Die furchtbare Angst ist immer noch präsent

Die Erste Nationalratspräsidentin Barbara Prammer lädt jeden Monat im Jahr 2008 eine Gruppe von hundert Shoah-Opfern, die nach dem Krieg Österreich wieder ihr Vertrauen geschenkt haben, in den Festsaal des Parlaments ein, um ihnen Anerkennung auszusprechen. NU war bei der ersten Veranstaltung im Februar dabei.
Von Peter Menasse und Carina Ott (Fotos)

Die alten Leute sitzen an Tischen oder stehen in Gruppen herum, als Nationalratspräsidentin Barbara Prammer eintrifft. Sie sind beeindruckt vom eleganten Festsaal und freuen sich auf die Politikerin. Prammer hält eine kurze Rede. Sie spricht über Respekt für die alten Menschen, die als Opfer des Nationalsozialismus Familie, Freiheit und Kindheit verloren haben. Man sei ihnen in Österreich nach dem Krieg nicht mit weit ausgestreckten Armen entgegengekommen, sondern das Gegenteil wäre die Regel gewesen. Immerhin habe sich seit Mitte der 1990er Jahre die Einstellung geändert und da könne sie für den Großteil der österreichischen Innenpolitik reden. Dankbar sei sie, dass ihre heutigen Gäste Österreich nach 1945 wieder Vertrauen geschenkt hätten. Die meisten Gäste nicken bei ihren Worten, es herrscht eine freundliche Stimmung.

Als Prammer das Podium verlässt, um sich an den ersten Tisch zu setzen, steht ein Mann auf, geht einige, schwankende Schritte in die Richtung des Rednerpults, nimmt einen Zettel heraus und liest stockend und mit gepresster Stimme ein paar Sätze: „Die Zeit von 1938 bis 1945 war für die hier Anwesenden nicht die beste. Die furchtbare Angst kann nicht verdrängt werden. Und ist immer noch präsent…“ Sein Gesicht läuft rot an, die Stimme versagt. Im Raum spürt man jetzt Unsicherheit. „Was ist los mit dem Mann? Wird er zusammenbrechen, hält er die emotionale Belastung nicht aus?“ Oberrabbiner Chaim Eisenberg nimmt ihn beschützend am Arm und hilft ihm sich zu beruhigen. Später kommt die Diensthabende Ärztin des Parlaments dazu und bleibt dann gleich im Raum. Später wird sie erzählen, dass ihr Sohn im Zivildienst beim Gedenkdienst gearbeitet hat. Sie sitzt bei den alten Menschen und strahlt sie an.

Barbara Prammer lässt sich an jedem der Tische über das Leben der Menschen berichten. Kurt B. ist da, ein Journalist, der immer noch in die Redaktion geht und arbeitet. Er erzählt über das Schicksal seiner beiden Halbbrüder. Der eine, Sohn aus der ersten Ehe der „arischen“ Mutter war Bediensteter bei Hermann Göring und konnte durch Interventionen bei Adolf Eichmann verhindern, dass Kurt ins KZ kam. So konnte das Kind mit seiner Mutter in einer „Judenwohnung“ in der Leopoldstädter Zirkusgasse die Shoah überleben. Der andere Halbbruder, Sohn des jüdischen Vaters von Kurt, konnte nicht auf die Hilfe von Nazigrößen rechnen. Er kam in Auschwitz um.

Georg H. zeigt ihr eine vergilbte Fotografie, auf der man seinen Vater in der Zeit des 1. Weltkriegs sieht. Er trägt darauf die Uniform eines Zugsführers der Kaiserjäger. Noch immer kann der alte Mann nicht verstehen, wieso die Nazis seinen Vater ermordet haben, wo er doch ein verdienter, dem Land treu verbundener Soldat gewesen war. Verzweifelt sucht er nach der Bestätigung des Unrechts. Wie oft er dieses Foto wohl seit 1945 hergezeigt haben mag. Er selbst sagt von sich, man habe ihn vertrieben und entwurzelt. „Wir leben noch“, meint er resigniert, „aber wir haben das Vertrauen verloren“.

Ein anderer, Leopold H., findet die Einladung der Nationalratspräsidentin zwar für sehr ehrenwert, auch mit ihrer Rede sei er im Prinzip einverstanden, eines aber erbost ihn. Es mögen ja viele Opfer des NS-Regimes hier sein, sagt er energisch, er aber sei keines. Auf Nachfrage erzählt er dann, dass er im Jänner 1939 nach Palästina flüchten konnte und dort zuerst Polizist, dann britischer Soldat gewesen sei und sich als solcher am Kampf gegen die Nationalsozialisten beteiligt habe. Er wäre also ein Kämpfer und ein Sieger über das NS-Regime, keineswegs ein Opfer.

Die Familie von Henriette Mandl flüchtete nach England, als sie zehn Jahre alt war. Dort besuchte sie eine von den Quäkern vermittelte Schule. „Die Schule hieß ‚school of the holy child‘“, sagt sie lächelnd, „und dabei war ich als Kind alles anderes als heilig“. Ihr Vater war mit dem späteren Außenminister Leopold Figl und Justizminister Josef Gerö im KZ und gründete nach dem Krieg die Tageszeitung „Wiener Montag“. Als er wenige Jahre nach dem Krieg starb, hinterließ er ein Protokoll aus den Tagen rund um den 13. März 1938. Erst vor kurzem hat Mandl das Manuskript der Theodor Kramer Gesellschaft übergeben, die es 2007 als Buch herausbrachte (*).

Eine andere Frau erzählt der Nationalratspräsidentin über die Zeit nach der Rückkehr. Sie wäre vollkommen verunsichert gewesen, weil sie nicht wusste, wie sie mit den Leuten umgehen sollte. „Ich konnte meine Identität nicht leben, ich wusste nicht, was ich über mich erzählen durfte, um angenommen zu werden.“ Wenn sie in Wien-Mariahilf auf der Straße ging, habe sie sich die Vorbeigehenden angeschaut und dabei gedacht „hier gehörst du nicht dazu“. Sie schüttelt den Kopf und sagt: „Ich war eine Verschlossene.“

Eine andere Frau kam als kleines Kind zu einer Bauernfamilie nach Schweden. Dorfschule statt höherer Bildung, schwere Arbeit statt sorgloser Kindheit. Dann sagt sie unvermittelt: „Wir haben gut gegessen, aber bitte wir haben auch schwer gearbeitet.“ Das sind alte Rechtfertigungsmuster aus der Zeit nach dem Krieg, als es Menschen gab, die den geflüchteten Juden vorwarfen, sie hätten es sich leicht gemacht. Damals konnte man als Jude nicht argumentieren, man habe flüchten müssen, um nicht umgebracht zu werden. Davon wollte in Österreich niemand etwas hören. Die Eltern der kleinen Schwedin wurden nach Theresienstadt verschleppt und überlebten dort den Krieg. Über ihr Schicksal im KZ weiß sie nichts. „Nie wurde auch nur ein Wort darüber gesprochen“, sagt sie heute. Die Eltern starben bald nach Kriegsende. Die kleine Schwedin blieb entwurzelt zurück.

Die Präsidentin hat ihre Runde beendet, an allen Tischen mit den alten Leuten geredet. Ihre Mitarbeiter müssen sie drängen, weil nach zwei Stunden neue Termine warten. Man merkt, dass Prammer gerne länger geblieben wäre. „Welche Ignoranz da geherrscht hat“, meint sie am Ende, „dass von Seiten der österreichischen Politik so lange niemand Gerechtigkeit verlangt hat“. Wäre nur der Entschädigungsfonds dreißig Jahre früher gegründet worden, hätte man viel besser Ansprüche recherchieren und noch lebenden Opfern ein wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen können.

In den nächsten Monaten werden weitere Gruppen ihre Jause und ihre Anerkennung von Barbara Prammer bekommen. Die Nationalratsprä-sidentin hat eine Diplomarbeit in Soziologie über Kinder in den Konzentrationslagern geschrieben. Sie selbst war zu dieser Zeit bereits Mutter von zwei Kindern und hat das Unbegreifliche aus dieser Perspektive verarbeiten müssen. Den Gästen kommt ehrlicher Respekt und spürbare Zuneigung entgegen. Es war an der Zeit, dass die Republik, durch eine hohe Repräsentantin diesen Menschen auch einmal herzliche Gefühle entgegenbringt.

(*) Maximilian und Emilie Reich Zweier Zeugen Mund Verschollene Manuskripte aus 1938 Wien-Dachau-Buchenwald Herausgegeben von Henriette Mandl 2007 Theodor Kramer Gesellschaft

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