Der Lieben-Preis

Von Philipp Steger

Heinrich Lieben, ein österreichischer Jude, wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Erst sieben Jahre zuvor hatte er den letzten jährlichen Lieben-Preis, eine noch aus der Monarchie stammende, einzigartige wissenschaftliche Auszeichnung, finanziert. Die Familie Lieben hatte den Preis im Jahre 1862 nach dem Tod von Heinrichs Großvater, dem Wiener Bankier Ignaz L. Lieben, gestiftet. Als die Familie die Auszeichnung schuf, vertraute sie die Verwaltung und Verleihung des Preises einer damals noch verhältnismäßig jungen Einrichtung, der 1847 gegründeten Akademie der Wissenschaften, an. Der großzügig dotierte Preis sollte die Leistungen außergewöhnlicher Physiker und Chemiker aus den Ländern der Monarchie würdigen. Die Fokussierung auf Chemie und Physik war kein Zufall: Der Initiator der Stiftung, Ignaz Liebens Sohn Adolf, war selbst Chemiker. Ihm war allerdings wegen der diskriminierenden Vorschriften des österreichischen Konkordats – Lehrstühle an österreichischen Universitäten waren Katholiken vorbehalten – eine wissenschaftliche Karriere in Österreich lange Zeit verwehrt. Nach vielen Jahren in Italien erhielt er jedoch schließlich als erster Jude Professuren in Prag und Wien.

Der Lieben-Preis zählte zu den prestigeträchtigsten wissenschaftlichen Auszeichnungen, die in der Monarchie zu erlangen waren. Zukunftsweisend war die Auswahl junger Wissenschafter und Wissenschafterinnen, die später zu international anerkannten Experten in ihrem Feld wurden: So erhielten immerhin vier der Lieben-Preisträger, Fritz Pregl, Otto Loewi, Karl von Frisch und Viktor Hess, später den Nobelpreis. Lise Meitner, Felix Ehrenhaft, Josef Stefan und der Mathematiker Josip Plemelj waren weitere herausragende Wissenschafter, deren frühe Leistungen mit dem Lieben-Preis ausgezeichnet wurden.

Der Lieben-Preis wäre beinahe ein indirektes Opfer der großen Inflation des Jahres 1923 geworden, als das Stiftungsvermögen drastisch an Wert verlor. Aber wieder war es die Familie Lieben, die, obwohl selbst in keiner leichten wirtschaftlichen Lage, den Preis weiterführte, indem sie einen jährlichen Betrag von tausend Schilling für die Verleihung des Preises spendete.

Was die weltweite Wirtschaftskrise nicht zu zerstören vermochte, gelang den Nazis mit grausamer Effizienz und Gründlichkeit. Das Ende dieses Preises, der wie kaum ein anderer die Vielfalt und das wissenschaftliche Potential der Monarchie und ihrer Völker symbolisierte, leitete die provinzialisierende Einengung österreichischer Intellektualität und die auf Jahrzehnte nicht wieder gutzumachende Zerstörung des geistigen Reichtums des Landes ein.

Das Schicksal von Marietta Blau, einer der herausragendsten österreichischen Physikerinnen und Preisträgerin des letzten Lieben-Preises, steht für das Schicksal unzähliger Wissenschafterinnen. Marietta Blau hatte gemeinsam mit ihrer Studentin Hertha Wambacher den letzten Lieben-Preis erhalten und war als Jüdin 1938 gezwungen, Österreich zu verlassen. Mit Albert Einsteins Hilfe erhielt sie eine Stelle an der Universität von Mexiko-City. Das rettete ihr zwar das Leben, aber die Umstände in Mexiko, wo sie von ihren wissenschaftlichen Kollegen isoliert war, bedeuteten auch das Ende dieser Karriere, die so vielversprechend begonnen hatte. Daran änderte sich auch nichts durch ihre Rückkehr nach Österreich nach dem Krieg. Blau starb einsam und unbekannt im Österreich der Nachkriegszeit.

Die Wissenschafter auf den Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand des kleinen Besprechungsraums an der Technischen Universität Wien blicken ernst und gelehrt drein – genau so, wie man sich als Laie Wissenschafter gerne vorstellt. Es sind natürlich alles Männer, denn die TU Wien ist nach wie vor eine von Männern dominierte Welt: Im Jahre 2001 stellten die Frauen in der Professorenschaft lediglich drei Prozent. In diesem etwas nüchtern wirkenden Raum, unter der mahnenden Aufsicht wissenschaftlicher Genialität in Schwarz-Weiß, sitzt eine Gruppe von Männern um einen Tisch herum, auf dem eine unsichtbare Hand Kekse, Tee und Kaffee vorbereitet hat. Es ist ein ungewöhnlich warmer Tag im März, und diese Männer – unter ihnen Christian Noe, der Dekan der Fakultät für Naturwissenschaften und Mathematik der Universität Wien, und Arnold Schmidt, der ehemalige Präsident des Wissenschaftsfonds – haben sich bereit erklärt, mir darüber zu erzählen, wie sie und andere den Ignaz-L.-Lieben-Preis wieder ins Leben gerufen haben.

Einer der Männer ist der Chemiker und Wissenschaftshistoriker Robert Rosner, der die Initiative zur Wiederbelebung des Lieben-Preises startete. Rosner verließ Österreich 1939 mit einem der  Kindertransporte, mit denen insgesamt beinahe 10.000 vorwiegend jüdische Kinder in Sicherheit nach England gebracht wurden. Nach dem Krieg kehrte Rosner nach Österreich zurück, erwarb ein Doktorat in Chemie an der Universität Wien und begann für ein Chemieunternehmen zu arbeiten. Nach seiner Pensionierung studierte Rosner Politikwissenschaften und Wissenschaftsgeschichte. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Chemie in Österreich weckte sein Interesse am Lieben-Preis. Im Zuge seiner ausgiebigen Recherchen zur Geschichte des Preises kam er bald auf die Idee, mit der Hilfe von Sponsoren den Preis wieder ins Leben zu rufen. Gemeinsam mit anderen begann er die Suche nach möglichen Sponsoren. Dann kam Alfred Bader ins Spiel.

Im Jahre 2003 fand in Wien ein Symposium mit dem Titel „Österreich und der Nationalsozialismus – die Folgen für die wissenschaftliche und humanistische Bildung“ statt. Unter den Teilnehmern waren auch Wissenschafter – unter ihnen die Nobelpreisträger Walter Kohn und Eric R. Kandel -, die als Kinder aus Österreich fliehen mussten. Einer von ihnen war Alfred Bader, für den die Konferenz ein starkes Signal war, dass man in Österreich ernsthaft daran interessiert ist, sich mit der eigenen Geschichte auseinander zu setzen. Bader, ein ehemaliger österreichischer Flüchtling, der heute in Milwaukee/Wisconsin lebt, erinnert sich sehr gut an seine Jugend in Wien. So erzählt er von der gemeinsamen Schulzeit mit Carl Djerassi, der ebenfalls aus Österreich flüchten musste und später unter anderem als Erfinder der Pille internationale Bekanntheit erlangte. „Ich bin mit dem Karl acht Jahre lang zur Schule gegangen. Seine Familie hatte einen Pingpongtisch zu Hause, wo ich Pingpong lernte.“ Baders Jugend war jedoch von kurzer Dauer: Ein Kindertransport brachte den erst 14-Jährigen nach England. Aber auch dort konnte er nicht lange bleiben. Obgleich er ein aus Österreich vertriebener Jude war, wurde er als „enemy alien“ nach Kanada deportiert, wo er chemische Verfahrenstechnik an der Queen’s University studierte. Nach dem Doktorat an der Harvard-Universität blieb er in den USA und gründete ein Chemieunternehmen, die Firma Aldrich. Das Unternehmen – nach einer Fusion heißt es Sigma-Aldrich – ist heute der weltweite Marktführer im Chemikalienbereich. Seit Bader das Unternehmen 1992 verließ, widmet er sich dem Sammeln alter Meister, einer Leidenschaft, die ihn seit seiner Jugendzeit begleitet. Neben seiner Galerie in Milwaukee sind es aber vor allem seine zahlreichen philanthropischen Tätigkeiten, die den heute 80-Jährigen beschäftigen. „Bobby und ich sind seit dreißig Jahren befreundet“, erzählt Alfred Bader über Rosner. Die beiden lernten einander beruflich kennen, als Rosner noch für Loba Chemie arbeitete. Als ihm Rosner im Umfeld des Symposiums über den Lieben-Preis und seine Absicht erzählte, den Preis wieder ins Leben zu rufen, war Bader sofort von der Idee angetan. Das war kaum überraschend, denn Bader hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche andere wissenschaftliche Unternehmungen, unter anderem die Einrichtung des Josef-Loschmidt-Lehrstuhls in Brünn, finanziert.

Baders Bereitschaft, den Lieben-Preis zu stiften, spiegelt allerdings eine deutliche Veränderung in seiner Wahrnehmung über Österreich wider. „Als ich nach dem Krieg manchmal nach Österreich kam, wäre es für mich undenkbar gewesen, einen Preis für Österreicher zu stiften. Immer, wenn ich einen Österreicher traf, der älter war als ich selbst – ich bin 1924 geboren -, musste ich mich fragen, was diese Person 1938 wohl getan hatte. Allerdings sind inzwischen die meisten der alten Nazis gestorben, und ich spüre, dass die jüngeren Generationen bessere Menschen sind.“ Bader erzählt von einem Freund, einem gläubigen Katholiken und Gegner der Nazis, der die Kriegsjahre in Dachau verbrachte: „Immer, wenn ich ihn nach dem Krieg besuchte, sprachen wir über die Österreicher, und wir waren uns einig, dass es viele gute Österreicher gab, aber einfach nicht genug von ihnen.“ Und dann waren da natürlich diejenigen, deren Beweggründe heute schwer nachzuvollziehen sind, wie einer der ehemaligen Professoren Baders im Wiener Gymnasium: „Er war ein wunderbarer Professor, der obwohl Mitglied der NSDAP, uns jüdische Schüler sehr gut behandelt hat. Ich habe ihn 1949 besucht, und er hat mir erzählt, dass er sich unter dem Dritten Reich etwas ganz anderes vorgestellt hatte.“

„Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“, antwortet ein erfreuter Alfred Bader, als ich ihn an einem Freitagnachmittag im Mai zur vereinbarten Zeit anrufe. Wir hatten E-Mails hin und her gesendet, um einen Termin für das Telefoninterview zu vereinbaren, und Alfred Bader hatte es in seiner Umsicht nicht verabsäumt, mich auf den Zeitunterschied zwischen Washington und Milwaukee hinzuweisen. Bader, Gründer eines milliardenschweren Unternehmens und ungewöhnlich großzügiger Philanthrop – er kaufte beispielsweise ein Schloss in England für seine Alma Mater -, beantwortet geduldig meine Fragen und erklärt vermutlich zum x-ten Mal, aber immer noch mit einer Stimme voll Enthusiasmus und Überzeugung, seine Motivation, die Neuauflage des Lieben-Preises zu stiften. Er erwähnt dabei gerne seine Vorfahren: Einer von ihnen, Graf Johann Carl Serényi, war einer der Verteidiger Wiens bei der Türkenbelagerung im Jahre 1683; und Baders Großvater, Moritz Ritter von Bader, wurde von Kaiser Franz Joseph geadelt. Und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, betont Bader: „Meine Wurzeln sind in der österreichischungarischen Monarchie.“ Die Wertschätzung für diese Monarchie, die zu Baders Geburt bereits der Vergangenheit angehörte, hat Bader von seiner Tante und späteren Adoptivmutter Gisela Reich. Als Bader mit dem Kindertransport Wien verließ, blieb seine Tante, eine glühende Patriotin und loyale Anhängerin des Kaisers, in Wien und wurde später in Theresienstadt ermordet. Es sind diese tief in die Monarchie hineinreichenden Wurzeln, die Alfred Bader veranlassten vorzuschlagen, dass der Preis an Wissenschafter der Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie vergeben wird, also an Molekularbiologen, Chemiker und Physiker aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, der Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Österreich. „Der Preis kommt damit zu einer politisch interessanten Zeit, in der die Erweiterung der EU jene Länder, die ehemals Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie waren, in einer europäischen Unternehmung von nie da gewesenem Ausmaß zusammenbringt. Ich denke, dass es bedeutsam ist, dass die Auszeichnung in all den verschiedenen Sprachen dieser Länder angekündigt wurde, und ich hoffe, dass tatsächlich viele Wissenschafter aus diesen Ländern den Preis erhalten“, erklärt Bader.

Am 8. Juni 2004 traf sich das Auswahlkomitee, um über die Vergabe des ersten Lieben-Preises seit 1937 zu entscheiden. Der Preis ist mit 18.000 US-Dollar dotiert und wird im Rahmen einer Reihe von Feierlichkeiten und eines Symposiums von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am 9. November vergeben werden.

Eines ist schon jetzt sicher: Wie in der Vergangenheit werden auch diesmal die Preisträger Nachwuchsforscher und -forscherinnen sein. „Wir brauchen sicher keinen Preis, um die Leistungen der über Sechzigjährigen zu honorieren“, erläutert Arnold Schmidt. Und Robert Rosner fügt hinzu: „Wir hoffen, dass die Preisträger eines Tages weltberühmt sein werden.“

Im Besprechungsraum der TU Wien sind die Wissenschafter, die Rosner mit seiner Initiative zusammengebracht hat, am Ende ihrer Erzählungen über den Lieben-Preis angelangt und haben begonnen, über andere historische Projekte zu sprechen, die sie noch planen. Keiner von ihnen zweifelt daran, dass Österreich mehr Bewusstsein hinsichtlich seiner eigenen Wissenschaftsgeschichte entwickeln sollte. Sie alle sind überzeugt, dass uns unsere Geschichte viel lehren kann.

Am Ende des Treffens, nachdem die anderen gegangen sind, nimmt sich Arnold Schmidt, der den Termin organisiert hat, die Zeit, um mir zu erklären, wer die fremden Wissenschafter auf den Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand sind. Schmidt ist auch nach der jahrelangen Leitung des Wissenschaftsfonds, Österreichs zentraler Einrichtung für die Förderung der Grundlagenforschung, immer noch ein viel beschäftigter Mann. Und während er mir die Namen der Männer an der Wand nennt – Namen, die ich vermutlich alle kennen sollte -, denke ich mir, dass es keine schlechte Welt ist, wo sich Menschen noch Zeit nehmen für solche Sachen.

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