Bibel sei das Dokument, das die Ansprüche des jüdischen Volkes auf das Land Israel rechtfertige. Aber vielleicht ist die Zeit für die Erlösung des jüdischen Volkes noch nicht gekommen. Wir haben den dritten Tempel noch nicht gebaut, noch leben viele Juden in der Diaspora, die Mehrheit der Juden lebt außerhalb Israels, also außerhalb der Heimat. Wir haben schon oft bewiesen, dass wir eine Nation sind, die viel Geduld hat. Es gab Rabbiner, die die Soldaten, die in Gaza eingesetzt waren, zur Befehlsverweigerung aufgerufen haben. Unter dem Motto, man dürfe nur den Befehlen Gottes folgen, nicht aber den Befehlen eines Vorgesetzten oder Politikers. Wie haben Sie das beurteilt? Es ist schon bewiesen, dass wir den Konflikt zwischen dem Gesetz der Knesset und dem der Thora verkleinern können. Wir können einen Staat mit Gesetzen erhalten, der auf den Fundamenten der Thora basiert. Nicht nur gibt es keinen Kampf zwischen den Gesetzen der Thora und jenen der Knesset, die Thora gibt den gewählten Parlamentariern sogar die Erlaubnis, auf Basis der Entscheidungen und des Willens der Mehrheit der Menschen im Land Gesetze zum Wohlergehen der Bevölkerung zu verfassen. Da bestehen keine Konflikte zwischen der Thora und den Gesetzen. Allerdings unter einer Voraussetzung: dass keine Gesetze gestaltet werden, die der Thora widersprechen oder ihr zuwiderhandeln. Z. B. ein Gesetz zu erlassen, das die Shabbatruhe absichtlich verletzt, das wäre verboten. Doch alle anderen Gesetze zur Verwaltung oder Verteidigung unserer Gesellschaft, oder um Werte zu schaffen, dazu gibt die Thora ausdrücklich ihre Erlaubnis, und zwar jenen, die dafür vom Volk gewählt worden sind und das Volk repräsentieren. Im Vorfeld des Abzugs aus Gaza gab es Rabbiner, die zu kriminellen Handlungen aufgerufen haben, bis hin zu einer so genannten “pulsa denura” 1), einem Fluch über Sharon, der quasi einem Aufruf zum Mord gleichkommt. Was sagen Sie zu solchen Auswüchsen? Daran war ganz sicher kein Rabbiner beteiligt! Einen derartigen Fluch hat man vielleicht gegen Yitzhak Rabin ausgestoßen. Diesmal hat sich eine Hand voll Extremisten getroffen, Rabbiner war keiner dabei, keiner jedenfalls, der in irgendeiner Form legitimiert wäre. Leider ist allerdings der Titel “Rabbiner” nicht gesetzlich geschützt, so wie der Titel eines Arztes oder Ingenieurs. Was unterscheidet Menschen, die solche Flüche ausstoßen, von islamischen Hasspredigern? Hier richtet es sich zwar sozusagen gegen das eigene Volk, dennoch sind es Aufrufe, andere Menschen zu töten. Ich kann nur sagen, wir leben in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit. Auch wenn das jetzt vielleicht unpassend scheint, fällt mir dazu ein Witz aus dem so genannten Kalten Krieg ein. Es gab eine Diskussion zwischen zwei Diplomaten, einem Russen und einem Amerikaner. Der Amerikaner sagte: “Wenn ich mich in Washington hinstelle und laut rufe, Präsident Truman ist ein Trottel, werde ich nicht verurteilt. Ich kann dort sagen, was ich will.” Der Russe antwortete: “Das ist ja gar nichts, ich kann mich in Moskau auf dem Roten Platz hinstellen und rufen, Präsident Truman ist ein Trottel, und bekomme dafür sogar einen Orden. Also meine Demokratie ist doch besser.” Was ich damit sagen will: Irgendjemand hat eine “pulsa denura” ausgestoßen, wobei ich nicht einmal genau weiß, was das eigentlich ist. Lassen wir das doch so stehen. Es gab Siedler, die sich den gelben “Judenstern” angesteckt und die Soldaten als Nazis beschimpft haben. Verletzt das nicht die Gefühle all jener, die, wie Sie, in Konzentrationslagern waren? Der Stern war orange, nicht gelb, die Farbe der Siedler. Ich habe immer wieder dazu aufgefordert, den Holocaust aus dem Spiel zu lassen. Er soll seinen einzigartigen Platz in der Geschichte haben. Ich habe aufgerufen: Bitte keine Vergleiche mit den Nazis oder Auschwitz. Es gibt einen Spruch in der Thora: “Shal na’alecha me’al raglecha”: Ziehe deine Schuhe aus, denn du stehst auf heiligem Boden. Das heißt, der Holocaust war und soll für alle Zeit ein einmaliges Ereignis bleiben, das sich nie wieder über irgendein Volk ereignen möge. Bitte keine Vergleiche. Ich möchte nicht über Menschen richten. Glücklicherweise waren es aber nur ein, zwei Familien unter tausenden Menschen, die sich den Stern angesteckt haben. Sie waren offenbar darauf aus, mit Nazisymbolen zu schockieren. Laut Umfragen sieht die Mehrheit der Israelis die Spaltung der Gesellschaft in Religiöse und Nichtreligiöse als größte Gefahr für die Zukunft Israels, sehen Sie das auch so? Nach unserem Gespräch werde ich an der Zeremonie zur Umbettung der Toten von Gusch Katif im Gazastreifen auf einen Friedhof in Jerusalem teilnehmen. Die Kluft zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen hier zu schließen, war sicher auch der letzte Wille dieser Menschen, deren Überreste wir heute zum zweiten Mal begraben. Viele von ihnen sind von palästinensischen Terroristen ermordet worden, darunter eine sehr junge Frau, eine Anwältin, sie ist so jung gestorben und wird schon zum zweiten Mal begraben! All diese Menschen starben, weil sie in diesem Teil des Landes leben wollten. Sie wussten aber, dass man zerstörtes Land immer wieder neu aufbauen kann und es daher nie verloren ist. Die Einheit des jüdischen Volkes ist das wichtigste Ziel, das wir erreichen müssen. Das ist aber ein schwieriges Vorhaben, da liegen doch unüberbrückbare Gegensätze zwischen den beiden Seiten. Dass es möglich ist, diese Spaltung zu überwinden, das hat der Abzug aus Gaza eindrucksvoll bewiesen. Soldaten und Siedler haben gemeinsam geweint, einander umarmt, miteinander gesungen und gebetet. Gemeinsam haben sie die Thora-Rollen aus den Tempeln getragen. Das ist doch stärker als jede Schwarzmalerei. Die Realität hat also die Pessimisten enttäuscht. Sie waren der jüngste Überlebende des KZ Buchenwald. Fast Ihre gesamte Familie wurde von den Nazis ermordet. Eine Kern­rage, die wir uns immer wieder stellen und die Sie als Rabbiner – als sehr gläubiger Mensch – sicher auch Ihr Leben lang beschäftigt hat, ist, wie die Shoa überhaupt geschehen konnte. Ich habe gerade meine Autobiographie geschrieben, da können Sie dann meine Antwort auf 350 Seiten nachlesen. Wir sind zu klein, zu schwach und zu kurz auf dieser Welt, um die Entscheidungen des Allmächtigen zu verstehen. Wir können nicht alles wissenschaftlich erforschen, wir haben für viele Probleme der Menschheit noch keine Lösung gefunden. Krebs, Aids sind bisher unerforscht. Die Meere, die Atmosphäre sind noch nicht bis zum letzten Element erforscht. Wir können die Sonne nicht erreichen, die meisten Sterne sind zu weit von uns entfernt, dass wir sie entdecken könnten. Wir begeben uns also in dieser Frage auf eine metaphysische Ebene. Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Glauben. Wissen kann man beweisen. Wenn man diese Frage beantworten könnte, ist es nicht mehr Glauben, sondern Mathematik. Glaube ist aber nicht Mathematik, also drei Mal zwei ist sechs. Das lässt sich überprüfen. Glaube ist etwas ganz anderes. Wie kann man nach dem, was Sie erlebt haben, seinen Glauben behalten, wenn es keine Antwort darauf gibt, dass Gott, wenn es ihn gibt, die Shoa nicht verhindert hat? König David sagte: “Deine Taten, Allmächtiger, sind für meinen Geist zu groß.” Als Kind habe ich immer gefragt: “Dlaczego”, das ist polnisch und heißt: Warum? Aber ich habe keine Antwort bekommen – bis heute, 60 Jahre später. Es gibt religiöse Stimmen, die die Shoa mit den Sünden der Juden in der Vergangenheit erklären wollen. Ich bin nicht der Buchhalter des Allmächtigen. Ich kann meine Bücher in Ordnung halten und meine Taten beurteilen, aber die von anderen Menschen nicht. In der Thora kann man immer wieder Stellen finden, wie im Buch Hiob oder die Opferung Isaaks, wo man nachlesen kann, dass Menschen immer wieder geprüft wurden, um ihren Glauben zu testen. Das war keine Strafe, nur eine Prüfung. Was kann ich über die Entscheidungen G’ttes wissen? Die Shoa ist für mein Verständnis zu hoch. In der letzten Zeit wird Ihr Name immer wieder im Zusammenhang mit der Nachfolge des israelischen Staatspräsidenten Moshe Katzav genannt. Soll ein Rabbiner einen Platz in der Politik einnehmen? Bisher kamen alle Präsidenten aus der Politik, nur einmal nicht. Da hat man aus einem hervorragenden Wissenschafter einen schwachen Politiker gemacht. Sie aber gelten als äußerst integrative Figur für die israelische Gesellschaft. Ich versuche aber gar nicht, Politiker zu sein, im Gegenteil. Ich flüchte. Ich glaube, dass ich als geistlicher Führer der Politik neutral gegenüberstehen muss. Ich gehöre keiner Partei an, werde von keiner Partei unterstützt. Ich möchte auch von keiner Partei gewählt werden. Ich bin sieben Mal für hohe Funktionen im Rabbinat gewählt worden und das immer ohne Unterstützung einer politischen Fraktion. Das ist für israelische Verhältnisse sehr ungewöhnlich und darauf bin ich stolz. Ich möchte meinen guten Ruf nicht verlieren und mich nicht für irgendeine Partei zur Verfügung stellen. Ich gehöre den Menschen in Israel. Zur Person: Rabbi Israel Meir Lau wurde 1937 in Piotrkov, Polen geboren. Er war der jüngste Überlebende des Konzentrationslagers Buchenwald. Seine Eltern und Geschwister wurden bis auf einen Bruder, der mit ihm überlebt hat, von den Nazis ermordet. 1946 wanderte er nach Israel aus, wo er von seinem Onkel und seiner Tante aufgenommen wurde. Aus einer Familie von Rabbinern stammend, schlug auch er diesen Weg ein und wurde nach seiner Ausbildung in Israel 1971 Rabbiner. Er war unter anderem Oberrabbiner von Netanya, Tel Aviv, aschkenasischer Obberrabbiner von Israel und ist Mitglied von Rabbinatsgerichten. Seit Juni ist er wieder Oberrabbiner von Tel Aviv. Vor kurzem erschien seine Autobiographie. “Al tishlach yadha el hana’ar” (“Erhebe deine Hand nicht gegen den Buben”), Yedioth Ahronoth, 350 Seiten. Bisher ist nur die hebräische Ausgabe erhältlich. An einer englischen Übersetzung wird gearbeitet. Fußnote: 1) pulsa denura – Peitschenschlag aus Feuer. Der Begriff kommt aus dem Aramäischen. Ein Todesfluch mit seinem Ursprung im kabbalistischen Mystizismus. In Israel ist der Begriff im Zusammenhang mit dem Aufruf zur Ermordung des früheren Regierungschefs Yitzhak Rabin durch radikale Kreise aufgetaucht.

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