Der umstrittene Schnitt

Wer schächtet, muss in Deutschland, Österreich oder der Schweiz unterschiedliche Gesetze befolgen. Die EU will bis 2013 eine einheitliche Regelung schaffen.
Von Katja Sindemann

Lokalaugenschein bei einem Fleischhauer auf der Mazzesinsel. Hier kennt jeder jeden. Der Chef begrüßt persönlich seine Kunden. Die angebotenen Artikel liegen fein säuberlich in der Glasvitrine. Es sind allesamt koschere Fleischwaren. Die Kaschrut, die jüdischen Speisegesetze, werden hier selbstverständlich eingehalten, allen voran die nicht unumstrittene Prozedur des Schächtens (hebräisch: Schechita).

Die unbetäubten Tiere werden dabei durch einen schnellen Schnitt durch Luft- und Speiseröhre, Halsschlagader, Vagusnerven und Venen getötet. Voraussetzung dafür ist ein scharfes, langes Messer, dessen Schliff keine Scharten aufweisen darf. Anschließend werden die Tiere kopfüber aufgehängt, damit sie ausbluten. Die großen Blutadern werden entfernt. Danach werden die Fleischteile abwechselnd gesalzen – damit noch verbliebenes Blut aus den Gefäßen gezogen wird – und mit Wasser gewaschen. Das Schächten darf nur durch einen ausgebildeten Schochet (Schächter) erfolgen. Dieser muss sich sowohl in der anatomischen Beschaffenheit der Tiere als auch in der Religion auskennen. Und die Gebote einhalten. Seine Befähigung wird vom Rabbiner jährlich überprüft.

Das Schächten wurde in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, weildie Tiere vorher nicht betäubt werden. Von jüdischer Seite wird argumentiert, dass die Tiere durch den raschen Abfall des Blutdruckes und darauf folgendem Sauerstoffmangel im Gehirn sofort betäubt seien und keine Schmerzen erleiden würden. Gegner bezweifeln dies, da die Blutversorgung des Gehirns auch durch Blutgefäße an der Wirbelsäule und im Nacken erfolge, die durch den Schächtschnitt nicht durchtrennt werden. Sofortige Bewusstlosigkeit sei nicht immer gegeben. Videoaufnahmen von Schächtungen würden mitunter Tiere im qualvollen Todeskampf zeigen. Obwohl Tierschützer konzedieren, dass das Schächten in früherer Zeit die schonendste Methode der Tötung gewesen sei, wird sie heute angesichts moderner Betäubungsmittel als veraltet und inhuman abgelehnt.

Nun hat sich auch die Europäische Union des Themas angenommen. Mit dem EU-Forschungsprojekt DI-AREL (Dialog über das religiöse Schlachten), das auch Religionsvertreter sowie Halal- und Koscher-Zertifizierer einbindet, soll die strittige Frage geklärt werden, ob und wie eine religiöse Schlachtung ohne vorherige Betäubung mit einer tierschutzkonformen Tötung vereinbar ist. Ein Experte ist der Philosoph und Tiermediziner Jörg Luy, der an der Freien Universität Berlin 2004 auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Tierethik und -schutz berufen wurde.

Tatsächlich gibt es in den europäischen Ländern beträchtliche Unterschiede, wie mit dem Thema Schächten umgegangen wird. In Österreich werden die Tiere unmittelbar nach dem Schächtschnitt in Anwesenheit eines Tierarztes betäubt (post-cut-stunning). In der Schweiz (und in Schweden) ist das Schächten generell verboten, zugleich gibt es eine Importerlaubnis für geschächtetes Fleisch. Das DIAREL-Projekt hat die unterschiedlichen Rechtslagen in den EU-Ländern als auch die religiösen Schlachtpraktiken sowohl in Bezug auf die Arbeitsabläufe als auch die behördliche Praxis erhoben. Laut der EU-Verordnung 1099/2009 soll ab dem 1. Januar 2013 ein einheitlicher Vollzug in Europa gelten – nach Aussage von DIAREL eine Herausforderung.

Auch, weil durch den Zuzug von Muslimen in Europa der Bedarf anHalal-Fleisch (Halal: erlaubt, rein) stark gestiegen ist. Muslime dürfen nur Fleisch geschächteter Tiere essen, das Essen von Blut ist im Islam verboten. Der Schlachter muss gläubiger Muslim sein, die Tiere werden Richtung Mekka ausgerichtet und beim Schächten wird Allah angerufen. Der Schächtschnitt ist der gleiche. Die Re-Islamisierung seit den 1970er-Jahren bewirkte, dass Muslime die Speisevorschriften verstärkt beachten. Das bezieht sich nicht nur auf Fleisch, sondern auch auf Lebensmittel, die Gelantine aus Schweinefett oder andere unerlaubte Zutaten beinhalten. So produziert ein bekannter Hersteller seine Fruchtgummis für Muslime in der Türkei aus Rindergelantine.

Die Nahrungsmittelindustrie hat inzwischen das Marktpotenzial von Halal-Produkten erkannt – nach Schätzung des Halal Knowledge Center weltweit ein Wert von 1 Billion US-Dollar, in Europa 12–15 Milliarden Euro – und darauf reagiert. In Dänemark wurde die Geflügelproduktion, die großteils in muslimische Länder exportiert wird, auf Halal umgestellt, der brasilianische Rindfleischexport ebenfalls. In Deutschland hat ein islamischer Metzger nach jahrelangem Rechtsstreit durch die Instanzen erwirkt, dass er mit Ausnahmegenehmigung schächten darf. Dies rief heftigen Protest hervor.

Die Grundlage für das Schächten ist das göttliche Verbot, Blut zu essen. Es findet sich erstmals im Buch Bereschit: „Allein esset das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist“ (1. Mose 9,4). Das Gebot wird im Buch Wajikra wiederholt: „Und wer vom Haus Israel … irgendwelches Blut isst, gegen den will ich mein Antlitz kehren und will ihn aus seinem Volk ausrotten. Denn des Leibes Leben ist im Blut, und ich habe es euch für den Altar gegeben, dass ihr damit entsühnt werdet …“ (3. Mose 17,10–12)

Das Bluttabu findet sich in der Antike bei vielen Völkern. Es gibt verschiedene kulturhistorische Theorien, warum das Blutverbot erlassen wurde. Der Religionswissenschaftler Pinchas Lapide vermutete, dass ein Blutrausch vermieden werden sollte. Die Vorschrift für das Schächten findet sich nicht in der Thora, sondern im Talmud, in einer Schrift des mittelalterlichen spanischen Philosophen Maimonides sowie im „Schulchan Aruch“ des sephardischen Rabbiners Joseph Karo, einem Handbuch für die richtige Lebensführung.

Als sich im 19. Jahrhundert in Europa eine Tierschutzbewegung zu formieren begann, wurde Tierschutz erstmals mit Antijudaismus verbunden. Der Antisemit Richard Wagner war beispielsweise ein leidenschaftlicher Tierschützer. Schächten wurde in Deutschland als Ausdruck „jüdischer Medizin“ verunglimpft. Der Nationalsozialismus setzte sich propagandistisch für Tierschutz ein, womit Agitation gegen das Schächten einherging. 1933 wurde es unter Strafe gestellt. Juden mussten nun koscheres Fleisch importieren. Die Tierschutzgesetzgebung der Nazis wurde nach 1945 von beiden deutschen Staaten übernommen. Das Töten unbetäubter Wirbeltiere ist nach wie vor untersagt. §4a des deutschen Tierschutzgesetzes sieht allerdings eine Ausnahmegenehmigung für Religionsgemeinschaften vor, denen das Schächten vorgeschrieben ist. Nur daher dürfen Juden in Deutschland schächten. Ein Regelung, die sich mit der einheitlichen EU-Verordnung ab 2013 ändern könnte.

Katja Sindemann geht in ihrem neuen Buch „Götterspeisen. Kochbuch der Weltreligionen“ (metroverlag) auch auf das Thema Schächten ein.

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