Die großen Klassiker waren alle Juden

Erich Lessing ist ein international bekannter und vielfach ausgezeichneter Fotograf. Als Fotoreporter hat er Weltruhm erlangt. Wenig bekannt ist über seine Kindheit in Wien, seine Flucht nach Palästina und seinen Werdegang zurück in Wien. Heute mit 81 ist er so aktiv wie eh und je. Ein Gespräch über sein weltberühmt gewordenes Staatsvertrags-Foto, über das Phänomen der Juden in der Fotografie und warum das Leben in Haifa für ihn ein „verkehrter Kulturschock“ war.
Von Danielle Spera (Text) und Peter Rigaud (Fotos)

NU: Ihre Fotos sind weltberühmt, sie gelten seit vielen Jahrzehnten international als einer der wichtigsten Fotografen, über ihr Leben ist aber nicht viel bekannt, außer dass sie 1923 in Wien in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren wurden.

Lessing: Na, ja gutbürgerlich, das heißt linksbürgerlich – wie das in guten jüdischen Familien so üblich war. Ich war ein richtiges Gemeindebaukind, aufgewachsen bin ich im Ludo- Hartmann-Hof in der Albertgasse, mit den schönen Säulen. Damals wurde ja noch schön gebaut. Mein Vater ist in Stanislav geboren, meine Mutter in Wien.

War die Familie religiös?
Wir waren überhaupt nicht religiös. Meine Mutter war sogar sehr unglücklich, als ich 1936 beschlossen habe, zur Hakoah schwimmen zu gehen. Vorher bin ich beim WAC geschwommen. Ich hatte aber dennoch eine Bar Mitzwa und auch ab dem Eintritt ins Gymnasium Religionsunterricht. Die Bar Mitzwa, das war im Neudegger Tempel beim Rabbiner Bauer. Wir sind dann immer wieder hingegangen, aber für uns waren das keine religiösen, sondern zionistische Treffen…

Das heißt, Sie haben sich an die Feiertage auch nicht gehalten?
Nein. Außer Pessach. Das haben wir bei meinem Onkel, beim Bruder meiner Mutter gefeiert, mein Großvater war noch streng, er hat Pessach wirklich eingehalten. Da haben wir am Sederabend immer folgende Konversation erlebt: Mein Großvater betete, die Großmutter war draußen in der Küche. Da hat sie immer wieder den Kopf bei der Tür hereingesteckt und gesagt: „Schwarz, bet schneller, die Kneidel werden hart.“ Ich glaub, dieses Problem mit den Mazzekneidl gibt es in vielen Familien… Bei uns war jedes Jahr die ganze Familie in der Döblinger Hauptstrasse versammelt. Und natürlich zu Chanukkah. Der Großvater und ich haben in der Küche die Chanukkah-Kerzen angezündet, während der Weihnachtsbaum im Speisezimmer stand. Das hat eigentlich niemanden gestört.

Haben Sie damals Antisemitismus erlebt?
In der Schule ein bisschen. Raufereien haben wir uns schon geliefert, vor der Schule, aber es war nicht schlimm, vielleicht haben wir doch alle – das gesamte jüdische Bürgertum – in einem Ghetto gelebt. Ich kann so wenig darüber sagen, obwohl heute so viel darüber geredet wird. Vor 1938 waren wir eine sehr gemischte Klasse, also Juden und Nichtjuden. Im März 1938 wurde unsere Klasse sofort in eine jüdische Klasse umgewandelt. Unser Schuldirektor ist mit dem ersten Transport nach Dachau gebracht worden. Unsere Klassenlehrerin kam aus einer alten sozialdemokratischen Familie, sie wurde entlassen, hat dann aber einen hohen Nazi-Sturmbandführer geheiratet und nach dem Krieg Selbstmord begangen. Der Direktor kam nach dem Krieg aus dem KZ zurück und wurde Leiter der Stadtbibliothek. Unser Klassenvorstand – er hat nebenbei auch als Musikkritiker bei der christlich- sozialen Zeitung „Reichspost“ gearbeitet – saß jahrelang neben meiner Mutter in den philharmonischen Konzerten, bald hatte er das Parteiabzeichen der NSDAP auf dem Revers. Das war auch ein weiter Sprung von der „Reichspost“ zu den Nazis. 1938 ist alles herausgekommen, was vorher unterschwellig da war. Unser Latein-Professor war Jude, er durfte von einem Tag auf den anderen die Schule nicht mehr betreten. Plötzlich waren alle Nazis. Der Mathematik-Professor hat sich freiwillig für die jüdische Klasse gemeldet und ausschließlich geschrieen. Er hat gesagt, „ich hoffe, sie werden den heutigen Unterricht unbeschadet überstehen“ – wenn jemand tratscht dann ist er gleich auf dem Weg nach Dachau gewesen. All das haben wir bis zum März 1938 nicht so bemerkt. Was wir nicht gesehen, gehört oder gespürt haben, war aber offenbar auch vorher schon da.

Und die Eltern?
Mein Vater ist 1933 mit 42 Jahren an Krebs gestorben. Meine Mutter hat sich dann mit Klavierstunden durchgeschlagen und uns damit über Wasser gehalten. Wir sind dann natürlich im März 1938 aus der Gemeindewohnung hinausgeschmissen worden. Es ist uns gelungen, ganz in der Nähe in einer kleinen Wohnung unterzukommen. Am Ende des Schuljahres 1938 sind wir jüdischen Kinder aus der Schule geflogen. Wir als 15-jährige haben dann in der Jordangasse den 9-, oder 10- jährigen anderen jüdischen Kindern Unterricht gegeben. Ich hab jüdische Geschichte unterrichtet, gelernt hab ich alles darüber allerdings erst später, aber für meine kleinen Schüler hat es gereicht.

Wie haben Sie dieses Jahr erlebt?
Manchmal gab es positive, manchmal negative Erlebnisse. Einige Male sind wir von der Hitlerjugend verprügelt worden, besonders wenn wir gut angezogen waren, das war immer ein Fehler, meiner Mutter hab ich das verheimlicht. Einmal wollte eine Gruppe von HJ-lern mit mir raufen, es war um die Ecke vom Deutschmeisterplatz, da ist ein Mann vorbeigekommen und hat gerufen: „Der Judenbub hat die Hitler-Jugend angestänkert“ und ist mit uns in das Wachzimmer gegangen. Da hat sich eine typische Wiener Geschichte abgespielt. Der Beamte hat gefragt: „Was is?“ „Der Judenbua hat die HJ angestänkert.“ „Ach so“, sagt der Polizist, „die HJ-Buben haben den jungen Mann angestänkert. Na umgekehrt…“. Das ganze ging einige Minuten hin und her und letztendlich hat der Polizist sie aus dem Wachzimmer rausgeschmissen. Der Polizist hat, als wir allein waren, gesagt: „Bist deppat, um die Zeit allein auf der Strasse, geh schnell heim und pass in Zukunft auf!“ Das war der März 1938. Ich habe beides erlebt, auch dass mich Leute, wie dieser Polizist beschützt haben. Gleichzeitig habe ich von meinem Klassenlehrer ohne Anlass eine Ohrfeige bekommen. Das Goldene Wienerherz hat geschlagen – auf beiden Seiten.

Und dann – Palästina. Hätte es keine Möglichkeit gegeben, mit Ihrer Mutter zu flüchten?
Meine Mutter wäre mit mir nach Palästina gegangen, wenn nicht meine Großmutter gewesen wäre. Sie war mit ihren 70 Jahren nicht mehr im Stande, die Reise nach Palästina anzutreten. Sie musste dann eine andere Reise antreten… Für meine Mutter und meine Großmutter waren Theresienstadt und Auschwitz die letzte Station. Ich war in einer Jugendaliyah-Gruppe, einer Organisation, die sich für die Einwanderung nach Israel eingesetzt hat. Ein Bruder meines Vaters war bereits in Tel Aviv und hat für mich um ein Zertifikat am Technion in Haifa angesucht, das war damals die renommierteste und älteste Universität, das kam aber erst so spät, dass ich mit gefälschten Papieren ausgereist bin, Teddy Kollek hat dabei mitgeholfen und sich da als guter Fälscher erwiesen. Ich hatte da auch wirklich Glück, denn wenige Wochen vorher musste ich mich in der Kultusgemeinde melden und wurde für ein „Jugendlager“ in Polen registriert. Ich sollte mit einigen anderen jüdischen Burschen mit Gepäck auf den Bahnhof kommen. Irgendwie ist mir das eigenartig vorgekommen, ich hatte nur einen kleinen Koffer mit. Als der Zug abfuhr, war es mir nicht mehr geheuer und es ist mir gelungen, in Hütteldorf noch aus dem Zug zu kommen – glücklicherweise. Ich glaube, ich war einer der letzten, der die Ausreise nach Palästina geschafft hat, es war der 15. Dezember 1939. Angekommen in Haifa bin ich am 31. Dezember mit der Galiläa – ganz allein, denn alle anderen waren schon weg. Es war natürlich ein Abenteuer, aber wir wussten, das ist die einzige Rettung und eine gute Sache.

Das heißt Ihnen war das bewusst?
Ja, im Gegensatz zu meiner Mutter. Sie war, wie viele Wiener Juden, optimistisch, sie waren optimistischer als die deutschen. Sie haben gedacht, es wird schon irgendwie gehen. Uns Jungen war es schon viel klarer, dass das alles für uns nicht gut ausgehen kann. Vor allem hat uns das gar nicht mehr interessiert, unser Ziel, unsere Gedanken waren woanders. Auch weil uns klar war, dass wir keine Zukunft hier hätten. Keine Schulausbildung, kein Studium für Juden, keine Rede von einem Beruf, das heißt unser Enthusiasmus hat sich woanders hin verlagert.

Mit 15 sind Sie nach Palästina gegangen, abgeschnitten von der Familie, das muss ja auch eine schwierige Erfahrung gewesen sein?
Es war nicht leicht, aber gut zu bewältigen, da für mich ein neues, sehr interessantes Leben begonnen hat. Ich konnte am Technion lernen, das war ein Quell des intellektuellen Ansporns, den ich in Wien nicht gehabt hätte. Oft habe ich an ein Erlebnis in Wien gedacht, das ich mit meinem Vormund, dem Anwalt Dr. Marell, hatte. Bevor er in die Emigration gegangen ist, hat er zu meiner Mutter gesagt: Ich bin gar nicht sicher, ob unsere Kinder Hitler nicht dankbar sein können, weil er sie herausgerissen hat aus einer Umgebung, wo man schon genau gewusst hat, was aus ihnen werden wird. Da war schon ein Körnchen Wahrheit drinnen – zumindest für mich.

Wie haben Sie Palästina erlebt?
Haifa war sozusagen ein „Nest“ der berühmtesten Denker und Wissenschaftler. Fürnberg, Lasker-Schüler, Arnold Zweig. Wir waren immer gefordert, es war immer etwas los. Ich habe ungeheuer viel gelesen und eine große Bibliothek angesammelt, eingekauft habe ich in einem Buchgeschäft, das von einem deutschen Emigrantenpaar geführt worden war. Die beiden waren eindrucksvolle Persönlichkeiten, sie immer in Kleidern von Grethe Wiesenthal gekleidet, er leger-expressionistisch, sie waren – obwohl ein Ehepaar – per Sie miteinander, sie waren sehr gebildet und ich habe mein letztes Geld dort ausgegeben. . Es war eine sehr aufregende und bildende Zeit.

Haben sie damals schon hebräisch gekonnt?
Hebräisch habe ich praktisch nicht gesprochen, bis heute kann ich es nur mangelhaft. Es war damals auch nicht notwendig. Es gab ja den berühmten Spruch: Egal was passiert, Naharyia bleibt deutsch. Wir sind jeden Tag im Cafe Nordau gesessen und außer unserem Lehrer, dem Prof. Garfunkel, hat niemand hebräisch gesprochen. Dieser Teil Haifas war rein deutsch!

Israel war ja damals erst im Aufbau, als Staat noch gar nicht existent, war das Leben nicht komplett anders als in Wien?
Ich habe einen „verkehrten“ Kulturschock erlebt. Die Wiener Umgebung wäre – in friedlichen Zeiten – sicher kultivierter gewesen, der intellektuelle Anspruch in Israel war aber unendlich viel größer und intensiver.

Wovon haben Sie in Israel gelebt?
Über Wasser gehalten habe ich mich als Taxifahrer, das war auch eine gute Zeit, denn während ich auf Fahrgäste gewartet habe, konnte ich lesen, ich habe Bücher verschlungen. Unsere Taxifirma – Taxi Carmel – bestand aus einem Wiener, dem eleganten Herrn Feyer mit seinem kleinen grünen Taxi, dem Dr. Jelinek aus Olmütz, einem polnischen Rechtsanwalt, der Telefonist war aus Brünn – und alle haben wir uns auf deutsch unterhalten. Diese enge Kulturbeziehung die gibt es heute in Israel nicht mehr. Ein Mal in der Woche bin ich ins Konzert gefahren, da hatte ich immer Fahrgäste, die Familie Misroch, die hatte auch ein Abonnement, also bei meinen Fahrten habe ich immer gleich das angenehme mit dem nützlichen verbunden. Es war eine ungeheuer dichte Zeit.

Wie sind Sie zur Fotografie gekommen?
Ich hatte zur Bar Mitzwah eine Kamera bekommen und damit auch gleich ein paar Fotos gemacht. Ich hatte in der Schule zwei Freunde, mit denen ich die Liebe zur Fotografie und zum Film teilte. Wir haben auch versucht, Radios umzubauen, so haben wir die Radiogeräte unserer Großeltern auseinandergebaut, danach haben sie nie mehr funktioniert… Mein nichtjüdischer Freund hatte einen Stiefvater, der uns sehr viele technische Dinge beigebracht hat. 1938 ist er plötzlich in SA-Uniform gekommen. Er hat uns aber weiter unterrichtet, als ob nichts gewesen wäre. Eines Tages ist er zu meiner Mutter gekommen und hat ihr gesagt, dass er gerne unsere Wohnung übernehmen würde, falls wir ausziehen würden. Die Chuzpe muss man haben. Er hat es gar nicht unanständig, sondern nett gemeint. Mein jüdischer Freund Peter ist nach Belgien geflüchtet und dort dann bei einem deutschen Angriff umgekommen. Jedenfalls habe ich in Haifa begonnen, in Kindergärten und am Strand Fotos zu machen. In Natanya gab es einen schönen Strand. Gute jüdische Mütter mit kleinen herzigen Kindern. Fotografieren habe ich damals nicht als Lebensaufgabe gesehen – eigentlich auch heute nicht. Es gibt viel wichtiger Dinge, ich habe beim Vorläufer der israelischen Armee, der Hagana gearbeitet und ein bisschen Nachrichten gesammelt.

Warum haben Sie sich dann entschlossen, nach Wien zurückzukehren?
Eigentlich wollte ich nach Paris an die Filmakademie. Aber die Franzosen waren nicht sehr freigiebig mit Visa. Da habe ich gedacht, ich versuche es bis Wien und schaue, ob doch noch vielleicht jemand von meiner Familie übriggeblieben ist. Obwohl ich schon seit 1944 wusste, dass meine Mutter und Großmutter tot sind, es gab eigentlich nicht einmal mehr Spuren meiner Familie. Ich habe bei unserem Kohlenhändler noch Möbel von uns gefunden. Unsere ehemalige Hausmeisterin hat gleich gesagt: Ich weiß von gar nichts… Da bin ich mit meiner Kamera losgezogen und niemand wollte mich anstellen, niemand hatte Arbeit für mich. Am Anfang habe ich noch elegant residiert, in der Pension Nossek am Graben, doch bald ist mir das Geld ausgegangenen und ich bin in eine kleine Pension in der Schubertgasse übersiedelt. Eines Tages hat mir die Wirtin gesagt, dass die Polizei mich gesucht hätte. Es war in der amerikanischen Zone und ich habe erfahren, dass mich eine USNachrichtenagentur sucht, das war die Associated Press. Als ich hinging, war mir klar, warum sie mich gesucht haben. Im Büro saß eine junge Frau, die sich meine Adresse aufgeschrieben hatte, als ich auf Arbeitssuche war.

Das war Ihre zukünftige Frau, Traudl?
Ja, als gutbürgerlicher Mensch hat man ja kein Verhältnis, so haben wir geheiratet, sie hat gekündigt und ist zu Reuters gewechselt und damit begann unser Nomadenleben. Wir sind in der Welt herumgezogen.

Im Wien der Nachkriegsjahre, da hat ja nicht gerade eine Aufbruchsstimmung geherrscht, es war provinziell, es gab noch immer starken Antisemitismus, wie waren Ihre Eindrücke?
Durch den Journalismus sind wir in eine ganz andere Gesellschaft gekommen, viele sind aus dem KZ gekommen. Und wenn sie nicht aus dem KZ kamen hatten sie diesen Esprit: wir machen hier ein neues Land. Wir waren wie in einer Zwischenwelt. Wir haben den größten Teil der Zeit im englischen oder im amerikanischen Presseklub verbracht. Wir hatten eigentlich mit jenen Teilen der Bevölkerung, wo man den Antisemitismus gespürt hat, nichts zu tun. Wir haben zu denen gehört, die das Gefühl hatten, es lohnt sich, dieses Land neu aufzubauen.

Hatten Sie auch Kontakt zu anderen Juden?
Für uns war es ein kompletter Neuanfang. Mein Onkel kam gerade aus England zurück, wir hatten eine sehr enge Verbindung, aber es war für uns eine versunkene Zeit, ich habe auch keinen jüdischen Anschluss mehr gehabt, ich habe nicht mehr zu der zionistischen oder besser gesagt, pseudozionistischen Gruppe gefunden, wir waren aber sehr eng mit dem früheren israelischen Botschafter Zeev Sheck, seiner Frau und seinen Kindern befreundet.

Warum sind Sie damals nicht wieder nach Israel gegangen, dort ist doch auch Geschichte gemacht worden?
Ich fand den Osten Europas interessanter. Ich habe mich zwar für einen Einsatz in der israelischen Armee gemeldet, da hat es geheißen, ist eh schon vorbei, bleibt lieber da. So bin ich hier geblieben, schließlich muss ja auch jemand Magbit zahlen.

Ihre Karriere als Fotoreporter hat damals also in Wien begonnen?
Ich bin Ende 1946 zurückgekommen, 1947 mit meiner Frau zusammengezogen und ab 1950 hat das Reisen begonnen, es war allerdings nicht einfach durch die diversen Besatzungszonen. Damals waren die großen Zeiten der Fotografie, die es heute nicht mehr gibt. Man ist zur Redaktion gegangen ist und hat gesagt: „Have gun, will travel…“, „und der Chefredakteur hat gesagt: „Ok, wohin soll die Reise gehen?“ So habe ich gleich als erstes Spanien vorgeschlagen. Er hat gesagt: „Gehen sie zur Kasse, holen Sie sich 3000 Mark, und kommen sie uns gesund wieder zurück.“ Als wir nach drei Monaten zurückgekommen sind, haben die Kollegen gesagt: „Was ihr seid da? Wir haben nicht mehr gedacht, dass ihr noch lebt.“ So ging das weiter, wir hatten überhaupt kein Geld, haben uns von Reportage zu Reportage irgendwie durchgeschlagen. Einmal sind wir in Zürich gesessen und hatten gerade noch fünf Franken, wir konnten also Wurstsemmeln kaufen, oder ein paar Liter Benzin für unser Auto. So sind wir bis München gekommen, dort hat uns ein jüdischer Schwarzhändler Geld geborgt, damit wir bis Wien kommen, zu Traudls Eltern. Aber unser Motto war, morgen kann es nur besser sein! Meine Kinder sagen uns: Ihr habt nach dem Krieg Hirn und ein bisschen Ellbogen gebraucht, wir brauchen heute drei Doktorate.

Weshalb haben Sie sich so sehr dem Osten Europas zugewandt?
Wir waren nicht nur in Osteuropa, aber wir haben gespürt, dort bewegt sich etwas, dort geht ein bisschen der Eiserne Vorhang auf, es gab die Möglichkeit, überhaupt hinzufahren. Es war dort einfach eine sehr interessante und spannende Zeit, aber kaum jemand hat sich dafür interessiert. Ich habe beim „Life Magazine“ immer nur großes Gähnen ausgelöst, wenn ich gesagt habe, ich möchte gern in Prag oder Warschau Fotoreportagen machen. Da hat es geheißen: „Ja, ja, fahr mal hin und zeig uns dann die Sachen.“ Und wir haben das Glück gehabt, immer die richtigen Leute zu treffen. In Prag etwa wurden wir vom Außenamt zu einer Zeitschrift geschickt, zu einem gewissen Redakteur Jelinek, der hieß in Wirklichkeit Kohn und hat uns in der Tschechoslowakei viele Türen geöffnet. Meine Dolmetscherin war Frau Stichowa, sie hatte die Auschwitz- Nummer im Arm eintätowiert. Mit ihr bin ich dann durch die ganze Republik gefahren, wir konnten machen was wir wollten, denn sie hatte einen Presseausweis vom Außenamt. In Ungarn hat man uns ganz in Ruhe gelassen.

Das heißt Sie hatten viel Kontakt zu jüdischen Journalisten und Intellektuellen in Osteuropa?
Ja, in Polen, hat man damals gesagt, dass die Beamten dort nicht einmal eine Straßenbahn organisieren können, geschweige denn eine Überwachung! Da sind auch komische Sachen passiert. Wir haben über Amos Elon, der damals bei „Haaretz“ war, den Kulturkritiker Polens kennen gelernt, vor dem der gesamte Kulturbetrieb des Landes gezittert hat. Wenn wir mit ihm in ein Theater gegangen sind, ist der ganze Saal erstarrt. Wenn er geklatscht hat, war es in Ordnung, wenn er nicht reagiert hat, haben sie am nächsten Tag zugesperrt. Als wir ihn gefragt haben, wie er zum Kommunismus kam, hat er mir erklärt, ich war ja nicht allein, die ganz Poale Zion ist zur Partei übergetreten. Mit ihm sind wir durch Polen gefahren und haben überall Zutritt bekommen, es war alles sehr aufregend.

In Wien haben Sie das legendäre Staatsvertragsfoto geschossen, was haben Sie dabei empfunden?
Wir haben damals in Genf gelebt, meine Frau war Foto Officer bei der Weltgesundheitsorganisation. Wien war für mich damals immer nur Zwischenstation auf dem Weg nach Warschau, oder Budapest. Durch Zufall habe ich viel von der Stimmung und von den Vorverhandlungen mitbekommen. Unser Trauzeuge war damals Pressechef im Bundeskanzleramt. So habe ich von dem Termin im Belvedere überhaupt erfahren, daher war ich beim berühmten Warten auf Molotow dabei. Die Fotos sind mir dann ganz einfach gelungen, wie so oft war es Zufall, dass ich an der richtigen Stelle zum richtigen Zeitpunkt war.

Ein Jahr später gab es Ihren berühmten Einsatz in Budapest, Ihre Fotos von damals sind auch legendär.
Ja, da war ich mit Gerd Bacher. Hingefahren sind wir im Wagen von Fritz Molden, den wir uns ausgeborgt hatten. Gerd Bacher hat übrigens ganz andere Erinnerungen an unsere Reise als ich. Und das obwohl wir die Tage gemeinsam verbracht haben, bei ihm klingt alles dramatischer als bei mir…

Weshalb sind Sie in Österreich geblieben, es war doch damals reichlich provinziell, Sie hätten überall leben können?
Traudls Eltern haben noch gelebt und wir sind ständig gefragt worden, wann wir uns denn endlich Kinder und einen Wohnsitz zulegen. Vor allem waren Traudl und ich durch meine Reisen ja dauernd getrennt. So haben wir uns entschlossen, nach Wien zu ziehen. Zunächst haben wir bei meinen Schwiegereltern gewohnt. Es gab damals zwar keine Wohnungsnot, aber wir haben trotzdem nichts gefunden. Wir waren entschlossen, nach Paris oder New York zu gehen. An Wien hat uns, außer Traudls Eltern, nichts gebunden. Bei einer Reportage hat uns der Filmer Heinz Scheiderbauer erzählt, dass er einen Grund in Neuwaldegg hat, den er verkaufen will, weil er dringend eine Filmkamera braucht. So sind wir ins Geschäft gekommen. Es war wie immer, weit über unsere Verhältnisse, aber wir haben beschlossen, den Grund kaufen wir. Er war mit hohem Gras bewachsen, aber ich wusste noch aus dem Kibbuz, wie man das schneidet. Allerdings hatten wir weiter kein Dach über dem Kopf. Wir haben uns also viel in Kaffeehäusern aufgehalten, im „Grillparzer“, im „Savoy“, das wir Cafe „Ka Goi“ genannt haben, weil dort lauter Juden gesessen sind, oder im Cafe „Graf Bobby“, wo alle verkrachten Journalisten und Fotografen verkehrten, die keine Arbeit hatten. Präsidiert hat Dorka Schlank, auch eine Auschwitz-Überlebende. Sie hat uns den Herrn Doktor Simon empfohlen, der saß im „Jonas-Reindl“ und war dort für Rat und Tat bei allen derartigen Fragen zuständig. Simon hat uns erzählt, dass es einen günstigen Kredit für Flachbauten gibt, weil damals niemand ohne Dach gebaut hat. Den haben wir genommen, die letzten Zinsen haben wir vor drei Jahren bezahlt! Wir haben das Haus gebaut und drei Kinder bekommen.

Hat ihnen ihr Judentum etwas bedeutet?
Eigentlich nicht, das Judentum hat insofern eine Rolle gespielt, als wir viel mit Juden unterwegs waren. Meine Tochter Hannah ist unsere „jüdische“ Tochter. Meine älteste Tochter Dani hat einen Adoptivsohn, den sie einmal im Jahr in den Tempel führt. Mein Sohn Adam ist an Religion nicht interessiert, fragt aber jedes Jahr zu Pessach, ob wir einen Sederabend machen. Da reden wir zwar über etwas anderes, aber es ist sehr lustig. Zu Jom Kippur gehen wir in den Tempel.

Wie wichtig ist Ihnen Israel?
Israel ist mir selbstverständlich sehr wichtig, ich fahre oft hin. Meine Lieblingsgegend ist der Golan, eigentlich würde ich dort sehr gerne leben. Israel kenne ich sehr gut, immerhin habe ich drei Bibelbücher gemacht.

Die berühmte Fotoagentur „Magnum“ ist von Juden gegründet worden, es gibt überhaupt sehr viele prominente jüdische Fotografen, viele von ihnen sind weltberühmt, das ist doch auch ein Phänomen?
Das ist eine komische Geschichte. Juden sollten ja eigentlich zur visuellen Kunst gar keine oder zumindest eine gestörte Beziehung haben, da es ja verboten ist, sich ein Bild zu machen. Woher kommt dann plötzlich im Moment der Assimilation vor 150 Jahren dieses ungeheure Aufblühen, in der Malerei, von Chagall angefangen oder auch in der Fotografie? Das habe ich mich auch oft gefragt. Ist es nur die Neugier der Reportagefotografie? Die wirkliche Reportagefotografie beginnt mit Erich Salomon und Wegee, der ja bürgerlich Arthur Fellig aus Lemberg war. Die großen Klassiker um 1920 herum waren alle Juden. Bei „Magnum“ war das auch so. Auch die Werbefotografie, oder die Porträtfotografie ist es bis heute so – denken sie an Annie Leibowitz. Und in der Porträtfotografie ist auch der psychologische Aspekt wichtig. Es ist erstaunlich, denn eigentlich sollte es nicht so sein, dass Juden sich für Fotografie interessieren.

Juden werden dann von Nichtjuden porträtiert, etwa von Herlinde Koelbl?
Ja das ist eigenartig. Frau Koelbl sind da großartige Porträts gelungen, aber dann steht bei den verstorbenen Juden als Symbol ein Kreuz, das ist ja wirklich amüsant.

Sie haben sich auf andere Persönlichkeiten konzentriert. Adenauer, Karajan?
Sie werden es nicht glauben, aber ich bin – was die Porträts anlangt – sehr scheu. Meine Porträts kommen nur aus der Aktion, ich mache sie bei Pressekonferenzen oder „im Leben“, aber ich habe nie wirklich Porträts gemacht und wenn sind sie nicht gut gewesen! Da habe ich eine Barriere. Auch von meinen Kindern habe ich keine Fotos gemacht, die können das besser.

Aber gerade da gibt es tolle Aufnahmen, zum Beispiel von Golda Meir mit Bruno Kreisky.
Ja, das habe ich in Wien fotografiert, dabei habe ich die Wutanfälle der beiden miterlebt. Das war aber eher eine Ausnahme, meine Porträts sind alle bei offiziellen oder öffentlichen Anlässen entstanden. Ich bin berühmt dafür gewesen, dass ich immer gerade Film eingelegt oder gewechselt habe, wenn etwas passiert ist.

Zurückgekommen sind aber Sie mit den tollen Bildern?
Nein, leider nicht immer. Ich war im Mai 1968 in Paris und habe ein einziges Bild gemacht. Den Rest der Zeit habe ich den Diskussionen an der Sorbonne zugehört, das war mir wichtiger.

Von all den Politikern und Künstlern, die Sie getroffen haben, gab es da jemanden der Sie besonders beeindruckt hat?
Mich haben alle beeindruckt, die einen durch Auffälligkeit oder Ausstrahlung, die anderen durch ihre Unauffälligkeit. Jeder war anders.

Sie sind 81, sprühen vor Energie, ein Termin mit ihnen kommt schwer zustande, weil Sie so ausgebucht sind und in der Welt herumfahren?
Ja, sie haben recht, Als nächstes denke ich über ein Buch über die Propheten und Apostel nach, das interessiert mich. Ich möchte am Golan fotografieren, dort wo man die Geschichte spürt, wenn der Wind in der Wüste weht. Die Landschaft, wenn man von Jerusalem an das Tote Meer fährt, ist ungeheuer eindrucksvoll.

Das heißt sie haben einiges vor?
Ich habe noch zu viel vor, es passiert ja immer etwas Neues!

Zur Person
Erich Lessing
Erich Lessing wurde 1923 als Sohn einer Konzertpianistin und eines Zahnarztes in Wien geboren, 1939 flüchtete er nach Palästina. Seine Mutter und Großmutter wurden in Konzentrationslagern ermordet. In Haifa lernte er Radiotechnik, arbeitete in einem Kibbuz und als Taxifahrer. Schließlich machte er sein Hobby aus der Jugendzeit zu seinem Beruf und begann als Fotograf zu arbeiten. 1947 kehrte er nach Österreich zurück und wurde Fotoreporter bei Associated. Ab 1951 war er Mitglied bei Magnum – der ersten unabhängigen Fotoagentur. Seine Haupttätigkeit lag in Osteuropa. Berühmt wurde sein Foto von der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrages. Weitere bekannte Bilder entstanden in Budapest während des ungarischen Volksaufstandes 1956. Im Lauf der Jahre hat er unzählige Politiker und Persönlichkeiten fotografiert und mehr als 40 Kunstbücher publiziert. Bis auf 30 Kunstwerke hat Lessing alle Bilder, die im Louvre hängen, abfotografiert. An der Reproduktion arbeitet er derzeit. Erich Lessing lebt mit seiner Frau Traudl in Wien, hat drei Kinder und vier Enkelkinder, seine Tochter Hannah ist Generalsekretärin des österreichischen Nationalfonds.

Die mobile Version verlassen