Der Rebbe und der NS-Major

So unglaublich es klingen mag: Dass aus der Chabad-Bewegung eine der einflussreichsten chassidischen Gruppen der Welt wurde, ist einem Major der deutschen Wehrmacht zu verdanken. Der US-Historiker Bryan Mark Rigg hat das in einem neuen Buch dokumentiert.
Von Danielle Spera

Unter den wenigen Geschichten von Juden, die vor der Ermordung durch die Nazis gerettet wurden, ist sie sicher eine der bemerkenswertesten. Die Rettungsaktion von Joseph Schneersohn, dem Oberhaupt der chassidischen Sekte der Lubawitscher, war das Ergebnis einer unglaublichen Zusammenarbeit hochrangiger US-Regierungsvertreter mit Soldaten der deutschen Wehrmacht und Funktionären des NS-Regimes. Auf diese verblüffenden Fakten ist der US-Historiker Rigg 2003 bei den Recher­chen zu seinem Buch „Hitler’s Jewish Soldiers“ gestoßen. Er entdeckte den Fall des Majors Ernst Bloch. Bloch war trotz seiner Herkunft auf Empfehlung des Abwehr-Chefs Wilhelm Canaris für „deutschblütig“ erklärt worden.
Ende 1939 begab sich Bloch im Auftrag von Canaris auf eine außergewöhnliche Mission. Er sollte im gerade eroberten Warschau den Lubawitscher Rebbe, Joseph Isaak Schneersohn, finden und zur Flucht in die Vereinigten Staaten verhelfen. Schneersohn war das sechste Oberhaupt der Lubawitscher, ein hoher Geistlicher mit großer Anhängerschaft. Die Initiative zu seiner Rettung ging von den USA aus. Die Sorge um einen einzelnen Rabbiner, zu einem Zeit­punkt, als z. B. die Idee einer Rettung
von 20.000 jüdischen Flüchtlings­kin­dern aus Deutschland abgelehnt wurde, wirft viele Fragen auf. Vor allem vor dem Hintergrund der Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit des amerikanischen Außenministeriums gegenüber jüdischen Einwanderern. Rigg nennt
mehrere mögliche Antworten: Es sei vielleicht eine wirksame Maßnahme der US-Regierung gewesen, die Forderungen nach Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu beschwichtigen, oder es sei geschehen, um das eigene Ansehen mit minimalem Risiko zu erhöhen.
Es sei den Juden in den USA gelungen, den Rebbe als hohen geistlichen Führer darzustellen, etwa vergleichbar mit dem Papst. Allen voran Israel Jacobson, der geschäftsführende Leiter des amerikanischen Chabad, der 1925 in die USA gereist war, um für die Lubawitscher Spenden zu sammeln. Über ihn schreibt Rigg folgende Begebenheit: „Jacobson war leidenschaftlich bis zum Fanatismus. Auf dem Schiff aus Europa wollten er und ein paar Anhänger die Rosh Ha Shana-Gebete sprechen, doch Botschafter Joseph Kennedy, der Vater von John F. Kennedy, der mit demselben Schiff reiste, beschwerte sich über die Störung.“ Außer sich vor Zorn soll Jacobson Kennedy und alle seine männlichen Erben verflucht haben. Spannend beschreibt Rigg die abenteuerliche, von der Abwehr inszenierte Flucht des Rebbe über Riga nach New York. Zentrale Figur ist Major Ernst Bloch, der vermutlich wegen seiner jüdischen Herkunft ausgesucht worden war, Schneersohn zu finden. Bloch und seine Männer durchstreiften inmitten von Chaos und Aufruhr immer wieder die Stadtviertel Warschaus, in denen orthodoxe Juden wohnten. Die meisten Lubawitscher fürchteten sich vor den Wehrmachtssoldaten und verrieten kein Wort. Als er beinahe die Idee aufgab, überhaupt einen Kontakt zu Schneersohn zu bekommen, gab einer seiner Untergebenen ihm den Hinweis: „Sagen Sie erst einmal Schalom. Schalom ist ein gutes Wort.“

Schlüsselszenen

Am 26. November 1939 ist es so weit. Bloch und seine Männer klopfen an die Tür der Wohnung, in der sie den Rebbe vermuten. Die Schlüsselszene des Buches beschreibt, wie die Schneer­sohns und ihre Anhänger bereits mit dem Tod rechnen.„Einige Chassidim fangen an zu weinen. Nacheinander werden die Namen der Aufgereihten verlesen, dann müssen sie sich umdrehen – und erstarren. Denn der befehlsgebende deutsche Offizier drückt jedem von ihnen Reisepapiere in die Hand und erklärt, dass sie diese Dokumente für die Flucht aus Polen bräuchten.“
Dann beginnen die verschlungenen Wege der abenteuerlichen Flucht des Rebben mit seiner Familie, wobei Bloch sprachlos ist, dass sie das Essen, das er für sie organisiert, zurückweisen, weil es nicht koscher ist.
„Diese Verrückten“, murrte Bloch, krank und hungrig, aber essen wollen sie nicht. Wirklich ein seltsames Volk. Sie begreifen nicht mal, wenn ihnen jemand zu helfen versucht.“
Es ist eine merkwürdige Reise­gesell­schaft, die unzählige Kontrollen passieren muss, wobei Schneersohn Bloch einmal fragt, warum er ihnen helfe. Er sei Halbjude, antwortet Bloch, ob er sich auch jüdisch fühle, fragt Schneer­sohn, der in den Augen Blochs aussah wie eine Erscheinung aus der Bibel. Der Rebbe erblickte in Blochs Verhalten einen Beweis für seine jüdische Loyali­tät und eine Rückkehr zu den Ursprüngen. Ausführlich beschreibt Rigg die Flucht nach New York, wo sich der Rebbe mit aller Energie um die Rettung seiner Bücher und seines Hausrates sorgt. Nie sei die Rede davon gewesen, statt der Bücher weitere Juden nach Amerika zu holen, darüber hätten die Lubawitscher nie diskutiert, schreibt Rigg.

Warnung vor Assimilation

Andere orthodoxe Rabbiner hätten sich in Washington für ihre Glaubensbrüder in Europa eingesetzt. Sie konzentrierten sich darauf, Menschenleben zu retten, während der Rebbe überzeugt war, er könne für die Juden in Europa ohnehin wenig tun und sich daher lieber der Rettung jüdischer Seelen in den USA verschrieb. Im Holocaust sah Schneersohn die Strafe Gottes für die vom Glauben abgefallenen Juden. Nur erneuerter Gehorsam gegenüber Gott könnte die Strafe beenden.
Die Haltung des Rebbe stieß bei vielen auf Missfallen. „Warum schwiegen unsere orthodoxen Anführer“, fragt ihn ein jüdischer Philosoph, „warum protestieren sie nicht gegen die Gleich­gül­tig­keit der amerikanischen Regierung?“ Schneersohn antwortete und verwies auf die Nichtjuden, die sich nicht um das Schicksal der Juden scherten. Es gebe Vereinigungen zum Schutz von Katzen, Hunden, vielleicht sogar Mäusen, aber keinen Schutzverein für Juden. Abtrünnige Juden, die den Gehorsam gegenüber Gottes Geboten verweigerten, seien diejenigen, die sich am meisten anstrengen müssten, um Hitlers Völkermord zu beenden. Besonders rätselhaft an der Tatenlosigkeit des Rebbe war, dass er, anders als die meisten amerikanischen Juden, die NS-Gräuel selbst erlebt hatte – wenn auch nur für kurze Zeit.“ Da Schneersohn die Situation vor allem spirituell sah, griff er zu drastischen spirituellen Maßnahmen, schreibt Brigg. „Damit selbst die Kinder begriffen, dass die Welt aus dem Lot war, erließ er ein Süßigkeitsverbot für alle Lubawitscher Kinder, solange die Nazis Juden umbrachten.“
Gleichzeitig warnte er immer wieder vor Assimilation. „Juden, die sich weigern zum Judentum zurückzukehren, müssen zwangsläufig auf den Friedhof zurückkehren. Nur Buße kann uns retten.“ Da der Herr den Holocaust verfügt habe, sollten die Juden die Hoffnung darauf setzen, dass die Lage besser werde, wenn sie Gottes Gebote fortan erfüllten, verkündete Schneersohn 1941. Und weiter: Die Vernichtung der Juden in Europa seien die Geburtswehen des Messias.
Paradoxerweise verdankte Schneer­sohn seine Rettung Männern, deren Familien sich vom Judentum gelöst hatten und die er als Abtrünnige bezeichnete. Die Ansichten des Rebbe zum Holo­caust waren und sind ein heikles Thema. Gott habe einen verbrecherischen Herrscher eingesetzt, damit die Juden wieder auf den richtigen Weg zurückkehrten. Nachdem diese Aussagen viele beunruhigten und verstörten, versuchte sein Nachfolger, Menachem Mendel Schneersohn, die Wogen zu glätten und erklärte: Zu behaupten, die Juden seien mit dem Holocaust für ihre Sünden geschlagen worden, hieße den Namen des Herrn zu entweihen. Der Rebbe hörte dann auf, den Holo­caust als Vergeltung für die Sünden der Juden zu bezeichnen und widmete sich bis zu seinem Tod 1950 seiner spirituellen Aufgabe und der Ankunft des Messias. Sowohl der Rebbe, als auch sein Retter Ernst Bloch erwähnten die Begebenheit mit keinem Wort. Bloch wurde wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen, letztendlich zum Volkssturm eingezogen und Ende April 1945 getötet, als direkt hinter ihm eine Granate einschlug.

Tatenlosigkeit

Die Schlussbetrachtungen in Riggs
Buch zeigen einmal mehr sehr kritisch die Tatenlosigkeit der USA und der anderen Westmächte gegenüber dem Holocaust. Der Wille, jüdisches Leben zu retten, fehlte. Roosevelt sei sich der katastrophalen Situation bewusst gewesen, schien aber angesichts des so folgenschweren historischen Ereignisses gleichgültig. „Den Tod von Millionen Juden zu verhindern war für seine Regierung keine vordringliche Aufgabe. Roosevelt selbst verabscheute Antisemitismus, allerdings wollte er jegliche abträgliche Kritik an seiner Regierung vermeiden.“
Der Leiter der US-Einwanderungs­behörde Breckinridge Long spielte in diesem Zusammenhang eine besonders üble Rolle. Ein Antisemit an diesem wichtigen Posten machte es möglich, dass die USA im Zweiten Weltkrieg für flüchtende Juden abgeriegelt wurden. Allerdings sei es auch nicht zu einem effektiven Protest gekommen. So hebt Rigg hervor, dass auch die Juden in der Umgebung Roosevelts sich kaum für Rettungsaktionen einsetzten und keine Initiative ergriffen.
Auf der anderen Seite steht die Geschichte von Ernst Bloch, der als Sohn eines jüdischen Vaters dem Nazi-Regime diente. Ein Berufssoldat, der schon im Ersten Weltkrieg diente, verwundet und ausgezeichnet worden war, er sah im Militärdienst seine Berufung. Auch er fügt sich nicht nahtlos in die Kategorie Held, Schuft, Opfer oder Täter. Die Geschichte von Bloch und dem Rebben gebe einen kleinen Einblick in die moralische Komplexität des Krieges, schreibt Rigg – eine wundersame, paradoxe und verstörende Geschichte.

Das Buch

Bryan Mark Rigg: Rabbi Schneersohn und Major Bloch. Eine unglaubliche Geschichte aus dem ersten Jahr des Krieges. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Carl Hanser Verlag, München 2006.

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