Die alte Geschichte vom Wunderkind

Samuel Reshevsky, als Szmul Rzeszewski in Polen geboren, gilt als eines der ersten Wunderkinder der Schachgeschichte. Bereits als kleiner Bub gab er große Simultanveranstaltungen – im Matrosenanzug.
VON ANATOL VITOUCH

„Gut gegen Böse“ – das war die Brille, durch die der Westen 1972 den Jahrhundertwettkampf Fischer vs. Spasskij betrachtete und darüber in Euphorie geriet (siehe NU Nr. 55). Ähnlich wirksam für die Popularisierung des Spiels war wohl nur die alte Geschichte vom Wunderkind. Am kometenhaften Aufstieg Magnus Carlsens zum hochbezahlten, Schach spielenden Jeansmodell lässt sich mühelos ablesen, wie gut dieses Narrativ auch heute noch funktioniert.

Im Vergleich zu Carlsens Verdienst dürften die Einkünfte Szmul Rzeszewskis bescheiden gewesen sein. Aber immerhin ernährte der Achtjährige seine Familie, indem er im Jahr 1920 zu einer Simultan-Tournee durch die USA aufbrach. Im Matrosenanzug nahm er es pro Vorstellung mit 40 bis 75 erwachsenen Gegnern auf und versetzte die Neue Welt damit in Verzückung. Von den 1.500 Simultanpartien, die der Knabe auf seiner Rundreise absolvierte, verlor er gerade einmal acht.

Kein Schach am Sabbat
Szmul Rzeszewski war 1911 in einem kleinen polnischen Ort in der Nähe von Łódź als sechstes Kind einer orthodoxen jüdischen Familie geboren worden. Sein Vater, ein Textilhändler und Schach-Amateur, brachte ihm die Regeln des Spiels bei, als Szmul vier oder fünf Jahre alt war. Das Talent des Kindes muss schnell zutage getreten sein, denn bereits drei Jahre später machte der kleine Rzeszewski sich unter der Ägide eines Managers zu einer Europareise auf, um sich die ersten Sporen als Wunderkind zu verdienen. Der Sprung über den großen Teich war der nächste logische Zug, denn das augenfälligste historische Vorbild für Rzeszewski hieß Paul Morphy (1837–1884). Morphy war nicht nur der erste amerikanische Schachspieler von Weltrang und inoffizieller Weltmeister zur Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen. Er hatte auch bereits als Zwölfjähriger alles in Grund und Boden gespielt, was sich ihm in den Vereinigten Staaten an einem Schachbrett in den Weg stellte.

Rzeszewski tat es ihm nun gleich und war dabei noch vier Jahre jünger als Morphy anno dazumal. Das steigerte den Sensationswert der Sache beträchtlich. Schon nach wenigen Wochen war Szmul Rzeszewski der bekannteste Schachspieler der USA, ohne jemals an einem großen Turnier teilgenommen zu haben. Zwar bekamen seine Eltern kurzfristig Schwierigkeiten mit dem Jugendamt, weil ihr Sohn naturgemäß die Schule schwänzen musste, um monatelang auf Achse zu sein. Aber die Sorgen waren wohl unbegründet: Szmul, der seinen Namen bald Samuel Reshevsky schrieb, war ein schneller Lerner und eignete sich amerikanisches Englisch und den übrigen Schulstoff mühelos neben seiner Erwerbsarbeit an. Zwei Wochen vor seinem elften Geburtstag war es dann soweit: Samuel Reshevsky spielte sein erstes Weltklasseturnier. Zwar vermochte er sich noch nicht weit vorne zu platzieren, aber er besiegte immerhin den bekannten französischen Meister David Janowski in einer Partie, für die er den Schönheitspreis erhielt. Danach wurde es etwas ruhiger um das junge Genie. Das Simultanspiel hatte sich abgenutzt, also hängte Reshevsky das Schachbrett für die Zeit seiner Highschool- und Universitätsausbildung an den Nagel. Erst im fortgeschrittenen Alter von 21 Jahren kehrte er, akademischer Buchhalter geworden, in die Turnierarena zurück, die er gehörig aufmischte. 1936 gewann Reshevsky bei seinem ersten Antreten die US-Meisterschaft. Er sollte den Titel noch sieben weitere Male erobern, zuletzt 1971. Seine Turnieraktivität ging Reshevsky als orthodoxem Juden übrigens nicht über die religiösen Gebote: Am Sabbat spielte er grundsätzlich kein Schach, wonach sich die Turnierorganisatoren zu richten hatten.

Aber wie es mit den Wunderkindern manchmal so ist: Man verspricht sich von ihnen mehr, als sie beim besten Willen halten können. Hatte man in dem Achtjährigen noch ganz selbstverständlich den zukünftigen Weltmeister gesehen, stellte sich nun heraus, dass er „nur“ zum engeren Kreis der Anwärter auf den Titel gehörte.

„Stärkster Amateur der Welt“
1948 nahm Reshevsky am WM-Turnier teil, in dem der Nachfolger für den im Amt verstorbenen Weltmeister Alexander Aljechin ermittelt werden sollte. Er wurde Dritter, ex aequo mit dem großen Paul Keres, aber hinter Michail Botwinnik, der den Titel errang, und Wassili Smyslow, der Botwinnik den Thron ein paar Jahre später vorübergehend abluchste. Dabei hatte Reshevsky gegen Botwinnik selbst eine ausgezeichnete Bilanz: In einem Match UdSSR gegen den Rest der Welt errang er drei Remis und einen Sieg gegen den Weltmeister. Zur Belohnung bekam er von Botwinnik frech den Titel „stärkster Amateur der Welt“ verliehen.

Wie David Bronstein später berichtete, nötigte die Stärke dieses Amateurs die Sowjets sogar, sich beim Kandidatenturnier 1953 auf Befehl der Parteileitung zu verschwören, um den in Führung liegenden US-Amerikaner mittels Partieabsprachen noch abzufangen. Ein paar Jahre später betrat ein gewisser Bobby Fischer die Bühne und machte Reshevsky den Titel als stärkster Schachspieler der westlichen Hemisphäre nachdrücklich streitig. Ein 1961 ausgetragener Wettkampf zwischen den beiden – Fischer war 18, Reshevsky inzwischen 50 Jahre alt – wurde beim Stand von 5½ zu 5½ abgebrochen, weil die Spieler einander so feindlich gesonnen waren. „Ich hätte kein Problem damit, in einem Turnier 19. zu werden, solange Fischer 20. wird“, sagte Reshevsky später zu dieser Rivalität. Dabei handelte es sich aber um einen Kampf, den das einstige Wunderkind schon aus Altersgründen nicht gewinnen konnte. Bald musste er sich bei Schacholympiaden mit dem zweiten Brett hinter Bobby zufrieden geben.

Einen Rekord aber kann ihm keiner nehmen: Als einziger Mensch ist Samuel Reshevsky 11 der 17 Weltmeister der Schachgeschichte am Brett gegenübergesessen. Ganze sieben davon konnte er mindestens einmal besiegen. Bedenkt man, dass sich die Geschichte der offiziellen Weltmeister von Wilhelm Steinitz 1886 bis Magnus Carlsen 2013 erstreckt, dann lässt sich ermessen, welchen schachgeschichtlichen Zeitraum seine aktive Spielerlaufbahn umschloss.

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