Der Murer-Prozess

Wie der „Henker von Theresienstadt“ und spätere ÖVP-Bezirksobmann Franz Murer zwar des mehrfachen Judenmordes angeklagt, schließlich aber freigesprochen wurde. Eine unendliche Geschichte an Unglaublichkeiten.
Von Petra Stuiber

Am 19. Juni 1963 hatte es der Angeklagte überstanden: Die acht Geschworenen hatten ihn in 15 Hauptfragen einstimmig freigesprochen, in zwei anderen Fällen stand es vier zu vier – und im Zweifel entschieden sie für den Angeklagten. Damit war Franz Murer in erster Instanz vom Grazer Landesgericht freigesprochen worden. Der Staatsanwalt tat, was er konnte: Er setzte auf die Fortsetzung des Prozesses in der zweiten Instanz und erhob Einspruch gegen Murers Enthaftung wegen „Fluchtgefahr“. Der Gerichtshof lehnte nach kurzer Beratung ab – und das Publikum klatschte begeistert.Als Franz Murer das Landesgericht verließ, tat er es durch ein Spalier jubelnder Menschen, die ihm Blumenstrauß um Blumenstrauß reichten. Draußen stand ein Mercedes. Am Steuer saß Richard Hochreiner, ein Freund Murers, der erst kurz zuvor von der Anstiftung zum neunfachen Judenmord freigesprochen worden war. Er ließ es sich nicht nehmen, Murer sicher nach Hause, auf seinen idyllischen Gaishorner Bergbauernhof, zu chauffieren. Dort verbrachte Murer in Ruhe und Frieden den Rest seines Lebens als Bauer – und als Obmann der Bezirksbauernkammer Liezen und ÖVP-Bezirksparteiobmann.Das war der Schlusspunkt in einem Prozess, den die Grazer Historiker Heimo Halbrainer und Thomas Karny in ihrem Buch „Geleugnete Verantwortung. Der ‚Henker von Theresienstadt‘ vor Gericht“ rundweg als „fortwährenden Skandal“ bezeichneten – und nicht nur sie. 34 Zeugen hatten gegen den Steirer Franz Murer als jenen Mann ausgesagt, der im Ghetto von Wilna als NS-Scherge sein Unwesen getrieben, Menschen gequält und getötet hatte. Zeugen sagten aus, er habe an Erschießungsaktionen gegen Juden ohne so genannten „Arbeitsschein“ teilgenommen, andere berichteten, er sei einfach „aus Spaß“ mit dem Auto in eine Gruppe von Frauen und Kindern gefahren. Trotz sehr präziser Angaben wurden die Zeugen vom Verteidiger durch die Mangel gedreht. Systematisch machte der Verteidiger die Zeugen unglaubwürdig, erzeugte ein Klima der Sympathie für Murer im Gerichtssaal – und das war nur allzu leicht. Die Zeitungen hatten schon vor dem Prozess Stimmung gemacht: „Dass jüdische Zeugen aus den USA und anderen Staaten eingeflogen werden müssen, kostet den österreichischen Staat 75.000 Schilling“, ätzte etwa der „Wiener Montag“.„Zufällig“ wurden etliche Zeugen zu spät geladen oder erhielten das Geld für den Flug gar nicht – und jenen, die doch erschienen, wurde von den österreichischen Behörden nicht eben mit Respekt begegnet. Frauen, die bei Murers Anblick zusammenbrachen oder schrien, wurden vom Richter streng ermahnt – ihre Aussagen von den Geschworenen später als „unvollständig“ oder „unglaubwürdig“ eingestuft. Murers Söhne, die mit dem Gesicht zu den Geschworenen saßen, verspotteten Zeugen, mehrmals gab es spontane Beifallsbekundungen für den Angeklagten. Als ihm Zeugen auf den Kopf zusagten, sie hätten ihm bei der Ermordung von Menschen zugesehen, antwortete er kalt: „Das bin ich nicht gewesen.“ Als das Gericht zur Urteilsfindung zusammentrat und der Richter die Rechtsbelehrung verlesen hatte, erklärte sich ein Geschworener für befangen: Er hatte sich als Angehöriger des NS-„Volkssturms“ geweigert, an Judenerschießungen teilzunehmen. Das Gericht akzeptierte die Befangenheit, was – laut dem Historiker Halbrainer „ein bezeichnendes Licht auf den Umgang der Justiz mit NS-Tätern wirft: Menschen, die sich während des NS-Regimes weigerten, Verbrechen zu begehen, wurden vom Amt der Laienrichter ausgeschlossen.“ Die Ersatzgeschworenen sprachen Murer frei – wohl auch beeindruckt von den prominenten Fürsprechern, die der ÖVP-Mann hatte – nicht nur, aber vor allem in seiner Partei: Vom Bauernbund- über den Dritten Nationalratspräsidenten bis hin zum damaligen Bundeskanzler Gorbach setzte sich die konservative Parteielite für den Angeklagten ein. Und der sozialdemokratische Justizminister Christian Broda sah milde zu. Dabei waren die Verbrechen Murers nicht wegzuleugnen: Der Name Murer tauchte in Ghetto-Liedern auf, ein Zeuge sagte im Prozess aus, sein Erscheinen habe stets bedeutet, „dass gleich etwas Schlimmes passiert“. Franz Murer war als landwirtschaftlicher Verwalter im Ghetto eingesetzt und amtierte als Leiter des Mitarbeiterstabes von Gebietskommissar Hans Christian Hingst. Er war für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und sonstigen Gebrauchsgütern und somit auch für die Ernährung der Juden im Ghetto Wilna zuständig. Nach Kriegsende verschwand er zunächst und lebte völlig unbehelligt in seiner Heimat, wo ihn die Mitbürger als „angesehenen Bürger mit gutem Charakter“ schätzten, wie sein ehemaliger Lehrer beim Prozess aussagte. Vertriebene, die sich im Lager Admont aufhielten, erkannten den reichen Geflügelbauer Murer als ihren Folterer wieder. Simon Wiesenthal nahm sich der Sache persönlich an, und Murer wurde nach einigem Hin und Her 1948 verhaftet – gerade rechtzeitig, er hatte sich eben mit (von Wilnaer Juden geraubtem) Geld und Juwelen aus dem Staub machen wollen. Murer befand sich zunächst in den Händen der britischen, später der sowjetischen Behörden, die ihm schließlich den Prozess machten und Murer für sieben Jahre einsperrten. Dieses Verfahren unterbrach das – zögerlich angelaufene – österreichische Verfahren, das später eingestellt wurde. Erst das Auftauchen und die Aussagen neuer Zeugen führte zur Wiederaufnahme 1963.Und diese Aussagen hatten es wahrlich in sich. Ein ehemaliger Ghetto-Insasse sagte, Murer habe seinen Sohn vor seinen Augen erschossen, ein anderer sagte aus, er habe ein Haus sprengen lassen, in dem sich Menschen befunden hätten. Ein Mann sagte aus, Murer habe seinen Sohn mit einer Peitsche buchstäblich irrsinnig gepeitscht. Nach der Folter durch seinen Peiniger erkrankte der Bub an Schizophrenie. Ein anderer Zeuge wiederum beschuldigte Murer, die Massenerschießungen an Wilnaer Juden 1941 angeordnet zu haben: 3.000 Menschen, die keinen der begehrten „Arbeitsscheine“ besaßen, wurden von den Nazis liquidiert. Murer, so meinte ein weiterer Zeuge, sei in Wilna „der König über Leben und Tod“ gewesen.Historiker Halbrainer in seinem Buch: „Wer es sich leisten konnte, kaufte sich los. Es war bekannt, dass Murer Gold, Schmuck und Wertgegenstände kistenweise nach Gaishorn (seinen Heimatort in der Steiermark, Anm.) schicken ließ.“ Einer der beklemmendsten Momente im Prozess 1963 war die Aussage von Tova Rajzman: „Es war im September 1942. Wir befanden uns auf dem Weg zur Arbeit in der Nähe des russischen Friedhofs am Stadtrand von Wilna. Da kam plötzlich Murer angefahren, sprang aus dem Auto und schrie eine Jüdin an, was sie mit einer Polin zu reden gehabt hatte. Die Frau zeigte Murer ein Stück Brot, das die Polin ihr geschenkt hatte, und bettelte: ,Lassen Sie mir das Brot für meine Kinder.‘ Murer brüllte: ,Ich werde dir schon Brot geben!‘, zog eine Pistole und schoss die Frau nieder. Murer war so wütend, dass er auch auf andere Schüsse abgab. Meine Schwester fiel mir tot zu Füßen. Ihr Blut rann mir über die Füße.“ Die Zeugin schloss aus, dass es jemand anderer als Murer gewesen sein konnte, der ihre Schwester ermordet hatte: „Ich kenne ihn. Er hat mich bei meiner Ankunft im Ghetto von Wilna geschlagen.“ Dennoch wurde Rajzman von den Geschworenen als „unglaubwürdig“ eingestuft – durch einen Fehler in der Übersetzung vom Hebräischen ins Deutsche war eine frühere Aussage über den Vorfall mit 1943 datiert gewesen. So reihte sich im Prozess Unglaublichkeit an Unglaublichkeit, und Murer verließ den Gerichtssaal als strahlender Sieger. Nicht nur bei den gedemütigten Zeugen hinterließ das einen bitteren Nachgeschmack.

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