Der immerwährende Mythos

Österreich ist ein kleines Land im Herzen Europas, dessen Bewohnern die Vergangenheit oft wichtiger ist als die Zukunft. Die Neutralität als gut verwaltetes Erbe – ist das nun gut oder schlecht? ©RAWPIXEL

Der russische Angriff auf die Ukraine hat zu einer neuen Diskussion über die österreichische Neutralität geführt. Während Schweden und Finnland in die NATO drängen, gilt die Neutralität hierzulande als politisch nahezu unantastbar. Zwei Beiträge zur aktuellen Debatte.

Für eine aktive Neutralität Österreichs

VON RUDOLF SCHOLTEN

Die Neutralität bleibt unbezweifelt, solange sie nicht auf der Probe steht – und wird dubios, wenn es gerade auf sie ankommt. Sie wird an Festtagen zum Glaubensbekenntnis hinauflizitiert und an Tagen, wo sie nottut, zum Symbol der Feigheit heruntergemacht. Entkleiden wir die Neutralität ihrer mythologischen Überladung. Häufig werden Phänomene, die man pragmatisch fest in der Vernunftordnung verankern könnte, durch Glorifizierungen der Diskussion entzogen und locken gerade deshalb im Akutfall den Widerstand.

Wenn eines weder unser Verdienst noch unsere Schuld ist, dann ist es die Größe und geografische Lage unseres Landes. Ein kleines Land inmitten Europas, das ist weder gut noch schlecht, es ist schlicht die Realität. Wir sind gemeinsam mit der neutralen Schweiz ausschließlich von NATO-Ländern umgeben. Das ist die Ausgangsposition unserer Diskussion. Die erste Frage ist, ob das Konzept der Neutralität der Welt an sich guttut oder schadet. Würde man zum Thema der Bekämpfung der Klimakrise die Frage stellen, ob die Nichtteilnahme eines kleinen Landes schadet oder nützt, wäre die Antwort wohl: Selbst wenn unser Beitrag im Weltmaßstab nicht bedeutsam ist, müssen alle uneingeschränkt mitmachen, um gemeinsam das Ziel zu erreichen.

Stellt man die gleiche Frage zum militärischen Spielraum eines Landes, kommt man zur Antwort, dass mehr militärische Neutralität die Sicherheit auf dieser Welt tendenziell erhöhen würde, gegenüber der gegenteiligen Annahme, dass kein einziges Land militärisch neutral ist. Die Position, die Neutralität feierlich zu bejahen, wenn sie gar kein Thema ist und zu bezweifeln, kaum wird sie relevant, ist jedenfalls kein staatspolitisch verantwortungsvoller Standpunkt. Die Neutralität durch ein Diskussionsverbot schützen zu wollen, ist ebenfalls eine inadäquate Therapie. Sie auf das Podest der Unantastbarkeit zu stellen, löst den Ehrgeiz aus, sie in Frage zu stellen. Sie als Preis für den Staatsvertrag zum ungeliebten Erbe der jüngeren Geschichte zu degradieren, macht sie klein und unattraktiv.

Es ist kein Zufall, dass die österreichische Neutralität mit dem Zusatz „aktiv“ zu verstehen ist. Wenn ein Land erklärt, außer zur Selbstverteidigung keine militärischen Mittel einzusetzen, ist das ein marginaler Beitrag zur internationalen Friedenssicherung. Zugleich setzt man sich dabei dem Vorwurf der mangelnden Solidarität und Hilfsbereitschaft aus.

Wenn ein Land seine aktive Neutralitätspolitik dadurch belebt, sich bei Konflikten überproportional zu engagieren, dann kann daraus ein Zusatznutzen entstehen, der den Wert militärischer Parteinahme bei weitem übersteigt. Das heißt, dass die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Neutralität nur durch die Bewertungen ihres internationalen Engagements zu beantworten ist: Dazu gehört eine aktive Politik als Vermittler zur Wiederherstellung von Frieden bis hin zur Teilnahme an militärischen Aktionen zur Friedenssicherung, dazu gehört auch eine engagierte Aufnahme von Opfern aus Kriegsregionen und jede Form der Hilfe für Betroffene.

Vom Mittleren Osten über den Balkan bis nach Afrika genießen die österreichischen Soldaten und Soldatinnen für ihren Beitrag zur Erhaltung von Frieden einen hervorragenden Ruf. Der beste Dienst, den man der Neutralität tun kann, ist es, den Zusatz „aktiv“ sehr ernst zu nehmen. Wenn international festgestellt wird, dass der Beitrag eines neutralen Österreichs einen willkommenen und wesentlichen Zusatznutzen schafft, dann hat die Neutralität ihren Wert bewiesen.

Selbstverständlich muss das österreichische Bundesheer in seiner Fähigkeit gestärkt werden, die Verteidigung unseres Landes glaubhaft übernehmen zu können. Es ist fragwürdig, die Wahrscheinlichkeit zu beurteilen, in welchem Ausmaß unser Land von militärischen Angriffen bedroht ist, weil historisch die realen Gefahren in ihrer Dimension häufig kurz davor noch nicht als relevant erkennbar waren.

Die Schweiz legt bei präziser Beachtung ihrer neutralen Prinzipien Wert darauf, im Ernstfall der Selbstverteidigung ihre Systeme mit denen der NATO verbinden zu können. Diesem Konzept liegt die Annahme zugrunde, dass ein Angriff auf die Schweiz, ohne zugleich umliegende NATO-Staaten anzugreifen, kaum denkbar ist. Wenn wir Neutralität ernst nehmen, dann muss unser Ehrgeiz sein, sie als Element aktiver Unterstützungen und Außenpolitik zu leben. Nur wenn wir diesen Ehrgeiz nicht mehr erfüllen können oder wollen, verliert sie ihren Sinn und Nutzen. Wenn man diesem Faden folgt, wäre die Aufgabe der Neutralität eine kapitale Niederlage unseres Landes, seine internationale Verantwortung wahrzunehmen.

Dies alles gilt für Österreich und nicht für andere Länder, die eine Neutralitätsdebatte führen, weil die geografische Situation und die historische Neutralitätsentscheidung Österreichs mit anderen zu diesem Thema nur sehr eingeschränkt vergleichbar sind. Die Neutralität macht für Österreich sehr viel Sinn, wenn sie nicht als historisches Erbe verstanden wird, sondern als moderne Politikaufgabe.

Also: Neutralität JA, wenn der Auftrag, sie aktiv zu gestalten, ernsthaft wahrgenommen wird.

Rudolf Scholten ist Präsident des Bruno-Kreisky-Forums.

Für eine neue österreichische Sicherheitspolitik

VON MARTIN ENGELBERG

Halten wir vorweg noch einmal einige Fakten fest.

Erstens verlangte die Sowjetunion im Zuge der Staatsvertragsverhandlungen die Neutralität Österreichs als Preis für den Abzug ihrer Truppen. Österreichs Neutralität war also rein opportunistisch und stand im Gegensatz zu Deutschland unter Konrad Adenauer, das diesen Weg nicht gehen wollte, um die Bundesrepublik fest im Westen und in der NATO verankern zu können.

Zweitens diente die Erklärung der Neutralität „nach dem Muster der Schweiz“ dazu, klarzustellen, dass sich Österreich eindeutig den westlichen Werten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft – wie eben die Schweiz – zurechnen würde. Mit Neutralität war also nicht Gesinnungsneutralität oder ein „dritter Weg“ zwischen West und Ost gemeint.

Drittens wurde die Neutralität ausdrücklich nicht Bestandteil des Staatsvertrages, womit Österreich von den Alliierten nicht für seine Neutralitätspolitik zur Rechenschaft gezogen werden konnte und kann.

Viertens hat Österreich seine Neutralität der Völkergemeinschaft bekanntgegeben – sie ist jedoch durch keinen internationalen Vertrag garantiert, sondern eine einseitige Erklärung Österreichs.

Wie stellt sich die Situation Österreichs heute dar? Österreich – lautet zumeist das erste Argument – sei mit der Neutralität sehr gut gefahren. Sie habe uns über Jahrzehnte Frieden und Wohlstand gebracht. Dem ist entgegenzuhalten, dass unser heutiger Wohlstand durch die Großzügigkeit der USA mittels des Marshall-Plans begründet wurde, sich parallel und mit den anderen westlichen – aber nicht neutralen – marktwirtschaftlichen Ländern entwickelt hat und wir uns schließlich über Jahre und Jahrzehnte hinweg, wie Schwarzfahrer, viel Geld erspart haben, das andere für unsere Sicherheit ausgegeben haben. Denn gesichert und bezahlt wurde der Friede in Europa durch die USA und die NATO.

Österreich hätte sich als Brückenbauer, als Ort der Begegnung bewährt, wird weiters behauptet. Dies bezeichnet die frühere ÖVP-Außenministerin Ursula Plassnik als Selbstüberschätzung, die an Selbstbetrug grenze: „Wie soll denn Diplomatie einen Angriffskrieg, eine Cyberattacke, die unser Gesundheitssystem lahmlegt, oder das Abdrehen eines Gashahns stoppen?“, fragt sie – völlig zu Recht – jüngst in einem Interview.

Schließlich wird oft argumentiert, Österreich sei heute ohnehin praktisch zur Gänze von NATO-Staaten umgeben und dadurch geschützt. Das ist schon eine ziemliche Chuzpe. Es sollen also heute Staaten wie Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien für unsere Sicherheit – vor allem nach Osten hin – bezahlen. Und wir wollen uns für alle Zukunft darauf verlassen, dass sie dies auch immer tun werden. Ernsthaft?

Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Der 24. Februar 2022, der Tag, an dem Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, wird als „Super 9/11“ für Europa in die Geschichte eingehen. So wie der Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 das Ende der Nachkriegsordnung darstellte, bedeutet der 24. 2. 22 das Ende des darauffolgenden „Honeymoons“. Angesichts der globalen Bedrohung der Länder der westlichen Welt durch totalitäre, undemokratische, expansionistische und kriegerische Regimes wie vor allem Russland und China kann sich kein westliches Land einer sicherheitspolitischen Debatte und Positionierung entziehen – auch Österreich nicht.

Wenn sich Finnland – mit der „Finnlandisierung“ der Inbegriff einer strikten Neutralität – und Schweden, das eine viel längere Tradition der Neutralität besitzt als Österreich, zu einem NATO-Beitritt entschließen, dann ist das sicher nicht wegen der gemeinsamen Grenze bzw. einer größeren geografischen Nähe zu Russland. Dieser Entschluss ist vielmehr dem Umstand geschuldet, dass die Freiheit und Sicherheit dieser Länder nur durch den Beitritt zu einem Verteidigungsbündnis, wie die NATO es ist, gewährleistet werden kann. Und eben nicht durch Neutralität oder gratis durchschummeln.

Sogar in der Schweiz, auf die wir uns ja immer berufen, findet eine Diskussion über die Neutralität statt. So argumentiert der renommierte Schweizer Rechtsprofessor René Rhinow in der NZZ, heute wären Nationalstaaten kaum mehr in der Lage, sich autonom zu verteidigen: „Sie sind auf Kooperationen, Rüstungszusammenarbeit und Interoperabilität angewiesen, die notgedrungen Parteinahmen mit einschließen muss. Neutralität gegen unsere Interessen und auf Kosten der eigenen Sicherheit kann und soll es nicht geben“, schreibt er.

Es gibt zwei unterschiedliche Lehren, die man aus den Gräueln des Zweiten Weltkriegs ziehen kann. Die eine ist der Ruf: Nie wieder Krieg! Die andere ist: Nie wieder dulden wir verbrecherische Regime, Gewaltherrschaft und Völkermord. Und dafür müssen wir bereit sein zu kämpfen und uns sowie unsere Werte zu verteidigen.

Martin Engelberg ist Abgeordneter zum Nationalrat (ÖVP).

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