Der Besuch des Hitlerjungen Salomon

Salomon Perel konnte dem Tod durch die Nationalsozialisten entkommen, weil er seine jüdische Identität verleugnete. Über sein Leben und die Last von zwei gespaltenen Seelen sprach er in Wien vor Erwachsenen und Schülern.
Von Peter Menasse

In diesem Menschen stecken zwei Identitäten, er ist heute vor allem – und immer noch mit jedem Tag ein wenig mehr – Salomon „Sally“ Perel, aber er ist auch noch ein Stück weit Josef „Jupp“ Peters. Der eine ist Jude, der andere ist Hitlerjunge.

Auf Einladung des Stadttheaters Walfischgasse sprach an einem Sonntag im November 2011 Salomon Perel mit Peter Huemer über seine Geschichte, die einer der unglaublichsten in der Reihe der tragischen Schicksale von Menschen während des Holocausts war. Am nächsten Tag erfüllte er sich dann den Wunsch, vor Jugendlichen in einer Wiener Schule über sein Leben zu berichten.

Der 1925 geborene Salomon Perel flüchtete bald nach Hitlers Machtergreifung in das polnische Łódz. Als diese Stadt nach dem Hitler-Stalin- Pakt an die Deutschen fiel, ging die Flucht weiter in das russische Minsk. Aber auch dort ereilten ihn die braunen Horden. Die Bevölkerung Minsks wurde auf ein Feld getrieben und dort von den Nazis in verschiedene Gruppen eingeteilt. Die Juden wurden sofort in einen nahe gelegenen Wald gebracht und erschossen. Salomon, gerade einmal 16 Jahre alt, stand vor der Entscheidung zwischen Tod und Lüge. Sein Überlebenstrieb ließ ihn auf die Frage eines deutschen Soldaten „Bist du Jude?“ lächelnd sagen, „Nein, ich bin Volksdeutscher.“ Da er perfekt Deutsch sprach, war er doch in Norddeutschland aufgewachsen, glaubte man ihm und setzte ihn wegen seiner Russisch-Kenntnisse als Dolmetsch ein. Später wurde er in eine HJ-Schule in Braunschweig versetzt und zum „Hitlerjungen“ ausgebildet.

Es begann ein täglicher Kampf um das Überleben mit Hilfe der Lüge, der ihn bis heute prägt. Er musste zum authentischen, zum echten Hitlerjungen werden, um nicht in Gefahr zu geraten, seine jüdische Identität zu verraten. Perel schaffte das Unglaubliche und brauchte dann vierzig Jahre, bis er in der Lage war, seine Geschichte zu reflektieren. Er fasste seine Erinnerungen in einem Manuskript zusammen, das 1989 unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“ von der Regisseurin Agnieszka Holland verfilmt wurde und 1992 als Buch unter „Ich war Hitlerjunge Salomon“ erschien.

Seine beiden Wiener Auftritte im Stadttheater Walfischgasse und im Bundesrealgymnasium Waltergasse im vierten Bezirk waren in ähnlicher Weise berührend und doch auch sehr unterschiedlich.

Peter Huemer gelang es hervorragend, mit der ihm eigenen Empathie und Akribie, gemeinsam mit Sally Perel in die grausame Absurdität eines jungen Lebens in ständiger Bedrohung und Verleugnung einzutauchen. Ein paar Leute im Publikum waren in der anschließenden Fragerunde allerdings deutlich weniger sensibel als die Protagonisten. Da wurde Perel beispielsweise von einer Dame vorgeworfen, kein Held gewesen zu sein. Eine andere zerfloss in Tränen und zitierte Bibelstellen. Beides ließ ihn merkbar ratlos zurück, auch wenn er darauf fertige Antworten hatte, die zeigten, dass ihm von seinen vielen Lesereisen so manche seltsame Reaktion bekannt war.

Im Gymnasium Waltergasse hatten sich am nächsten Tag achtzig Schülerinnen und Schüler versammelt, alle etwa so alt, wie Perel war, als er den Nazis in die Hände fiel und zum „Volksdeutschen“ mutierte. Perel, der kleine heute fast 87-jährige Mann mit dem freundlichen Gesicht, das Ideal eines lieben Opas, saß vorne auf einem Podium und lächelte den jungen Menschen zu. Hier fühlte er sich zu Hause, das war sein Umfeld. Dann erzählte er fast einundeinhalb Stunden lang seine Geschichte. Die Schülerinnen und Schüler lauschten vollkommen still und hochkonzentriert.

Mit zwei Sätzen, die ihm seine Eltern als letzte Worte vor der endgültigen Trennung mitgegeben hatten, machte er die ganze Tragik seiner gebrochenen Identität auf. „Du sollst bleiben, was du bist“, sagte der tiefreligiöse Vater, und „du sollst leben“, war die Botschaft der Mutter. Indem er der Mutter gefolgt war und die erlaubte Lüge zur Rettung seines Lebens eingesetzt hatte, konnte er danach – in langsamen Schritten – wieder zum freien und unabhängigen Juden Sally von heute werden. Die Religion ist seine Sache nicht mehr. „Ein allmächtiger Gott,“ so sagt er, „hätte Auschwitz verhindert“.

Salomon Perel, der heute in Israel lebt, begibt sich seit Jahren immer wieder auf ausgedehnte Reisen zu deutschen Schulen. Täglich durch mehrere Wochen erzählt er als Träger „lebendiger Geschichte“ den jungen Menschen über den „Selbstmord der deutschen Kultur“. Er will sie, „wie er sagt, „mit den Tränen der ermordeten Kinder impfen“, um ein für alle Mal das Unrecht zu besiegen.

In Wien ist ihm das gelungen. Die jungen Leute verstanden ihn, sie fragten sensibel nach, sie hatten einen Lehrer gefunden, dem sie glauben und vertrauen konnten. Während in Deutschland verschiedene Sponsoren, Schulbehörden und Schulen zusammenarbeiten, um Perel als Vortragenden zu gewinnen, bedurfte es in Wien der Initiative des Elternvereins und der Unterstützung von Lehrerinnen und Lehrern der Schule Waltergasse, um diese einmalige Geschichtestunde zu ermöglichen.

Sally Perel, der liebe Junge, der seine Seelen spalten, der eine Existenz an der Grenze zum Selbsthass führen musste, ist ein tragisches Beispiel dafür, wie entmenschte Systeme das Menschsein vernichten. Perel erzählt, dass er heute im Traum die Schreie der „Kinder aus der Asche“ hört, jener Kinder, die anders als er dem Schicksal der Ermordung in Auschwitz zum Opfer fielen. So kämpft er unermüdlich um Respekt für sie und arbeitet an der Erlösung von der Schuld, die man ihm auf seine kindlichen Schultern gelegt hat.

Im Gymnasium in der Waltergasse hat er sich merkbar wohl gefühlt. Von den Jugendlichen ist ihm aber auch erstaunlicher Respekt entgegengebracht worden. Nach dem Vortrag standen nahezu alle Schülerinnen und Schüler an, um ein Buch von Perel zu erwerben und es von ihm signieren zu lassen. Die jungen Menschen haben die Botschaft des Opas aus Israel verstanden, die da lautet: „Ich werde bald nicht mehr da sein, aber ihr müsst meine Geschichte weitererzählen.“

Sie haben Salomon „Sally“ Perel auch deshalb verstanden, weil er in seinem Inneren ein Junge, weil er einer von ihnen geblieben ist.

SALOMON PEREL
(geb. 21. April 1925) hieß während der Nazizeit Josef Perjell oder Josef Peters und hat als Jude die Zeit des Nationalsozialismus als Mitglied der Hitlerjugend überlebt. Er konnte sich dank seiner hervorragenden Deutsch- Kenntnisse als „Volksdeutscher“ ausgeben und seine jüdische Herkunft verbergen. Nach mehr als 40 Jahren fühlte er sich in der Lage, das Erlebte zu verarbeiten und verfasste seine Autobiografie „Ich war Hitlerjunge Salomon“, die unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“ (Internationaler Titel: „Europa Europa“) verfilmt wurde. Sally Perel lebt in Israel.

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