„Die Palästinenser können ihren Staat neben, nicht anstelle von Israel haben“

Starkes Zeichen und lauter Protest: Eine der zahlreichen Demonstrationen gegen die rechtsnationale Regierung Israels im Mai 2023. © Ilia Yefimovich/dpa /picturedesk.com

Einat Wilf, ehemalige Politikerin der israelischen Arbeiterpartei, gilt als eine der führenden Intellektuellen Israels. Ein Gespräch über die geplante Justizreform, Netanjahus mögliche Rückzieher und warum die Hoffnung auf eine Lösung des Palästinenserkonflikts bei der arabischen Welt liegt.

NU: Was ist los in Israel?

Einat Wilf: Im Moment habe ich das Gefühl, dass sich die Dinge etwas beruhigt haben. Einer der Gründe ist meiner Meinung nach, dass Benjamin Netanjahu aufgrund der sehr intensiven Reaktion das Interesse verloren hat, das Thema der Justizreform weiterzuverfolgen. Eigentlich hatte er von Anfang an nie ein wirkliches Interesse daran. Die ganze Idee der Justizreform war immer das Interesse von etwa zwanzig Menschen. Man konnte einige auf der linken Seite finden, einige auf der rechten, aber es war nie wie ein großes Wahlkampfthema, schon gar nicht eines, das Leidenschaften entzündete. Doch als dies mit Netanjahus Prozess und seinem Gefühl, dass er zu Unrecht verfolgt wird, verschmolz, wurde es zu einem großen Problem. Und ich denke, er wurde zu der Annahme verleitet, dass ihm die Unterstützung der Justizreform einen gewissen Einfluss geben wird, den er nutzen könnte, um aus seinen rechtlichen Problemen herauszukommen. Ich denke, jetzt glaubt er – wegen der vehementen Reaktion in der israelischen Gesellschaft – genau das Gegenteil.

Sie denken also, Netanjahu könnte die Justizreform komplett fallen lassen?

Also, ich bin seit vielen Jahren eine Beobachterin von Netanjahu, einige davon aus einer großen Nähe: Wenn er bemerkt, dass Dinge in die Luft fliegen, dann macht er einen Rückzieher. Er ist an der Sache nicht mehr interessiert, wenn er es überhaupt je war. Ihn interessieren innenpolitische Fragen ohnehin im Allgemeinen nicht so sehr. Das Komische ist, wenn Sie sich seine jüngsten Interviews anhören, sagt er jetzt immer wieder: ‚Präsident Herzog berief die Parteien ein. Ich respektiere das. Welcher Kompromiss auch kommen mag, ich werde ihn begrüßen‘. Und Sie können ihn wirklich sagen hören: ‚Präsident Herzog, bitte stellen Sie sicher, dass diese Verhandlungen die nächsten drei Jahre ohne Ergebnis fortgesetzt werden‘.

Halten Sie selbst die Justizreform für notwendig?

Es gibt bestimmte Argumente auf der anderen Seite, die ich völlig akzeptiere. Ich denke, es ist ein Problem, dass der Oberste Gerichtshof in Regierungsnominierungen eingreift. Ich glaube nicht, dass es Sache des Obersten Gerichtshofs ist. Ich habe in einem Artikel geschrieben, dass das Problem ist, dass sowohl die Regierung, also die Exekutive, als auch der Oberste Gerichtshof, also die Judikative, die dritte Macht im Staat, die Knesset – also das Parlament, die Legislative, gemeinsam geschwächt haben. Ich habe argumentiert, dass beide Macht an das Parlament zurückgeben müssten – nicht einander.

Was ist dann das Problem?

Dass es nicht darum geht. Was meiner Meinung nach ein Problem war und bleiben wird, ist das Gefühl, dass Netanjahu aufgrund seiner rechtlichen Probleme bereit war zuzulassen, dass die ultraorthodoxen Parteien, die fundamentalistischen extremistischen Parteien, die Siedlerpartei, das Land regieren würden. Ich argumentiere, dass dies Elemente sind, die immer in der israelischen Politik vertreten waren. Aber es war immer klar, dass man sie nie regieren lässt. Du gibst ihnen ein paar Dinge, aber du lässt sie nicht ans Steuer. In einem kürzlich erschienenen Essay habe ich dafür die Metapher von einem Spielzeugrad verwendet: Sie können auf dem Fahrzeug sitzen und mitfahren, aber sie bekommen kein echtes Lenkrad. Sie bekommen ein Spielzeugrad zum Drehen und sie glauben sie können lenken. Jetzt hatte man zum ersten Mal das Gefühl, dass diese Koalitionspartner, wegen Netanjahus rechtlicher Probleme, tatsächlich das Steuer im Staat übernehmen. Ich denke, was die Demonstranten fast instinktiv getan haben, war einfach, die Notbremsen zu betätigen.

Das würde bedeuten, dass die Demonstrationen weitergehen werden, auch wenn für die Justizreform ein Kompromiss gefunden wird, oder diese sogar überhaupt begraben wird?

Nun, die Proteste werden sich ändern. Erstens werden sie viel kleiner, weil sie bereits verstehen, dass sie erfolgreich die Notbremse gezogen und ihre Macht demonstriert haben. Und Netanjahu übernahm wieder Steuer. Das hat die Proteste schon viel kleiner gemacht. Und man sieht schon jetzt, dass sich auch die Proteste verändern. Sie sprechen über den Einfluss der ultraorthodoxen Juden und welche Auswirkungen sie auf das Land haben. Bald wird sich dieses Thema auf das Thema des Budgets verlagern.

Bei meinen letzten Besuchen in Israel wollten mich alle Menschen ständig davon überzeugen, dass die Situation in Israel noch nie so schlimm war. Und ich dachte mir immer wieder: Sogar ich erinnere mich an viele Situationen in Israel, die mir kritischer erschienen als diese.

Ich teile Ihre Ansicht völlig. Wenn Leute mir sagen, dies sei die schlimmste Krise in der israelischen Geschichte, habe ich immer gefragt: Wann bist Du geboren?

Sehr guter Punkt. Das ist wunderbar zu hören. Bei einem der letzten Male, als ich in Israel war, sind wir auch ins Westjordanland und nach Ramallah gefahren. Wir trafen Palästinenser und beobachteten die Situation. Da bekam ich ein sehr, sehr schlechtes Gefühl. Ich dachte mir: so sieht also ein „failed state“ aus, ein gescheiterter Staat.

Zunächst einmal müssen wir grundsätzlich verstehen, dass der Grund dafür, dass es sich um einen gescheiterten Staat handelt, darin besteht, dass das palästinensische Ziel von vornherein darin bestand, niemals einen Staat zu haben. Sie haben sich nie am Staatsaufbau orientiert. Es ist nicht ihr Ziel. In vielerlei Hinsicht ist es ein Ziel, das ihnen von außen aufgezwungen wird. Aber ihr Ziel war es immer – und zu ihrer Ehre, sie haben das immer klar gesagt – sicherzustellen, dass es keinen jüdischen Staat gibt.

Aber das Ziel, einen kleinen palästinensischen Staat zu haben, neben oder anstelle von Israel, war nie ihr Ziel. Zunächst einmal werden sie mit etwas, dass sie nicht einmal versuchen zu verfolgen, keinen Erfolg haben. Welche Hoffnung es auch immer gibt, sie kommt nicht von den Palästinensern selbst. Welche Perspektive es auch immer gibt, sie wird aus der breiteren arabischen Welt kommen. Dort finde ich zunehmend Hoffnung, weil die arabische Welt den Antizionismus und die Palästinenser jahrzehntelang im Wesentlichen als Mittel benutzt hat, um den Ärger über ihre Dysfunktion abzulenken. Und es ist kein Zufall, dass die Länder, die funktionaler oder weniger dysfunktional werden, insbesondere am Golf, die Länder sind, die das Interesse an dem Konflikt verlieren. Sie verlieren das Interesse am Antizionismus. Sie sagen: ‚Wir brauchen das nicht mehr‘.

Die arabischen Länder wussten immer, worum es in dem Konflikt geht, richtig? Sie wussten immer, dass es nicht um Siedlungen oder die militärische Besetzung geht. Sie wussten immer, dass die Palästinenser im Wesentlichen die Vorhut der arabischen Ablehnung eines jüdischen Staates waren, und zwar in jedem Teil des Landes Israels. Und deshalb sind sie die Einzigen, die den Palästinensern sagen können: ‚Genug ist genug!‘ Wir brauchen sie nicht mehr, um die Rolle der Vorhut gegen die einfallenden Kreuzritter zu spielen.

Aber wie wird diese Lösung Ihrer Meinung nach aussehen?

Ich denke, es wird wie ein erweiterter Trump-Plan sein. Man wird zu diesem Plan zurückkehren, den die Leute viel zu schnell verworfen hatten. Denn er spiegelt wider, was Israel und die arabischen Länder vereinbaren können. Weil sie auch diejenigen waren, die hinter den Kulissen daran gearbeitet haben. Der Trump-Friedensplan umfasste etwa 70 Prozent des Territoriums. Sie können sich 80 bis 85 Prozent vorstellen, sogar 90 Prozent. Wichtig ist, dass die Saudis und andere arabische Länder zusammenkommen und sagen: Das ist gut, das ist fair. Und wie gesagt, sie werden es den Palästinensern sagen, und dieses Mal werden sie ja sagen. Sie können sich einen Prozess vorstellen, der schrittweise eine Anerkennung bringt. Das Wichtigste ist, dass es für die Palästinenser sehr schwierig sein wird, weiterhin nein zu sagen, sobald die arabischen Länder an Bord sind.

Das wäre dann eigentlich ein souveräner Staat oder sagen wir mal ein souveräner Staat Minus.

Es wird jedenfalls ein entmilitarisierter Staat sein. Klar ist, dass sie keine Armee haben werden. Ägypten und Jordanien werden mit Israel zusammenarbeiten, um dafür zu sorgen, dass die Grenzen nicht zur Militarisierung des Landes genutzt werden. Aber die Idee ist, dass sie ein souveräner Staat sein werden, ein anerkannter Staat. Israel wird sie anerkennen und das war‘s.

In Ihrem letzten Buch kritisieren Sie die Haltung des Westens gegenüber den Palästinensern und schreiben im Untertitel Ihres Buches: Wie die westliche Verhätschelung des palästinensischen Traums den Weg zum Frieden behindert. Können Sie das bitte ein wenig erklären?

Zur Verteidigung der Palästinenser muss gesagt werden, dass sie im letzten Jahrhundert auf jede erdenkliche Weise deutlich gemacht haben, dass aus ihrer Sicht die Existenz eines jüdischen Staates, in welches Grenzen auch immer, ein Gräuel ist und dass es ihre oberste Priorität ist, dass es keinen jüdischen Staat geben soll. So haben die Palästinenser immer auf ihr Recht bestanden, dass Millionen von Palästinensern das Recht auf Rückkehr nach Israel haben, nicht nur in das Westjordanland und Gaza. Ein Recht, das es für Dutzende Millionen von Flüchtlingen im 20. Jahrhundert nicht gab. Keine Flüchtlingspopulation hatte dieses Recht, weil klar war, dass dies den Krieg fortsetzen würde – was aber genau das war, was die Palästinenser wollten. Aber ihnen wurde auf einzigartige Art und Weise erlaubt, den Krieg von 1948 bis zum heutigen Tag fortzusetzen.

Mit welchen Argumenten?

Wenn heute westliche Diplomaten und Journalisten Palästinenser vom Recht auf Rückkehr sprechen hören, dann sagen sie, dass dies nur ein Wahn sei. Die Palästinenser wüssten, sie könnten Israel nicht loswerden. Aber ich sage, nein, sie schauen sich die Landkarte an: Sie sehen sieben Millionen Juden, die ums Überleben kämpfen und dem gegenüber eine halbe Milliarde Araber bzw. 1,3 Milliarden Moslems. Aus ihrer Perspektive sind die Palästinenser nicht wahnhaft. Sie meinen, sie können einfach abwarten, bis es mit Israel wieder vorbei ist. Es ist eine völlig rationale Weltanschauung und sie waren sehr konsequent darin. Die Tatsache, dass der Westen weiterhin die Hilfsorganisation UNWRA finanziert, im Wesentlichen die Organisation, die es den Palästinensern erlaubt, so zu tun, als sei der Krieg von 1948 immer noch ein offener Fall, ist eine Nachsicht, die den Konflikt tatsächlich am Laufen hält. Denn wenn Sie wirklich wollen, dass der Konflikt endet, müssen Sie trennen: Zwischen ‚Gutes tun‘ oder ‚sich gut fühlen‘.

Zu viele Menschen wollen sich aber ‚gut fühlen‘. Sie spenden Geld, tätscheln den Palästinensern den Kopf und sie fühlen sich gut. Aber ‚Gutes tun‘ wäre eigentlich das genaue Gegenteil: Es würde bedeuten, den Palästinensern zu sagen, dass der Krieg vorbei ist. Und dass es ihr Ziel und der Krieg von 1948 war, die Entstehung eines jüdischen Staates zu verhindern. Diesen Kampf haben sie verloren. Das will ihnen aber keiner sagen. Und so tun sie weiter. Sie müssten akzeptieren, dass die Juden einen gleichen Anspruch auf dieses Land haben und dass sie hierbleiben. Sie können ihren Staat neben Israel haben, aber nicht anstelle von Israel.

Wie sieht die Lösung aus?

Die westliche Welt müsste sagen: „Solange es euer Ziel ist, einen Staat anstelle von Israel zu haben, solange ihr weiterhin an dieses Nicht-Existenz-Rückkehrrecht glaubt, werden wir euch nicht unterstützen.“ Die Menschen im Westen wollen sich gut fühlen und sind nicht bereit, Gutes zu tun. Deshalb liegt meine Hoffnung zunehmend bei der arabischen Welt und nicht beim Westen. Weil die arabische Welt viel eher bereit zu sein scheint, den Palästinensern zu sagen, dass es genug ist. Der Krieg ist vorbei, der jüdische Staat wird bleiben.

„Die Palästinenser haben den Kampf verloren. Das will ihnen aber keiner sagen.“ Für die Politologin Einat Wilf steht fest: Israel zahlt den Preis, weil die Menschen im Westen sich gut fühlen wollen.
© 2023 DR. EINAT WILF
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