Der Westen ist da naiv

Die austro-amerikanische Psychoanalytiker Otto F. Kernberg über die Psychologie des Selbstmordattentäters, die Ursachen für die Aggression im Nahen Osten und sein kompliziertes Verhältnis zum Judentum.
Von Martin Engelberg (Text) und Peter Rigaud (Fotos)

NU: Was geht in einem Selbst­mordattentäter aus psychoanalytischer Sicht vor?

Kernberg: Die Terroristen bilden eine soziale Untergruppe, sie sind besonders motiviert und ihre Ideo­logie wird zum Sinn ihres Lebens. Sie leben völlig abgeschlossen, außer-
halb des Gesetzes, unterliegen einer strengen Disziplin innerhalb der Gruppe, mit totaler Unterwerfung, scharfer gegenseitiger Kontrolle und sind extrem paranoid. Allenfalls zeigen sie eine oberflächliche An­­passung, die aber nur der Erreichung des Zieles gilt und dieses bleibt die absolute Zerstörung des Feindes. Dabei ist es egal, wen sie töten – Frauen, Kinder, Zivilisten – alle sind Teil des Feindes. Das Opfer ist also völlig dehumanisiert, es gibt kein Mitleid.

NU: Woher kommt diese gewaltige Aggression?

Kernberg: Es ist wohl eine Mischung. Die Fähigkeit zur aggressiven Regression, zur Entmenschlichung ist an und für sich ein normaler, gewöhnlicher Teil der Menschheit. Das steckt im Menschen. Dafür, dass es dann zu einer solchen Pathologisierung kommt, gibt es mehrere Ursachen: Teilweise ist es angeboren, das Ergebnis von Kindheitserfahrungen, der Einfluss ideologischer Bewegungen in der Adoleszenz und insgesamt traumatisierender sozialer Umstände, bestimmte Gruppenprozesse, der Einfluss extremistischer Ideologien und Anführerschaften, historische Traumata ganzer Gesellschaften, aktuelle soziale Konflikte usw.

NU: Dennoch bleibt ein solches Verhalten für einen „normalen“ Menschen unbegreifbar. Welche Antwort haben Sie als Psychiater und Psychoanalytiker?

Kernberg: Normalerweise gibt es eine persönliche Identität, die auch eine Gruppenidentität enthält. Die persönliche Identität wird durch die Gruppenidentität unterstützt, die normalerweise ziemlich lose ist und nur aktiviert wird, wenn wir uns in eine unterschiedliche Kultur begeben. Normalerweise spielt es keine große Rolle Österreicher zu sein. In dem Moment, da jemand in Frankreich ist, wird die Tatsache, Österreicher zu sein, ein wichtiger Aspekt, denn dann hilft die Gruppenidentität die individuelle Identität zu stärken. Bei den Selbstmordattentätern ist diese innere persönliche Identität schwer gestört und die äußere Identität ersetzt sie. Die Gruppenidentität wird fundamental und muss so verteidigt werden wie die persönliche Identität des Individuums und wenn diese angegriffen wird, wie z.B. in einem Krieg, dann sind die Menschen auch bereit, für diese Gruppenidentität zu sterben.
Darüber hinaus sehen die Atten­täter, wie die vorgehenden Selbst­mord­attentäter geehrt werden, wie überall ihre Bilder, Videotapes gezeigt werden, sehen sie, wie die Familien reichlich belohnt werden.
Wenn alle diese Faktoren zusammenkommen, ist es unter Umständen gar nicht schwer, tausende von selbstmörderischen Mördern zu finden, deren Gewissen religiös bereits auf den Mord vom Feind eingestellt sind, die Gewissheit haben, so den Tod zu vermeiden und belohnt zu werden.

NU: Was ist Ihre Erklärung für den gewaltigen Hass und den Antisemitismus, der in der arabischen Welt herrscht?

Kernberg: Das stammt sicher einerseits von dem israelisch-palästinensischen Konflikt, bei dem sich alle Araber mit den Palästinensern identifizieren. Das wird aber zu großen Teilen von den arabischen Regierungen gefördert, die damit von ihren lokalen Problemen ablenken wollen.
In der arabischen Welt wird dauernd Hass getrommelt, primitivster Antisemitismus ist an der Tagesordnung. Der Westen ist da naiv und glaubt, es ist ein Kampf zwischen zwei Ländern. Dabei ist das ein rassistischer Ansatz, der nicht nur im Iran und Syrien herrscht, sondern auch z. B. in Ägypten. Die ägyptische Regierung hat Frieden mit Israel, ist im Allgemeinen sehr kontrollierend und diktatorisch, macht aber überhaupt nichts, um solche primitive Entwicklungen zu stoppen. Die Protokolle der Weisen von Zion werden da frei verkauft.
Und da ist noch der Einfluss des alten europäischen Antisemitismus, der von den arabischen Staaten übernommen wurde. Der Antisemitismus der in den 20er Jahren gegründeten Muslimbruderschaft hatte ja die gleichen Wurzeln wie der Nationalsozialismus.

NU: Was sollte der Westen gegen den islamischen Fundamentalismus unternehmen?

Kernberg: Zuerst einmal muss die Problematik des Verhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten und Europa verbessert werden. Europa hat eine ambivalente Einstellung zu den Vereinigten Staaten. Sie sehen die Vereinigten Staaten als kriegerischen Cowboy, besonders unter der Regierung von Bush. Auch gibt es einen starken Antiamerikanismus in der europäischen Linken. Ich glaube, dass da die Position von Europa einerseits ideologisch von einem Pazifismus bestimmt ist, der von der traumatischen Situation des Zweiten Weltkriegs herrührt, und dass besonders Deutschland davon betroffen ist. Andererseits Europa mit der Illusion lebt, dass rationale, politische, diplomatische Verständigung zwischen den Staaten alle Probleme lösen kann. Europa hat in dieser Hinsicht die Lektion des Zweiten Weltkriegs nicht gelernt oder vergessen. Dass es Staaten gibt mit denen man kein Zusammensein leben kann, dass es Gangsterstaaten gibt, die gefährlich sind. Was sind die direkten Maßnahmen? Die ökonomische Unterstützung der Terroristen muss unterbunden werden. Das heißt Druck und Kontrolle auf den Iran, auf Saudi-Arabien, das sind die zwei Wichtigsten. Zweitens: Es muss der Versuch unternommen werden, mit den moderaten arabischen Staaten, die gegen den Fundamentalismus sind, wie z. B. Indonesien, die Türkei, Ägypten, Sri Lanka, einen Kontakt herzustellen oder zu bewahren. Es ist klar, dass das kein Kampf gegen den Islam ist oder gegen die muslimische Welt, sondern gegen den Terrorismus. Drittens: Die terroristischen Gruppen müssen infiltriert werden und viertens müssen sie militärisch bekämpft werden.

NU: Sehen Sie einen Unterschied im Ausmaß, aber auch der Art des Antisemitismus in den USA und Europa?

Kernberg: Er wird in Europa mehr toleriert als in den Vereinigten Staaten und er ist wahrscheinlich in einigen europäischen Ländern stärker als in den Vereinigten Staaten. Besonders Österreich hat einen hohen Grad an Antisemitismus. Traditionell war das so. Die europäische Presse, soweit ich diese lese, die deutsche, englische, französische und spanische Presse, ist im Allgemeinen anti-israelisch eingestellt, besonders die linke Presse. Es ist interessant, dass die Linke nach dem 6-Tage Krieg, sofort von der Sympathie für Israel zur Sympathie mit den Palästinensern wechselte. Ich glaube, dahinter steckt ein latenter Antisemitismus, der früher vollkommen unterdrückt wurde und jetzt eine rationale Öffnung fand.

NU: Sie sind 1928 in Wien geboren. Ihre Familie flüchtete 1939 im letzten Moment vor den Nazis über Italien nach Chile. Was sind Ihre Erinnerungen, was sind Ihre Gefühle zu dieser Zeit?

Kernberg: Ich war da als 10-Jähriger ein Jahr lang dem Nazisystem ausgesetzt. Mein Vater konnte sich Gott sei Dank verstecken, er wurde gewarnt vor der Kristallnacht, er war Beamter. Unsere Wohnung wurde nicht zerstört. Die meisten jüdischen Wohnungen in dem Haus, in dem wir wohnten, wurden zerstört. Das war Glück im Unglück. Wir verloren aber alles. Das Visum für Chile kostete meine Eltern den letzten Cent, all unser Hab und Gut, das wir über Hamburg nach Chile schicken wollten, wurde beschlagnahmt und ging verloren.

NU: Wie war dieses Jahr in Wien?

Kernberg: Es war sehr, sehr unangenehm. Wir wurden aus der Schule rausgeschmissen, wir kamen alle in eine Schule in der Stumpergasse im 6. Bezirk. An dem Tag, nachdem der Anschluss stattfand, kam der Lehrer mit dem großen Abzeichen der illegalen Nazis in die Klasse.
Überall in den Parks war Juden und Hunden der Zutritt verboten, Kaffeehäuser, Kinos – überall stand „Juden und Hunden ist der Zutritt verboten“. Einmal ging ich mit meiner Mutter auf der Mariahilfer Straße spazieren und da wurde sie von einem SA-Mann gestoppt und gezwungen, das Trottoir zu waschen. Sofort bildete sich eine Gruppe von Menschen mit höhnischem Spott um uns. Das war besonders beeindruckend für mich, dass gewöhnliche Menschen, die auf der Straße gehen, durch so etwas sofort stimuliert werden, da mitzumachen. Es gab niemanden, der protestierte.
Es war die Stimmung maßloser Begeisterung, überall Haken­kreuz­fahnen, ich sah Hitler, wie er vom Westbahnhof über die Mariahilfer Straße auf dem Weg zur Hofburg war, wo er dann seine Rede hielt. Ich habe nie so eine Begeisterung gesehen, wie ich sie damals sah. Ganz Wien war dort.

NU: Dann kam die Emigration.

Kernberg: Als wir dann weggingen, war da zuerst die Erleichterung, als wir die Grenze nach Italien passierten. Und dann, als wir in Chile ankamen war da eine große und chronische Sehnsucht und Trauer nach Wien. Ich wurde Mitglied einer Organisation namens „Freies Österreich“, ging dort mit der österreichischen Fahne auf Paraden, im Alter von 12 Jahren, und vermisste die deutsche Sprache, deutsche Bücher. Es gab eine jüdische Emigrantengruppe, die sehr eng zusammenlebte. Das war wichtig und sehr schön und ich hatte eine sehr schöne Zeit in Chile. Ich liebte das Land von allem Anfang an.

NU: Sie waren die ersten zehn Lebensjahre in Wien, sprachen deutsch, absolvierten dann das Gymnasium, das Medizinstudium und auch die Ausbildung zum Psychiater in Chile, in Spanisch, und gingen dann in die USA und arbeiten dort seither in Englisch. In welcher Sprache denken Sie, arbeiten Sie, lesen Sie, träumen Sie?

Kernberg: Ich denke in der Sprache, in der ich spreche. Das heißt, ich bin
in dieser Beziehung polyglott. Deutsch, Spanisch und Englisch spreche ich ungefähr gleich. Zuerst war das noch sehr differenziert. Deutsch war die Sprache des Essens, der intimen Beziehung zu meinen Eltern, Spanisch war die Sprache der Sexualität und der Liebe, Englisch war die der wissenschaftlichen Beziehung. Mit meiner Frau, die aus Chile war und mit der ich Spanisch sprach, entdeckte ich, als wir bereits in den USA waren, dass wir immer, wenn unsere Beziehung gut war, Spanisch miteinander sprachen und wenn wir Spannungen hatten, da sprachen wir Englisch, da wurde es scharf und englisch.

NU: Ihr Deutsch ist ganz hervorragend.

Kernberg: Sprechen geht schon, aber Schreiben nicht. Wissenschaftliches lese ich auf Englisch. Lesen aus Interesse – weil ich Literatur liebe, lese ich am liebsten auf Deutsch. Wenn es sich um Poesie handelt, dann lese ich das nur auf Deutsch. Da habe ich das Gefühl dafür. Ich gehöre in dieser Hinsicht ganz klar in die deutsche Kulturwelt und die fehlte mir schon von früher Adoleszenz an. In welcher Sprache ich träume? Es kommt darauf an, mit wem ich im Traum spreche. Spreche ich mit jemandem auf Spanisch, dann spreche ich Spanisch.

NU: Welche Bedeutung hat das Judentum für Sie?

Kernberg: Ich bin sehr mit Judentum und jüdischen Werten identifiziert. Ich bin nicht religiös. In meiner Adoleszenz entwickelte ich einen Widerstand dagegen, mein Vater war sehr religiös, wir hatten einen koscheren Haushalt und ich war ein radikaler Atheist. Aber das hat sich in den letzten Jahren geändert. Ich bin kritisch der psychoanalytischen Tradition gegenüber, die sehr atheistisch ist. Ich bin sehr respektvoll Religionen gegenüber. Ich liebe die traditionellen Formen und glaube, dass ich in dem Sinn religiös bin, dass ich die fundamentale Wichtigkeit eines systematisch integrierten Wertsystems akzeptiere.“
Ich habe über diese Sachen viel mit meiner Frau diskutiert. Meine Frau hatte eine ähnliche Einstellung, aber sie glaubte konkreter an eine Gott­heit. Aber sie sagte: Gott ist indifferent den Menschen gegenüber. Es ist unsere Illusion, dass, wenn Gott existiert, er sich besonders um die Menschen kümmert.
Es ist interessant, dass ich eine ähnliche Einstellung von einem orthodoxen Rabbiner, den ich sehr respektiere, gehört habe. Er meinte, es sei vollkommen nutzlos zu fragen, wie kann Gott das erlauben? Wollte das Gott? Was will er? Da sagte er: Das ist vollkommen sinnlos. Das endet nur mit der Idee eines sadistischen Gottes. Das fand ich von einem orthodoxen Rabbiner ziemlich eindrucksvoll.

NU: Welchen Einfluss hat das Jüdisch-Sein auf Ihre psychoanalytische Arbeit, auf die Psychoanalyse überhaupt? Wie jüdisch ist die Psychoanalyse?

Kernberg: Das stimmt schon, die jüdische Tradition betont spezifisch dialektisches Denken und überhaupt die Idealisierung der Reflexion über das Leben, der Selbstreflexion, Reflexion über den Sinn des Lebens und die Lebensaufgaben des Menschen. Das orthodoxe Judentum hat natürlich Gebote und Verbote, 613, wenn ich nicht irre – aber über das hinaus ist da das Insistieren auf das persönliche Denken, das persönliche Entscheiden. Es geht nicht so sehr um das Folgen, sondern das persönliche Entscheiden und diese Art von Idealisierung des Intellekts und des Reflektierens, das hat schon etwas an sich, aber ob das Freud beeinflusst hat, das weiß ich nicht. Ich fühle mich immer ein bisschen unbehaglich, wenn ich all die vielen Studien über Freud lese und sehe, was man da alles mit seiner Persönlichkeit macht. Für mich ist Psychoanalyse eine Wissenschaft und ich möchte die Psychoanalyse schließlich auch unabhängig von ihrem Gründer sehen. Die totale Abhängigkeit vom Gründer klingt sehr nach einer Religion.

NU: Freud sinnierte im Vorwort seines Werkes „Totem und Tabu“, was
an ihm, der das Judentum ja überhaupt nicht praktizierte, jüdisch wäre, und da schrieb er: „Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache.“ Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein. Was denken Sie dazu? Gibt es dafür heute schon mehr wissenschaftliche Einsicht?

Kernberg: Eine etwas ausweichende Antwort von Freud. Was mich jüdisch macht, ist ein starkes Gefühl für eine Kultur, Geschichte, Tradition, Religion, die mich verwurzeln, einen Background geben für die Suche nach einem integrierten moralischen System, Wertsystem, der das Leben sinnvoll und wichtig macht und ich glaube, dass Religion als integriertes Wertsystem so eine allgemeine Funktion haben kann.
Eine persönliche Bemerkung: Nach dem Tod meiner Frau, sie starb vor weniger als sechs Monaten, war für mich Religion – Aspekte der Religion – helfend, unterstützend. Es warf Fragen auf, die ich nicht beantworten konnte und ich hatte lange Unterhaltungen mit Martin Bergmann, er ist 93 Jahre alt und hat einen vollkommen klaren und scharfen Verstand.
Er sagte mir, er war etwas überrascht über mich, er fände Antworten viel eher in der Psychoanalyse und er sagte, die Fragen endeten bei mir, in meinem Inneren, bei meinem psychoanalytischen Verstehen, den psychoanalytischen Erkenntnissen, diese sollten mir helfen, in meinem Inneren das zu lösen, was die Problematik des Todes z. B. aufbringen könnte. Da ist ein klarer Unterschied zwischen seiner Einstellung und der meinen, in der er – ich würde mich fast trauen zu sagen – eine fast religiöse Ein­stellung zur Psychoanalyse hat und ich meine religiöse Einstellung von der Psychoanalyse trenne.
Natürlich können mich jetzt die klassischen Analytiker angreifen und sagen, dass ich nicht genügend analysiert wurde.

Zur Person

Otto F. Kernberg, geb. 1928 in Wien,
ist Psychiater und Psychoanalytiker,
Professor für Psychiatrie am Medical College
der Cornell University,
Direktor des Personality Disorders Institute am
New Yorker Presbyterian Hospital und
gilt als kompetentester Spezialist
für schwere Persönlichkeitsstörungen.
Von 1998 bis 2001 war Kernberg Präsident
der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Unter seinen zahlreichen Veröffent­lichungen
befinden sich bahnbrechende Arbeiten zur
Objektbeziehungstheorie,
zum Borderline-Syndrom und
zum Narzissmus, die ihm weltweite Anerkennung verschafft haben.

Die mobile Version verlassen