„Der Krieg in der Ukraine weckt Emotionen und Ängste“

©ESRA Psychosoziales Zentrum

Medizin, Sozialarbeit, Psychiatrie oder Psychologie: Das psychosoziale Zentrum ESRA der Israelischen Kultusgemeinde hilft Jüdinnen und Juden bei der Bewältigung traumatisierender Ereignisse. Ein breit gefächertes Angebot, mit dem aktuell jüdischen Geflüchteten aus der Ukraine geholfen wird.

VON SAVANKA SCHWARZ

Derzeit bieten ESRA-Mitarbeiter zweimal wöchentlich ihre Unterstützung im Hotel Orangerie im 12. Wiener Bezirk an, wo ausschließlich jüdische Geflüchtete aus der Ukraine untergebracht sind. Wie gelingt es, Menschen in diesem Ausnahmezustand allgemeinmedizinisch, psychisch und sozial zu unterstützen? Wird die Hilfe angenommen? Können sprachliche Hürden überwunden werden? NU hat bei einer Fachärztin für Psychiatrie, einem Sozialarbeiter und einer Krankenpflegerin nachgefragt.

Andrea Gresznaryk, Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin

Andrea Gresznaryk, Fachärztin für Psychiatrie: „Der Mehrheit kann ich zurzeit wenig psychiatrisch helfen. Die Menschen können noch nicht darüber reden.“ ©Savanka Schwarz

Ich bin wöchentlich im Hotel Orangerie und sehe, dass es sehr wenig Bedarf an psychiatrischer Hilfe gibt. Momentan. Schwer traumatisierte Menschen sprechen selten unmittelbar nach einem Trauma darüber, sondern sie spalten es eher ab. Die Spannungen, die mit dem Trauma zusammenhängen, zeigen sich eher in körperlichen Symptomen.

Wenn ich die Geflüchteten auf die Kriegserfahrungen anspreche, sehe ich, dass sie ungern darüber reden. Aber die meisten haben welche gemacht, denn sie sind ja nicht im Voraus geflüchtet, sondern haben Sirenenalarme oder Bombenanschläge erlebt. Ich habe beispielsweise einen Buben behandelt, der permanent Sirenen imitiert hat und mit seinen Händen schießende Gewehre nachgestellt hat. Im Grunde hat er Krieg nachgespielt. Seine Eltern und er kommen jetzt regelmäßig in Behandlung. Aber der Mehrheit kann ich zurzeit wenig psychiatrisch helfen. Die Menschen können noch nicht darüber reden. Sie leiden eher unter Schlafstörungen oder körperlichen Symptomen. Laut Statistiken entwickeln rund 50 Prozent der Menschen, die Kriegserlebnisse mitbekommen haben, eine posttraumatische Belastungsstörung. Das bedeutet eine langfristige Störung, nicht nur eine akute. Die psychischen Symptome sind vor allem: deutlicher emotionaler und sozialer Rückzug, Flashbacks, Albträume und eine erhöhte Schreckhaftigkeit. Langfristig kann dieser Zustand zu andauernden psychischen Störungen und zur Entfremdung von anderen Menschen führen, wodurch die ganze Symptomatik wiederum verstärkt wird.

Gerade bei der älteren Generation, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat oder bei Menschen, deren Eltern von der Shoah betroffen waren, weckt der Krieg in der Ukraine sehr heftige Emotionen und Ängste. Ich merke das bei meinen Patienten, die schon seit längerer Zeit in Behandlung sind. Hier findet eine Verschlechterung der Angstsymptomatik statt. Aber es kommen aktuell auch neue Patientinnen und Patienten, die noch nie bei ESRA waren und berichten von solchen Emotionen.

In vielen Flüchtlingsheimen gibt es ebenfalls psychologische Hilfeleistungen. Das ist eine große Herausforderung, viele Kassenärzte haben jetzt schon lange Wartelisten. Dazu kommen die sprachlichen Barrieren, die vor allem bei einer Gesprächstherapie eine große Rolle spielen. Gerade bei traumatisierten Menschen ist die Stabilität des guten sozialen Netzwerks sehr wichtig. Sie müssen spüren, dass es Unterstützung gibt und dass sie Hilfe bekommen können. Das sind wichtige Faktoren, um eine posttraumatische Belastungsstörung zu bewältigen.

Maximilian Zirkowitsch, Sozialarbeiter

Maximilian Zirkowitsch, Sozialarbeiter: „Die jüdische Gemeinschaft hilft sehr engagiert dabei, die jüdischen Geflüchteten rasch zu integrieren.“ ©Savanka Schwarz

Wir vermitteln den Geflüchteten, dass sie nicht alleine sind, sondern sich auf unsere Unterstützung verlassen können. Das gibt ihnen Halt. Die Menschen werden durch die Flucht und den Eintritt ins Fremdenrechtssystem zwangsweise zur Klientel für Sozialarbeit gemacht. Doch damit hatten die meisten vorher keinen Kontakt, deshalb gibt es anfangs manchmal Hemmschwellen. Wir kümmern uns darum, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer rasch den Flüchtlingsstatus erhalten, da diverse staatliche und Versicherungsleistungen daran gekoppelt sind. Wir klären sie über rechtliche Rahmenbedingungen auf, begleiten sie zu Amtswegen, kümmern uns um Unterkünfte und beraten sie in Bildungs- oder Berufsfragen. Wir bieten auch sogenannte Perspektivengespräche an, in denen besprochen wird, ob die Geflüchteten längerfristig in Wien bleiben wollen. Es gibt zum Beispiel Leute, die sehr gut Englisch sprechen, aber gar kein Deutsch. Die wollen oft weiter in die USA. Die jüdische Gemeinschaft hilft sehr engagiert dabei, die jüdischen Geflüchteten rasch zu integrieren. Viele Mitglieder stellen Wohnungen oder Zimmer bereit. Wien hat aber auch eine ausgeprägte Infrastruktur, die auf die Bedürfnisse von Jüdinnen und Juden ausgerichtet ist. Beispielsweise haben jüdische Schulen in Wien sofort Klassen für Geflüchtete bereitgestellt. Hier gibt es auch genügend Personal, das russisch oder ukrainisch spricht.

Marlene Döltl, psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflegerin

Marlene Döltl, psychiatrische Gesundheitspflegerin: „Momentan steht die Abdeckung der Grundbedürfnisse im Vordergrund.“ © SAVANKA SCHWARZ

Sozialarbeit wird vermutlich momentan am häufigsten in Anspruch genommen, aber auch die Leistungen der Allgemeinmedizin. Viele der Patientinnen und Patienten haben bestehende Grunderkrankungen und benötigen medizinische Versorgung. Da die Menschen zum Glück Wohnungen beziehen können, diese jedoch in unterschiedlichen Bezirken sind, schauen wir, dass sie in der Umgebung in niedergelassenen Allgemeinpraxen gut versorgt sind. Unser Angebot, mehrmals wöchentlich im Hotel Orangerie vor Ort zu sein, wird sich voraussichtlich langsam reduzieren. Wir vermitteln den Menschen allerdings, dass die Hilfeleistungen in unserem Zentrum im 2. Bezirk weiterhin zur Verfügung stehen. Man spürt bei allen Geflüchteten die psychische Belastung. Doch momentan steht die Abdeckung der Grundbedürfnisse im Vordergrund. Und erst, wenn das gesichert ist, dann kommt die Zeit, wo genügend Raum vorhanden ist, sich dem Trauma zu widmen. Zum Glück haben wir in ESRA einen russisch sprechenden Kollegen, der jedoch leider auch begrenzte Ressourcen hat. Ansonsten sind wir mittlerweile gut organisiert mit Dolmetschern. Dennoch bleibt das immer noch eine Herausforderung!

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