Die Geschichte der Juden Belgiens

Das Jüdische Museum in Brüssel liegt in einem exotischen Viertel der europäischen Hauptstadt und stellt das Leben einer typischen jüdischen Gemeinde dar.
Von Franz Pichler

Was kann einen Goj veranlassen, über ein jüdisches Museum zu schreiben? In den letzten 15 Jahren, die ich in Brüssel verbracht habe, hätte ich diese Frage mit den Worten „Sympathie, aber auch Neugierde“ beantwortet. In Brüssel, da war ich einer von hunderttausenden „Zinneke“, wörtlich ein „Bastard“, der mit einer anderen Sprache und Kultur oder sogar mit mehreren davon aufgewachsen ist. Voll Stolz feiern diese „Zinneke“ einmal im Jahr in bunten Kostümen ihr Anderssein.

In Wien hingegen ist „Anderssein“ negativ besetzt. Da bin ich zwar ein „Einheimischer“, ein im achten Bezirk Aufgewachsener, aber ich spüre das nagende Misstrauen meines Gegenübers. Die vier Gedenksteine vor meinem alten Wohnhaus erinnern mich daran, dass auch mein Haus einmal „anders“ war, dass die heutige Normalität bloß über die kleinen Denunziationen und die großen Verbrechen der Vergangenheit hinwegtäuschen soll.

Da ist es mir eine Freude, gegen die wienerischen Scheuklappen, die das Anderssein so erfolgreich ausblenden, anzuschreiben, das Lokale von seinen Mauern zu befreien, um zum Universellen vorzustoßen. Zu diesem Universellen gehört das Judentum mit den vielen Wegen der jüdischen Migration und der Sesshaftwerdung jüdischer Einwanderer: Im Fall meiner Darstellung geht es um die jüdische Einwanderung nach Belgien.

Museum mit zwei Gebäuden
Das „Musée Juif de Belgique“ liegt in der Rue des Minimes, unterhalb des riesigen Justizpalastes. Das ganze Viertel heißt „Marolles“ und gehört zu den exotischsten Vierteln der europäischen Hauptstadt. Im Krieg fanden hier zahlreiche jüdische Flüchtlinge, darunter auch Österreicher, Unterschlupf. Die Flüchtlinge erfüllten die engen Gassen mit pulsierendem Leben. Eine kleine Stiege führt zur großen Synagoge von Brüssel. Das Jüdische Museum besteht aus zwei Gebäuden. Das der Rue des Minimes zugewendete Gebäude konzentriert sich auf die religiösen Traditionen in der Nachkriegszeit.

Das „Schul“ genannte Haus, ein modellgetreu nachgebautes kleines Bethaus, das auch dem Studium der Thora diente, befand sich in „Molenbeek“, einem von vielen Ausländern bewohnten Viertel von Brüssel. Am Beispiel dieses Stadtteiles werden die Einwanderung und das Leben einer typischen jüdischen Gemeinde gezeigt. Überquert man heute den Kanal, der Brüssel durchzieht, dann findet man in den abgewohnten und früher von Juden bewohnten Häusern Marokkaner oder Polen. Der vor kurzem zurückgetretene Bürgermeister der Gemeinde und ehemalige Innenminister war übrigens der Geschichtsprofessor meiner Frau. Seine Nähe zur arabisch- und afrikastämmigen Population, deren Vertreter als Gemeindepolitiker weithin sichtbar sind, war einigen seiner Parteifreunde ein Dorn im Auge.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Molenbeeks noch zur Hälfte von Landwirtschaft geprägt. Mit dem Einzug von Dampfmaschinen nahm dann die Textilindustrie einen rasanten Aufschwung. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges zählte die Gemeinde, auch „Little Manchester“ genannt, insgesamt 70.000 Einwohner. Juden siedelten sich zuerst in und rund um einen aufgelassenen Bauernhof an, dann verstreuten sich die jüdischen Bewohner in der ganzen Gemeinde. Die Juden arbeiteten in 80 verschiedenen Berufen, im Handel, als Kellner, Schuster, Fleischer, Drucker oder Schneider. Es gab auch einige jüdische Dentisten und Buchhalter. Die Frauen arbeiteten vorwiegend im Haushalt, als Dienstmägde, Putzfrauen, einige als Gouvernanten. In dem von den Nazis geführten Judenregister der Gemeinde Molenbeek (1940–1945) finden sich die Namen von 541 Juden aus 17 verschiedenen Herkunftsländern. Sie kamen mehrheitlich aus Polen und Zentraleuropa, neun Personen stammten aus Österreich. Auf der Liste finden sich auch Juden sephardischer Herkunft, die Jahrhunderte in der Türkei ansässig waren und dann über Rumänien nach Belgien auswanderten. Sie siedelten sich unter anderem in der Rue Houzeau de Lehaie an, in der später das in der Ausstellung gezeigte Bethaus errichtet wurde.

Familiengeschichte Nouchim Kilimniks
Die Ausstellung präsentiert Familiengeschichten, die das religiöse und weltliche Leben der Juden in der Straße Houzeau vergegenwärtigen. Zum Beispiel die Familie von Nouchim Kilimnik. Nouchim stammt aus Russland, wo die Familie zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere Pogrome erlebt. Als der junge Nouchim 1910 vom russischen Militärdienst in seine Heimatstadt Hoschevata (heute Ukraine) zurückkehrt, findet er nur mehr sein zerstörtes Elternhaus vor. Er ergreift die Flucht, da das damalige Russland jungen Juden keine soziale Basis mehr bietet. 1912 erreicht Nouchim Paris, wo er 1917 eine französische Katholikin heiratet – undenkbar in Russland. Als die Arbeitsmöglichkeiten in der französischen Kautschukproduktion schwinden, hofft Nouchim ins „Land des Regens“, nach Belgien, zu übersiedeln. Er will dort einen Handel mit Regenmänteln aufziehen. Er erwartet sich mit Recht florierende Geschäfte, denn in der heutigen europäischen Hauptstadt gibt es Regen fast täglich, in vielfältigen Formen: als Tröpfeln und Nieseln, oder aber auch als plötzlichen Regenguss. Nouchim siedelt sich also mit seiner jungen Frau in der Rue Houzeau an, in der Nähe des zukünftigen Bethauses. Anfangs geht Nouchims Geschäft gut, doch am Ende des „großen Krieges“ (1914–18) bricht es zusammen. Trotzdem lässt Nouchim seine ganze Familie aus Russland nachkommen.

Im Jahre 1940 zerstört die Invasion der Wehrmacht die Idylle einer geeinten Familie. Am Tag nach der sogenannten Reichskristallnacht (9.– 10. November 1938) gelingt dem zehnjährigen Leibish, einem in Berlin lebenden Verwandten, gemeinsam mit seiner älteren Schwester die Flucht nach Brüssel. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Mai 1940 flieht die ganze Familie Kilimnik nach Bordeaux, von wo sie nach einigen Monaten, wie so viele Belgier, wieder nach Brüssel zurückkehrt. Einem Teil der Familie gelingt es, trotz der Nazi-Besatzung in Brüssel zu überleben. Fünf Familienmitglieder werden jedoch im Zuge einer groß angelegten Razzia deportiert und in Auschwitz ermordet. Zum Gedenken an die 1946 verstorbene Mutter Nouchims, die sich zu Tode grämt, wird deren kleines Wohnhaus in derselben Straße zu einem Bethaus umgebaut. Dieses Gebetshaus oder „Schul“ stellt das Zentrum der permanenten Ausstellung dar. In den heutigen Führungen werden neben Erklärungen zur Geschichte des Bethauses auch die religiösen Kultgegenstände erläutert, die das Leben dieser kleinen Gemeinde verdeutlichen. Ein Foto in Großformat zeigt eine Bar Mizwa.

Im zweiten Teil der Ausstellung – im hinteren Teil des Hofes gelegen – werden jüdische Gräber, Begräbniszeremonien, sowie die Bruderschaft der letzten Dienste, „Chewra Kadischa“, gezeigt. Interessant waren für mich die Fotos von Gräbern, die auf dem Boden liegende Grabplatten oder Steine zeigen: Diese finden sich vor allem im Mittelmeerraum. Zum Unterschied dazu sind die jüdischen Gräber in Wien oder in Brüssel – etwa auf dem alten Friedhof von Uccle, am „Vieux Dieweg“ gelegen – mit Grabplatten und aufrecht stehenden Grabsteinen ausgestattet. Ein weiterer Raum ist der Erklärung der auf den Gräbern befindlichen Symbole gewidmet. Auf einem der jüdischen Grabsteine sind Symbole der Freimaurerei zu entdecken.

Schließlich sind zwei große Räume der Tätigkeit der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienst“ in Belgien gewidmet: Sehr berührend für den Besucher aus Deutschland oder wie für mich aus Österreich sind die großformatigen Fotos junger Menschen, die der Restaurierung verfallener jüdischer Gräber einen Teil ihrer Ferien opfern. Diese Aktivität ist dem Leiter des Jüdischen Museums von Belgien, Philippe Pierret, zu verdanken, der neben seinen akademischen und organisatorischen Funktionen die Aktion Sühnezeichen Friedensdienst nach Belgien geholt hat – eine Aktion, die mir persönlich auch in Österreich gut gefallen würde.

Musée Juif de Belgique
Rue des Minimes 21, 1000 Bruxelles
www.new.mjb-jmb.org

Öffnungszeiten:
10 bis 17 Uhr
Montags geschlossen

Eintrittspreise:
Dauerausstellung EUR 5,–
(ermäßigt EUR 3,–)
Aktuelle Sonderausstellung EUR 8,–
(ermäßigt EUR 5,–)

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