Die Fährnisse der Überlebenskunst

„Überleben heißt, Schuld zu empfinden, auch wenn man sich gar nicht schuldig gemacht hat.“ Einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts: Albert Drach, 1993. © Kelly Schoebitz/APA/picturedesk.com

Der jüdische Schriftsteller und Anwalt Albert Drach (1902–1995) gilt als einer der radikalsten Vertreter österreichischer Nachkriegsliteratur. Trotzdem blieb der gelernte Jurist ein literarischer Außenseiter. Eine Würdigung.

Von Ronald Pohl

Als dem Mödlinger Juristen Albert Drach mit der Zuerkennung des Heinrich-von-Kleist-Preises 1928 die größtmögliche Anerkennung als Dramatiker zuteilwurde, war von den späteren Hanswurstiaden noch keine Rede: Drachs Kasperlspiel vom Meister Siebentod, die vollständige Herausstellung Hitlers als notorischer Dummkopf. Mit der Kennzeichnung der Nazis als gemeingefährliche Halunken war für Drach nicht allein über den „Führer“ und dessen Spießgesellen der Stab gebrochen. Sein ganzes Leben lang – es dauerte immerhin 93 Jahre – erwehrte Drach sich aller Zudringlichkeiten durch die Dummen, die für ihn, zufolge einer Art Wesensverwandtschaft, immer auch die Gemeinen waren.

Mit dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich 1938 wurden aus den Gemeingefährlichen solche, die sich für Drach und die anderen jüdischen Bürgerinnen und Bürger als todbringend gebärdeten. Drach wollte nach dem sogenannten „Anschluss“ auf seine Mödlinger Anwaltskanzlei keinesfalls Verzicht leisten. Er glaubte sich allen Ernstes im guten Recht, als er gegen die kommissarische Verwaltung seines Hauses durch die Nazis Einspruch anmeldete. Die unverbrüchliche Geltung des Rechts: Sie wurde selbst dann noch von Drach und anderen Wohlgesinnten behauptet, als man jüdische Menschen bespuckte, erniedrigte, sie körperlich versehrte – und sie den sogenannten Boden der Tatsachen mit Bürsten zu schrubben befahl.

Drach verließ im Oktober 1938 das mit vereinten Kräften, darunter vor allem einheimischen, um sein Daseinsrecht gebrachte Österreich. Die anschließende Odyssee durch Frankreich fand ihren literarischen Niederschlag in der Unsentimentalen Reise: kein Protokoll, wie so viele andere Drach’schen Beweisführungen, sondern ein „Bericht“. Drach wird zu Peter/Pierre Kucku, der allerlei Überlebenskünste ausbildet, diese, an Leib und Leben bedroht, immens verfeinert. Drach wird zum Darsteller seiner selbst. Er erhält im französischen Exil den zum Erweis seiner personalen Identität unumgänglich notwendigen Heimatschein nachgeschickt: durch seine Mutter.

Selbstverleugnung

Drach und seinesgleichen schlägt die mögliche Stunde der Auslieferung. Er muss, um zu überleben, seine jüdische Identität leugnen. Zwar besitzt er die richtigen Dokumente. Wortlaut und Buchstabenbestand muss er jedoch für sich sprechen lassen: sie zu seinen Gunsten auslegen. Auf dem Heimatschein steht nämlich für „Israelitische Kultusgemeinde“ das Kürzel I.K.G. Albert Drach kann glaubhaft versichern, dass die Abkürzung meint, er, Drach, lebe „im katholischen Glauben“. Weiters verfügt er über Papiere seiner Halbschwester, die mütterlicherseits katholischer Herkunft ist. In Vichy-Frankreich gilt man dann nicht als Jude oder Jüdin, wenn man über nicht mehr als zwei jüdische Großeltern verfügt und bis zum 25. Juni 1940 konvertiert ist.

Immer noch führt die lebensrettende Operation der Selbstverleugnung Drach zurück auf den Boden des – freilich traktierten, mit Füßen getretenen – Rechts. Als jemand, der überlebt, trägt er die Bürde, die Mutter verleugnet zu haben. Drach ist sich selbst der Nächste geblieben. Das lebensrettende Zertifikat erhält er ausgerechnet vom „Kommissariat für Judenangelegenheiten“: Diese Behörde tut sich bei der Judenverfolgung mit besonderem Eifer hervor. Der Überlebenskampf besitzt seine eigenen, unlösbaren Widersprüche.

Drach wird dem Geschehen nachträglich zynische Spitzen aufsetzen: dessen Vernunftlosigkeit brandmarken, die Maske des Ätzkünstlers aufsetzen, über alle, vermeintlich fest umrissenen Identitäten die Säure seines Wortwitzes ausgießen. Die Unsentimentale Reise ist dasjenige Prosabuch Albert Drachs, das durch seine „Vulgarität“ aus seinem Werkkanon heraussticht. Es ist herzzerreißend.

Verweiser

Doch wer ist man geblieben, wenn man füglich hat in Abrede stellen müssen, wer man ist? Die anderen, die Toten, die man nie vergessen kann, kehren wieder, etwa in Das Beileid. Albert Drachs zynischer Realismus inszeniert die Wiederkehr der Wirklichkeit: als einer verrenkten, vollends aus dem Lot geratenen. In seinen großen und kleinen Protokollen – Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum (1964), Untersuchung an Mädeln (1971) – tritt die Sprache nochmals (und mehrmals) als Allmächtige auf, als die unumgänglich höchste Gewalt. In der Vielstimmigkeit einer vermeintlich nüchtern registrierenden Sprache finden alle den ihnen zustehenden Platz, nehmen ihn ein: die Opfer, die Täter, die Topografien.

Der Dichter ist, sehr frei nach Samuel Beckett, ihr Verweiser: derjenige, der jedermann, jederfrau diejenige Position anweist, die ihm oder ihr gebührt. Doch wer Unmenschlichkeit zu objektivieren sich anschickt, muss vor der Definitionsmacht der Sprache, vor ihrem unbarmherzigen Diktat, sich seinerseits in Acht nehmen. Das „Teuflische“ schlummert in allen Dingen. In Albert Drachs Fragmenten zu Das Beileid sind die Grundzüge dieser nicht zu sühnenden Entstellung der Wirklichkeit erfasst: „Überleben heißt, Schuld zu empfinden, auch wenn man sich gar nicht schuldig gemacht hat.“

Als „rassisch“ verfolgter Flüchtling hört man irgendwann auf, man selbst zu sein. Man wird „ver-rückt“, tritt an die Stelle eines anderen, so wie eine Eigenschaft, unter Umständen, an die Stelle des Eigennamens tritt.

Noch kurz vor seiner Rückkehr nach Wien 1948 schrieb Albert Drach aus Nizza, seinem damaligen Wohnort, an eine Mödlinger Freundin: „Ich schreibe hier meist an meinem Roman Unsentimentale Reise, den ich neu begonnen habe und statt im Protokollstil im ,Vulgärstil‘ halte. Ich weiß, dass er hierdurch viel von seiner Eigenart und seinem Witz verliert, ich muss aber dem Rechnung tragen, dass ich in einer Welt von Trotteln lebe, die nicht in der Lage sind, ein Kunstwerk nach seiner Wahrheit zu beurteilen.“

Dass noch in der Entstellung des Kunstwerks seine ganze Wahrheit enthalten sein könnte – die Unbarmherzigkeit einer solchen Erkenntnis muss dem 1988 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichneten, großen Autor Albert Drach später unbedingt augenfällig geworden sein.

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Albert Drach:
Werke in 10 Bänden, erschienen im Zsolnay Verlag

In „O Catilina“ widmet sich Drach dem römischen Anführer (Handschrift aus dem Nachlass). ©ZSOLNAY
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