Die mutigen Tabu-Brecher

Das Nachrichtenmagazin profil hebt die „Israel-Lobby“ aufs Cover, der Artikel dazu steckt voller Anspielungen und Unterschwelligkeiten. Ob die „saudische Lobby“ demnächst auch so prominent gecovert wird?
Von Eva Menasse

Es ist das Bedürfnis von Kindern, unerlässlich für ihre geistige Entwicklung: an das Verbotene zu rühren, um zu sehen, wo Mama und Papa die Grenzen setzen. Wenn Erwachsene in sich selbst keine hinreichenden moralischen Richtlinien finden und eine Reaktion von außen provozieren wollen, dann tun sie das auch. Sie spielen infantil mit dem vermeintlichen Tabu.

Mit dem vermeintlichen Tabu: Natürlich existieren Tabus auch in unserer scheinbar so tabulosen Gesellschaft, aber da sie eben Tabus sind, werden sie nicht oder kaum berührt. Definitiv kein Tabu ist es, bestimmte Juden, Israel oder die israelische Politik zu kritisieren, auch wenn die Antisemiten, Rassisten und die, die es noch werden wollen, das ständig behaupten.

Im November erschien die Schweizer „Weltwoche“ mit folgendem Titelblatt: Zwei nackte Babys, eines weiß, eines schwarz, sitzen nebeneinander. Das schwarze streckt das Händchen aus, als wollte es Kontakt aufnehmen, das weiße schaut aber grimmig. Darunter steht: „Wer ist intelligenter? Gelb schlägt Weiß, Weiß schlägt Schwarz“. Im Blattinneren dann ein Artikel, der, wenn man ihn zu Ende gelesen hat, folgendes Ergebnis bringt: Alles nur Datenmaterial, statistische Spielerei, die Menschen in Schwarzafrika schneiden zwar bei den im Westen entwickelten Intelligenztests traditionell am schlechtesten ab, aber dass das mit Lebensumständen und Bildung zu tun hat, zeigt sich schon daran, dass die Schwarzen in den USA deutlich besser sind. Und zum Erfolg im Leben, so klingt der Artikel augenzwinkernd aus, verhält sich ein hoher IQ beinahe umgekehrt proportional: Überraschend viele Akademiker können nicht mit Geld umgehen, sind bankrott, verschuldet oder haben zumindest schon oft vergessen, ihre Rechnungen zu bezahlen. Wie gesagt, das ist der faktische Sukkus des Textes. Gelegentlich schlägt er zwar hin auf die „Linken“ und politisch Korrekten, die solche Wissenschaft angeblich am liebsten verbieten wollen. Aber insgesamt dementiert der ganze, sachlich geschriebene Artikel im Heft eher die kindische Provokation des Titelblattes, die mit den Emotionen, der Empörung der Moral einerseits und der Zustimmung der Rassisten andererseits spielt.

Nun gut, wird man einwenden, die Schweizer „Weltwoche“ ist mit dem neuen Eigentümer und Chefredakteur bekanntlich nach rechts gerückt, also ist nichts anderes zu erwarten.

Dem halte ich das „profil“ vom 10. September entgegen. Vor dem Hintergrund der israelischen Fahne die dicken roten Lettern: „Warum ist Israel so mächtig?“ Und ganz klein und weiß darunter: „Sind es starke Lobbys in den USA – oder bloß antisemitische Vorurteile?“

Diese Schlagzeile muss man sich zu Gemüte führen: „Warum ist Israel so mächtig?“ enthält in der Frage bereits eine Tatsachenbehauptung, nämlich dass Israel erwiesenermaßen „so“, also sehr, mächtig ist, und fragt nun nach den Gründen dafür. Das kann, im Kleingedruckten, dann aber nicht gleichzeitig „bloß“ ein Vorurteil sein, denn ein Vorurteil zeichnet sich ja dadurch aus, nicht durch Fakten gedeckt zu sein.

Das ist nun nicht einfach schlechte Sprache, sondern Programm. Der ganze Artikel, geschrieben von Robert Misik, der, als mit einer Jüdin verheirateter Linksintellektueller, für dieses Thema wohl der ideale Autor schien, transportiert genau diese unterschwellige Botschaft: Israel ist „mächtig“ (die Frage des Covers wird innen auch als Titel verwendet), und darüber zu reden muss bitteschön – in Klammer: endlich – erlaubt sein, was es, in Klammer, bisher nicht war. Also bedient er klar die üblichen Ressentiments, die antisemitisch zu nennen wir uns getrost ersparen können.

Fangen wir unsere Untersuchung, wie bei der „Weltwoche“, von hinten an. Wenn ein besonders aufmerksamer, kritischer Leser diesen Artikel mitsamt allen Kästen und Interviews gelesen hat, verfügt er zwar über wenige überraschende Neuigkeiten, aber, immerhin, über eine halbwegs faire Faktenlage. Fassen wir sie zusammen: Es gibt in den USA Lobbys, die für Israel arbeiten. Sie bedienen sich dabei auch höchst unfeiner Mittel. Diese Lobbys machen sich wichtig und nennen sich mächtig, sind aber, verglichen etwa mit den arabischen Lobbys, finanziell lächerlich schwach. Sie sind rechts, diese Israel-Lobbyisten, und es sind beileibe nicht nur Juden darunter, sondern auch christliche Fundamentalisten, die für ihre ersehnte Apokalypse unbedingt die sündhaften Juden brauchen, sonst klappt am jüngsten Tag ihr Erlösungsszenario nicht. Von der Mehrzahl der amerikanischen Juden unterscheiden sich diese Lobbyisten eminent, weil die amerikanischen Juden grosso modo nämlich linksliberal und absolut Anti-Bush sind. Weil Bush ein rechter Typ ist, der in Holzhammerkategorien denkt, haben die Lobbyisten in den letzten Jahren erheblich an Einfluss gewonnen, was schade ist, weil das einem Frieden in der Region entgegengewirkt haben könnte, das jedenfalls ist die Meinung der Autoren des Buchs „Die Israel-Lobby“ und offenbar auch des „profil“.

Diese Fakten rechtfertigen aber in nichts den Wind, den der Artikel macht, bis er, spät und erschöpft, endlich zu ihnen kommt. Es geht ihm nämlich vor allem darum, was man angeblich nicht sagen darf, weil man sonst „mundtot“ gemacht wird, sich jetzt aber in einer Aufwallung beispiellosen Mutes doch zu sagen entschlossen hat. Im Gegensatz zur „Weltwoche“, die ihr Schwarz-Weiß-Thema selbst entdeckt und immerhin sehr breit recherchiert hat, versteckt sich „profil“ fast völlig hinter den Thesen des Buchs „Die Israel-Lobby“ von John Mearsheimer und Stephen Walt. Zur Rechtfertigung der eigenen Aufregung muss man dieses Buch erst groß schreiben. Schon die ersten Sätze vibrieren daher vor Erregung: „Noch selten wurde ein Buch derart nervös erwartet. Es war ein angekündigter Skandal … nach Monaten größter Geheimhaltung …“ Und so weiter. Abgesehen davon, dass die Memoiren von Monica Lewinsky bestimmt noch viel nervöser erwartet wurden und sich andere Bücher finden ließen, die dieses grandiose „noch selten“ widerlegen könnten, setzt sofort, in der Sprache des Ressentiments, die Attacke auf eine erst diffus bleibende Gruppe, genannt die „jüdischen Organisationen“, ein. „Mit dem Argument, die Autoren seien von Judenfeindschaft motiviert, lässt sich die Sache nicht mehr unter den Teppich kehren.“ „Nicht mehr“ heißt: Es wurde schon zu viel unter den Teppich gekehrt, aber damit ist jetzt Schluss. Gleich der nächste Satz beginnt mit: „Zu oft haben jüdische Organisationen den Antisemitismus-Vorwurf … gegen Kritiker … vorgetragen.“ „Zu oft“ heißt ebenfalls: Jetzt ist es genug, wir lassen uns das nicht mehr gefallen. Nächster Satz: „Sogar der Ex- US-Präsident und Friedensnobelpreisträger Jimmy Carter musste sich des Antisemitismus zeihen lassen …“ „Sogar“ heißt: Wenn die Juden jetzt noch die angreifen, die wir aus bestimmten Gründen (Friedensnobelpreis!) für sakrosankt erklären, dann ist das quasi eine Verdoppelung des „zu oft“ von vorhin, also: eine Frechheit, eine Anmaßung, etwas, das nach einer harten Antwort verlangt. Diese drei Sätze (nicht mehr – zu oft – sogar) stehen direkt hintereinander, bilden also, nach den Gesetzen der Rhetorik, eine Steigerungs- und Überzeugungskette, ein Hämmern des Arguments.

Nachdem dem Leser auf diese Weise klargemacht worden ist, warum er Sympathien für diese beiden Buchautoren haben sollte, die todesmutig gegen den jüdischen Maulkorberlass aufbegehren, werden einige Absätze lang die Thesen des Buchs referiert, die sich, wie gesagt, im Kern um den Einfluss der Israel-Lobby in Washington und die Fehler der US-Nahostpolitik drehen.

Und dann kommt die Stelle des Artikels, wo seine Tendenz noch einmal geradezu rührend, wie auf dem Silbertablett, präsentiert wird. Nach den einleitenden Worten „Faktum ist:“ referiert Misik im Indikativ Umstände, die in der Logik des Artikels gegen Israel sprechen oder zumindest belegen, was für ein eminent bevorzugtes Land es ist: Wie viel Geld es von den USA bekommt, dass es, anders als andere Länder, dafür keine Rechenschaft ablegen muss, dass es die USA waren, die das „israelische Militär endgültig zur mächtigsten Armee des Nahen Ostens aufrüsteten“. Es ist unschwer zu erkennen, dass Misik diese Argumente zum Teil direkt aus dem besprochenen Buch bezieht, wenn er endet: „Israelische Politiker geben gelegentlich mit ihrem Einfluss in Washington an.“

Auf den Fuß und in gleicher Länge folgen die Gegenargumente. Sie aber sind alle im Konjunktiv! „Der Einfluss der Lobby werde hoffnungslos übertrieben … sie habe sechs Millionen Dollar an Politiker überwiesen, die Öllobby dagegen habe 25 Millionen … Und trotz der angeblichen Macht der Israel-Lobby habe das USPräsidenten nie daran gehindert, sich über deren Wünsche hinwegzusetzen …“ Und so weiter, einen ganzen Absatz lang. Das heißt: Das sagen die Juden zwar, aber stimmen muss es nicht. Während die „Faktum ist“-Fakten natürlich stimmen.

Erst ganz am Ende des Artikels, in einer plötzlich viel unaufgeregteren, sachlichen Sprache, kommen sehr kurz die interessantesten Aspekte zur Sprache, etwa über die Kluft zwischen den Lobbyisten und der linksliberalen Mehrheit der amerikanischen Juden. Da hat, wie beim Fernsehen, eine erhebliche Anzahl von Lesern bestimmt schon abgeschaltet. Dabei gäbe es da noch den herrlichen Satz: „Antisemiten, die fest von der Weltmacht der Juden überzeugt sind, werden bei näherer Betrachtung der Sache jedenfalls kaum Indizien für ihre Vorurteile finden“ – das hätte, nur zum Beispiel, ja auch ganz am Anfang des Artikels stehen können. Aber dann hätte man all die interessierten Antisemiten unter den österreichischen Lesern zu früh abgeschreckt – oder ist das zu polemisch? Interessant ist er doch, der Gebrauch dieses Satzes erst im letzten Moment.

Wir hätten den Misik-Artikel gar nicht so genau analysieren müssen und er hätte genauso gut ein seriöserer, ein weniger unterschwelliger Text sein können. Als Beweis genügt allein die Anmutung von Titelblatt und Schlagzeile, ja die Tatsache, dass das eine Titelgeschichte werden konnte: Hier wird, lustvoll und mit roten Ohren, mit den vermeintlichen Tabus gespielt. Man erfindet böse Autoritäten (die Juden, die Linken, die politisch Korrekten), während man auf diffuse Weise offenbar gute Autoritäten ersehnt. Solange die nicht kommen, wird man destruktiv toben und gegen das aufbegehren, was man bisher, angeblich „von oben“, beigebracht bekommen hat. Ein bisschen erinnert die Attitüde an Jugendliche, die ihre erste Party allein feiern und endlich mal mit den Fingern essen, aus der Flasche trinken und rülpsen können.

Und so verhält sich leider nicht nur das „profil“, so verhält sich nicht nur die „Weltwoche“, es ist, fürchte ich, unsere Zeit, die ein Adoleszenzproblem hat. Krieg und Shoah sind schon lange her, inzwischen stürzt man sich, siehe das aktuelle Buch des „Bild“-Chefredakteurs Kai Diekmann, auf die Achtundsechziger als die Quelle all dessen, wogegen es sich aufzulehnen lohnt. Obwohl vieles radikal schiefgelaufen und in Terrorismus und blanken Antisemitismus abgedriftet ist, obwohl manche Achtundsechziger bis heute ideologisch in absurdem Maß verhärtet sind – die Lehre dieses wütenden Aufbegehrens gegen die Kriegs- und Tätergeneration war doch: Wir sind selber erwachsen, wir können selber denken. Aber genau diese Lehre scheint derzeit, auf eine merkwürdig verspielte, unernste Weise der Revision unterzogen.

Einige unheilbare Krankheiten wie Alzheimer können nur per Ausschlussverfahren diagnostiziert werden. Auch beim Antisemitismus – der ja bekanntlich nicht erst da beginnt, wo Juden körperlich angegriffen werden – hilft dieses Verfahren oft weiter. Wäre ein „aufsehenerregendes Buch“ über den Einfluss der saudischen Lobby in Washington dem „profil“ auch eine Titelgeschichte wert gewesen? Hätte es ein solches Buch überhaupt als Geschichte ins „profil“ geschafft? In dem Moment, wo „den Juden“ eine kollektive Besonderheit erst unterstellt und im selben Atemzug empört abgesprochen wird, befinden wir uns bereits im Vorzimmer des Antisemitismus. Oder, wunderschön und todtraurig mit dem Schriftsteller Robert Neumann gesagt: „Wir wollen keine Sonderbehandlung – nicht die Himmlersche noch die aus dem edelsten schlechten Gewissen geborene, die uns wie rohe Eier behandeln und in Gold fassen wollte. Das einzige Recht, das ich für uns in Anspruch zu nehmen willens war, war das Recht auf unsere Sünden: falsch zu parken wie jene anderen; nachher den müdegefahrenen Wagen samt seinen heimlichen Mängeln einem unglückseligen Käufer anzudrehen; nachts auf der Straße betrunken zu randalieren, oder sogar Raub und Totschlag zu begehen wie jene anderen – und trotzdem von jenen anderen bloß zu hören: der Meier hat es getan; nicht der Jude Meier hat es getan.“

Die mobile Version verlassen