Die dritte Generation

David Eisenberg über sein Leben als Rabbiner und über kulturelle Unterschiede zwischen Manchester und seiner Geburtsstadt Wien.
VON MARTIN ENGELBERG (INTERVIEW) UND MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER (FOTOS)

NU: Sie sind der Sohn von Oberrabbiner Eisenberg, sind hier in Wien geboren und zur Schule gegangen und haben in den USA und Israel Ihre Rabbiner-Ausbildung gemacht. Was machen Sie heute?

David Eisenberg: Ich bin Rabbiner einer Gemeinde in Manchester, die ungefähr 300 Familien umfasst. Das sind fast 1.000 Personen. Das System in Großbritannien ist anders als zum Beispiel in Wien – es gibt keine Kultusgemeinde, sondern jede Gemeinde ist ein Privatverein. Wir haben eine Mitgliedschaft, und jedes Mitglied zahlt einen Mitgliedsbeitrag. Wir haben nur ganz wenige Funktionäre und müssen mit den Einnahmen sehr sparsam haushalten.

Das ist eine orthodoxe Gemeinde?

Wir haben einen orthodoxen Ritus, so ähnlich wie hier in Wien – das heißt, Frauen und Männer sitzen getrennt. Ich schätze, dass zirka 10 Prozent der Menschen in der Gemeinde mehr und 90 Prozent vielleicht weniger orthodox sind. Wir haben Menschen, die am Schabbes vielleicht nicht fahren, aber andere Sachen machen, es gibt Menschen, die am Schabbes in den Schil (Bethaus) kommen und sich danach Manchester United anschauen, es gibt Menschen, die man nur zwei-, dreimal im Jahr sieht. Es gibt auch Menschen, die nur eingeschrieben sind, weil sie einer jüdischen Gemeinde angehören wollen, oder wenn sie einen Todesfall in der Familie haben, wollen sie einer Gemeinde zugehören, damit man einen Rabbiner hat.

Dann ist also Ihre Synagoge mit dem Stadttempel hier in Wien vergleichbar?

Ja, sie ist wohl mit dem Stadttempel vergleichbar. Möglicherweise gibt es in meiner Gemeinde doch mehr Mitglieder, die ein bisschen frömmer sind. Also vielleicht so zwischen Stadttempel und Misrachi.

Sie sind der Rabbiner und haben ein Team, das Sie unterstützt?

Also wir haben kein Team – bei uns ist es anders. Wir müssen uns auf Ehrenamtliche stützen. Wir haben nur einige bezahlte Angestellte, doch im Endeffekt ist es schwer. Am Schabbes haben wir für Kinder Programm. Für die kleinen Kinder gibt es Programm, das die Eltern machen. Manchmal haben wir einen Lehrer aus einer der Schulen, der wirklich sehr beliebt ist, der macht Programm alle zwei Wochen. Jedenfalls ist ein Programm für Kinder sehr wichtig, damit die Kinder in den Tempel kommen wollen. Auch die Eltern sollen gerne in den Tempel kommen wollen und dann auch beim Gottesdienst sitzen können, statt dass sie nur die ganze Zeit babysitten müssen.

Was sind die größten Unterschiede zwischen dem Leben in Manchester, das Sie leben, und hier in Wien, wie Sie es gelebt haben oder Ihr Vater es lebt?

Ich würde sagen, einer der größten Unterschiede ist wirklich die Kultur. Ein kulturelles Angebot wie in Wien gibt es in Manchester bei weitem nicht. Auch die Menschen hier in Wien sind viel kultivierter. In Manchester sind die Menschen auf der Straße ganz anders. Wenn es warm ist, gehen Männer mit nacktem Oberkörper durch die Stadt, nur in Shorts – das ist ganz normal dort. Das würde hier in Wien – außer man ist auf der Donauinsel und sonnt sich – keiner tun. Am Graben würdest du nie ohne Hemd durchgehen können, ohne dass dir jemand sagt: Das kannst du hier nicht machen. Das bezieht sich auch auf den Antisemitismus. Wenn man in Manchester auf der Straße geht, passiert es sehr oft, dass Menschen vom Auto aus „Jew“ rufen oder dich von hinten anschreien. In Wien gibt es das so eher nicht. In Manchester hat mir einmal jemand ein rohes Ei auf den Rücken geworfen – so etwas habe ich in Wien nie erlebt, und ich habe das in den Jahren, die ich in Wien war, auch nicht gehört. Das heißt nicht, dass es in Wien keine Antisemiten gibt, das sage ich nicht. Aber ich glaube, dass sich der Antisemitismus in Manchester viel mehr zeigt, weil die Menschen dort weniger kultiviert sind und weniger Bildung haben, sie benehmen sich halt anders.

Wie viele Einwohner hat Manchester und wie viele davon sind Juden?

In Manchester leben ungefähr 35.000 Juden, und Greater Manchester hat zirka drei Millionen Einwohner.

Das heißt, die jüdische Gemeinde in Manchester ist vier Mal größer als jene in Wien. Wie ist das jüdische Leben in Manchester im Vergleich zu Wien?

Der größte Unterschied ist natürlich die Zahl, und damit verbunden die größere Aktivität in jeder Hinsicht. Ein weiterer großer Unterschied ist die Zusammensetzung: In Manchester ist das Verhältnis zwischen frommen und nicht-frommen Juden zirka 50:50. Wenn man sich Wien anschaut, machen die Frommen vielleicht zehn bis 15 Prozent der Mitglieder aus, und diese haben dementsprechend keinen sehr großen Einfluss in der Gemeinde. Die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion zum Beispiel haben da viel, viel mehr Bedeutung. Dadurch dass es in Manchester so viele fromme Juden gibt und die fast alle in der gleichen Gegend wohnen, gibt es zum Beispiel Straßen mit sechs oder sieben Schils. Es ist ein ganz anderes Leben, es gibt viel mehr Supermärkte, viel mehr Infrastruktur und so weiter.

Wenn wir schon über Wien reden: Sie sind hier aufgewachsen, kennen hier auch viele Leute, würde es Sie nicht reizen, nach Wien zurückzukommen?

Ehrlich gesagt, im Augenblick nicht. Derzeit geht es mir in Manchester sehr gut. Ich verstehe mich mit den Menschen sehr gut, die Gemeinde wächst. Wir haben jetzt sehr daran gearbeitet, dass sich die junge Generation bei uns willkommen fühlt. Dass es etwas für die Kinder gibt. Man muss einfach für sie Programme machen, man muss sie reinlocken, man muss viel für sie tun und sie müssen spüren, dass es ein Ort ist, wo sie hinkommen wollen. Ich will, dass die Kinder gerne in unseren Schil gehen. Ein Schil muss auch ein bisschen ein sozialer Mittelpunkt sein. Es ist schon so, dass Menschen in den Schil kommen wollen, weil sie dort gerne Menschen treffen. Bei uns ist es auch so, dass neue Leute von Mitgliedern der Gemeinde sofort willkommen geheißen werden, ihnen ein Platz gegeben wird, man mit ihnen spricht und so weiter. Ich selber komme auch von meinem Sitz von vorne ganz nach hinten und gebe ihnen die Hand, spreche mit ihnen, frage sie, woher sie kommen. Wenn sich Menschen willkommen fühlen, sie ein warmes Gefühl bekommen, dann kommen sie wieder. Das sind alles Sachen, die ein Rabbiner machen muss, um seine Gemeinde aufzubauen. Die Atmosphäre muss so sein, dass die Menschen kommen wollen, dass die Menschen finden, dass es ein schöner Ort ist. Das ist ein Ort, wo ich gerne bin. Wenn Menschen sagen: Das ist ein Ort, wo ich gerne bin, dann fängt das an, und mehr Menschen kommen.

Das war jetzt schon fast eine programmatische Rede für einen Amtsantritt hier in Wien!

Ich würde sagen, das ist keine programmatische Rede für Wien, sondern generell eine Rede für jeden Schil. Ein Schil, der sich aufbauen will, muss ein freundlicher Ort sein.

Aber jetzt muss ich schon fragen: Ihr Großvater seligen Andenkens amtierte viele Jahre hier als Oberrabbiner, Ihr Vater – bis 120 – ist unser derzeitiger Oberrabbiner, würde sich da eine Nachfolge nicht anbieten?

Schauen Sie, ich habe mir das natürlich schon öfters überlegt, aber eines der größten Probleme ist, dass wir uns in Manchester schon sehr gut etabliert haben, meine Frau und meine Kinder sind dort sehr zufrieden, und ich habe dort einen Job, mit dem ich sehr zufrieden bin. Und dann sagt man mir: Ja, aber schau, du kannst nach Wien kommen, und dort kannst du einmal Oberrabbiner werden; und dann muss man wieder darüber nachdenken und sagen: Muss ich jetzt oder soll ich jetzt als an einem Ort etablierte Person meine fünf Kinder von ihren Freunden und von ihren Schulen wegnehmen und total neu anfangen, weil es Menschen gibt, die gerne hätten, dass ich zurückkomme, oder weil es eigentlich sehr nett wäre, wenn es drei Generationen hier in Wien gäbe. Das ist eine sehr schwere Frage, und im Augenblick ist die Antwort: nein. Es kann sein, dass in zehn Jahren die Antwort anders ausschaut, weil meine Kinder dann schon älter sind und ein Großteil der Kinder nicht mehr in der Schule sind; dadurch wäre es kein Riesenaufwand, wenn wir umziehen. Es kann sein, ich sage nicht, dass es unmöglich ist, dass wir hierher ziehen. Aber wie es im Augenblick ausschaut, eher nicht.

Das sind sehr persönliche Beweggründe. Wie sieht es mit der Verantwortung als deutschsprachiger Rabbiner mit Wiener Wurzeln aus?

Also ich habe das auch schon einige Male mit großen Rabbinern diskutiert. Einer hat mich fast angeschrien und gesagt: Wie viele deutschsprachige Menschen gibt es, die das wirklich können? Es gibt viele englischsprachige Rabbiner, aber nur vielleicht zehn deutschsprachige Rabbiner, dann hast du eine Pflicht, nach Wien oder nach Berlin oder in die Schweiz zu fahren, weil es so wenige Leute wie dich gibt. Ich bin dann zu einem anderen Rabbiner gegangen, und der hat wieder gesagt: Nein, du musst dich nicht so fühlen. Es sei wichtig hinauszugehen, um Menschen etwas beizubringen, Leute näher an Gott zu bringen. Er sagte: Du musst dort hingehen, wo du für das jüdische Volk am meisten ausrichten kannst. Wenn du in England mehr für das jüdische Volk machen kannst als in Österreich, dann bleib in England.

Für mein Gefühl hat das auch mit dem Verhalten der Wiener Gemeinde zu tun. Die Frage wäre: Wenn es heute in der Gemeinde eine Mobilisierung gäbe, zu sagen, wir versuchen ein bisschen in die Zukunft zu schauen, wo gehen wir hin und wer sind die Leute, mit denen wir das machen wollen, dann müsste man tatsächlich jetzt schon daran arbeiten und überlegen. Und das natürlich auch mit Ihnen und Ihrer Familie besprechen, das wäre sinnvoll. Weil letztlich – in zehn Jahren ist die Situation vielleicht für Sie persönlich einfacher geworden, aber nicht hier in der Gemeinde.

Das ist schon richtig. Die Kultusgemeinde zusammen mit dem Rabbinat, vielleicht zusammen mit einem strategischen Team, müsste sich hinsetzen und eine Strategie für die Zukunft überlegen. Ich weiß nicht, ob sie es schon gemacht hat – vielleicht haben sie es schon gemacht, vielleicht noch nicht. Das wäre schon eine gute Idee; wir tun das bei uns einmal im Jahr. Ich habe ja auch eine Management- Ausbildung, und man kann sagen: Ein Schil ist wie ein Firma, und genauso, wie eine Firma einen Einjahresplan und einen Fünfjahresplan hat, so gilt das auch für ein Schil.

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