Die Kultusgemeinde ist eine vordemokratische Fehlkonstruktion

Von Peter Menasse

Ein einziges Mal in meinem bisherigen Leben habe ich es bedauert, als Jude nicht Mitglied der Kultusgemeinde zu sein. Ich hatte, anlässlich eines Interviews, den damaligen Präsidenten Paul Grosz gefragt, wie viele Juden es denn in Wien gäbe. Er schaute mich ein wenig traurig an und sagte: „Etwa achttausend innerhalb der Gemeinde und noch einmal so viel, die es vorziehen, außerhalb zu bleiben“. Nu, der Tonfall war ganz schön vorwurfsvoll, und ich verspürte sogleich echt wienerisch-jüdische Schuldgefühle. Aber selbst dem sympathischen alten Herrn zuliebe war ich nicht bereit, der Kultusgemeinde beizutreten. Ich halte sie nämlich für eine komplette Fehlkonstruktion. Ein wichtiges Wesensmerkmal entwickelter Demokratien und ihrer Institutionen ist die Trennung von Kirche und Staat. Während auf Gottesglauben aufgebaute Organisationen immer ein grundsätzlich hierarchisches, auf unveränderlichen Regeln basierendes System darstellen, ist der demokratische Staat und seine Institutionen durch den Willen der Mehrheit veränderbar und gestaltbar. Damit soll nicht gegen die Kirchen und Religionsgemeinschaften argumentiert, sondern nur erläutert sein, was sie vom Staat unterscheidet.

Gäbe es zwei Institutionen für Juden, eine Religionsgemeinschaft einerseits und eine politische Interessensvertretung andererseits, würde ich vermutlich der letzteren beitreten, um mitreden und mitgestalten zu können. Als nicht Gottgläubiger finde ich keinen Platz in der Kultusgemeinde in ihrer heutigen Form.

Das schafft einigermaßen Probleme, denn das Vertretungsmonopol der Kultusgemeinde ist von zwei Seiten her determiniert. Ihre Würdenträger verstehen sich als alleinige Repräsentanz der Juden, und die staatlichen österreichischen Stellen weisen ihr diese Position gleichermaßen zu. Damit haben alle jene, die aus welchen Gründen auch immer, nicht Mitglied der Gemeinde sind, keinerlei formale Möglichkeit, ihre Meinungen als Juden durchzusetzen. Hier müsste jetzt folgerichtig eine Diskussion darüber entstehen, wer sich denn überhaupt als Jude bezeichnen darf. Sind es nur jene, die in der Kultusgemeinde organisiert sind? Dagegen sprechen die halachischen Gesetze, denen zufolge die jüdische Mutter identitätsstiftend ist. Was mir im Übrigen das Problem bereitete, dass meine Kinder – im Gegensatz zu mir – nicht ohne weiteres in die Gemeinde eintreten dürften, was ich als liebender Vater nicht wirklich akzeptieren kann. Und müssen wir nicht, so abscheulich das auch klingen mag, die „Nürnberger Rassengesetze“ beachten? Schließlich würden an die Macht gelangende Nazis uns auch diesmal nicht fragen, ob uns ihre rassistischen Regeln gefallen oder nicht.

Ich jedenfalls nehme für mich in Anspruch, Jude zu sein, positiv definiert, weil meine Familie sich als jüdische versteht, aber auch, weil die Emigrationsgeschichte meiner Eltern und das Schicksal meiner ermordeten Verwandten eine historische Verpflichtung geschaffen haben. Diese Verpflichtung verstehe ich als politische Aufgabe, die darin besteht, gegen jeden Rassismus, gegen Fremdenfeindlichkeit, aber auch gegen die ökonomische Deklassierung von Teilen der Gesellschaft aufzutreten. Ich stehe jetzt vor dem Dilemma, dass die Kultusgemeinde, ein von der Konstruktion her vordemokratisches System, beansprucht, mich in dieser, meiner jüdischen Identität zu vertreten. Eine Organisation, die, wie sich jetzt zeigt – und was nichts mit der Art ihrer Konstruktion zu tun hat, über viele Jahre hindurch hunderte Millionen Schilling an Schulden aufgebaut hat, womit sie in eine tiefe Abhängigkeit vom österreichischen Staat geraten ist, just in einem historischen Moment, wo dieser von einer rassistischen und fremdenfeindlichen Partei mitrepräsentiert wird.

Wenn der Präsident der IKG dann etwa in der Frage der Klageberechtigung durch amerikanische Anwälte lammfromm die überhebliche Position der Regierung einnimmt, empört mich das doppelt.

Einmal weil ich es für falsch halte, Menschen, denen Unrecht geschehen ist, vorzuschreiben, wie sie ihre Angelegenheiten regeln wollen, und zum zweiten, weil ich den Verdacht haben muss, dass hier Einer Staatsräson predigt und Finanzausgleich meint. „Meine“ jüdische Institution wäre eine politische Interessensvertretung, die ihr ganzes moralisches Gewicht in die Waagschale wirft, um Unrecht an Menschen zu bekämpfen, unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht, sexuellen Neigungen und Hautfarbe.

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