Den Tempel im Stetl lassen

Wiens Bürgermeister Michael Häupl spricht über Wien als europäisches Zentrum, die geringen Aktivitäten im Gedenkjahr 2008 und über ein „Haus der Geschichte“. Scharf kritisiert er die Bundesregierung, die ihren Verpflichtungen zur Restaurierung der jüdischen Friedhöfe nicht nachkommt.
Von Petra Stuiber und Peter Menasse, Fotos von Peter Rigaud

NU: Was sagt Ihnen der Name „Arnezhofer“?

Häupl: Gar nichts.

Johann Ignaz Arnezhofer war Kommissar zur Ordnung israelitischer Angelegenheiten nach Schließung des Leopoldstädter Ghettos. Hat sich 1670 bei der Vertreibung der Juden von der „Insel am Wird“ hervorgetan. Er war ein Feind der Juden. 1906 wurde unter Bürgermeister Lueger eine Gasse im 2. Bezirk nach ihm benannt. Wie geht man damit um? Wäre es nicht eine gute Symbolik, den Straßennamen zu ändern? Eine Gruppe von Bürgern fordert, sie nach der österreichischen Widerstandskämpferin Selma Steinmetz zu benennen.

Mit mir braucht man über Leute, die Schuld bei Kriegsereignissen, Verfolgungen, Pogromen auf sich geladen haben, gar nicht reden. Wenn so etwas vorgefallen ist, und wenn sie auch nur geistige Helfershelfer waren, dann gehört das geändert. Keine Frage. Aus meiner Sicht gesehen, ist in einem solchen Fall die Frage zu stellen, wie den Wünschen der Bürger, die dort wohnen, entsprechend Rechnung getragen werden kann. Wenn die Bewohner sagen, dass sie keine Adresse wollen, die mit dem Namen eines Antisemiten und Judenverfolgers versehen ist, dann würde ich meinen, dass man das ändern sollte.

Sie werden also mit Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny darüber reden?

Ja selbstverständlich. Ich will hier nicht sofort und aus dem Bauch heraus entscheiden, aber ich werde mir die Sache auf jeden Fall anschauen.

Wenn Sie vor jungen Wissenschaftlern sprechen, weisen Sie immer wieder auf die „verfolgte Intelligenz“ hin. Wo liegt Ihr Antrieb? Warum tun Sie das? Es gibt zwei Gründe. Erstens ist mir das ein inneres Anliegen. Gerade weil die Nationalsozialisten in der Geschichte des 20. Jahrhundert eine Unzahl von furchtbaren Verbrechen begangen haben, besteht die Gefahr, dass das Verbrechen der Vertreibung der Intelligenz etwas in den Hintergrund rückt. Es ist angesichts des total industrialisierten Mordes, des Holocausts, verständlich, dass andere Themen untergehen. Ich erinnere daher stets an diese furchtbare Zeit und versuche dabei, eine Gesamtbeurteilung der damaligen Ereignisse zu geben. Der zweite Grund ist, dass sich Österreich, und speziell Wien endlich aus seiner früheren Rolle als „demokratischer Blinddarm“ herausentwickeln konnte. Es gibt heute 60 Kilometer entfernt keinen Eisernen Vorhang mehr, der Europa teilt. Mit der EU-Erweiterung ist Wien endgültig zur Mitte des Kontinents geworden. Unsere Stadt nimmt wieder einen historischen Platz ein und ist nicht mehr nur das übergroße Zentrum eines durch den Ersten Weltkrieg klein gewordenen Österreich, sondern eine europäische Metropole, die ihre Gravitationskraft entfalten kann. Und damit meine ich eine ökonomische, kulturelle und intellektuelle Gravitationskraft. Für die Stadt Wien gibt es jetzt einen anderen, einen größeren Raum, in die sie wirken kann. Ich möchte daher auch als eine Art von Analogie an das frühere Wien erinnern, als es ein ähnlich großes Umfeld gab. Ich verweise auf das Fin de Siècle, das damals allerdings im Völkerkerker der Habsburger stattfand. Heute erleben wir ja glücklicherweise einen freiwilligen Zusammenschluss der Völker. Hier liegt der entscheidende Unterschied, der gerne von Nostalgikern vergessen wird, die uns in Europa-Vergleichsdiskussionen führen. Aus diesem Grund verweise ich immer wieder auf die Zeit dazwischen und auf die vertriebene Intelligenz, die Künstler und die Intellektuellen.

Zukunft baut immer auf Vergangenheit auf. Heuer ist das große Gedenkjahr. Haben Sie das Gefühl, dass insgesamt genug geschieht, um sich zu erinnern und aufzuarbeiten?

Zunächst einmal bin ich schon froh, dass man nicht völlig auf den März 1938 vergessen hat. Das ist ja immerhin etwas. Es wird beginnend mit August einerseits Veranstaltungen zum Jahr 1968, mit dem Prager Frühling und dem alles beendenden Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei, geben und andererseits solche zur Studentenbewegung. Das Jahr ist jedoch vollkommen überlagert von der Fußball-Europameisterschaft. Das ist heuer das bestimmende Thema, auf das alle mit einer Art Tunnelblick schauen. Aber es geht auch das zu Ende und am 4. Juli wird alles abgebaut sein. (Lacht) Die Autos können dann endlich wieder die geliebte Ringstraße befahren.

Aber ist genug passiert?

Nein, aus meiner Sicht ist tatsächlich nicht genug passiert. Es gibt auch das Jahr 1918, an das zu gedenken wäre, mit Clemenceau, der gesagt hat „Der Rest ist Österreich“, nachdem er die Landkarte zerschnitten hatte, dann das Jahr 1938 und auch 1968. Es müsste einer Reihe von Ereignissen gedacht werden, die in ihrer Gesamtheit Österreich im 20. Jahrhundert in hohem Ausmaß geprägt haben.

Man hat seit längerer Zeit nichts mehr zum Thema Haus der Geschichte gehört. Was tut sich da beziehungsweise in welche Richtung sollten neue Bemühungen gehen?

Der Proponent des Projekts, Leon Zelman, ist leider gestorben. Das ist persönlich schmerzhaft und es ist für die Idee nachteilig. Es gibt aber auch immer wieder neue Anstöße dazu, die insbesondere vom Bundespräsidenten kommen. Heute würde ich vorschlagen, mehr in größeren Zusammenhängen zu denken, als es die ursprüngliche Idee des Hauses der Geschichte von Leon Zelman getan hat. Es ist zu überlegen, ob man so etwas wie ein historisches Museum gründet, das sich im Speziellen mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Die Nazi-Barbarei ist ja nicht erklärbar, wenn man sich nicht die ganzen falschen, bürgerlichen, deutsch-nationalen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anschaut, die Entwicklung des Nationalstaats und das Aufkommen des Nationalismus. Das alles ist wiederum nicht zu verstehen, wenn man die große Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich um „die Vorherrschaft in deutschen Landen“, wie es da so hässlich heißt, nicht kennt. Man kann also nicht mit 1918 beginnen und sagen, das war der große Bruch, sondern man muss weiter zurückgehen.

Sie sprechen also von einem Zeitgeschichte-Haus, konzipiert als Museum. Man soll sich nicht auf ein wissenschaftliches Projekt beschränken?

Nein, denn das haben wir bereits. Wir haben ja hervorragende Institute an den Universitäten und auch außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Wir wollen ein historisches und modernes Museum. Ich meine damit nicht ein Museum in der Didaktik des 19. Jahrhunderts, sondern eines in der des 21. Jahrhunderts. Ein Museum, das auch Forschungsstätte ist. Es soll schon eine didaktisch entsprechend aufbereitete und sinnlich- erfahrbare und nachvollziehbare Sache sein, aber auch Forschungsstätte mit der Möglichkeit für Studenten, dort wissenschaftlich zu arbeiten.

Und wo soll das sein?

Diese Diskussion fange ich nicht an. Damit habe ich schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht. Alle haben sich auf die Diskussion um den Ort konzentriert, aber nicht auf Inhalte.

Kann das nicht damit zusammenhängen, dass es in Österreich zwischen den beiden großen Parteien gar nicht möglich ist, sich über die Beurteilung der Periode 1934–38 zu einigen?

Es gibt Ansätze dafür, dass es doch möglich sein könnte. Ich erinnere an die Ausstellung im Oberen Belvedere, die nicht ausschließlich die Zweite Republik betrachtet hat. Sinnlich erfahrbare Dinge, wie der Staatsvertrag, waren auch zu sehen und das war für manche Leute sehr wichtig. Es wurde aber auch auf die Vorgeschichte eingegangen. Den vorbereitenden Wissenschaftlern ist es gelungen, unterstützt von intellektuell strengen Herren wie etwa Hannes Androsch oder Herbert Krejci, der Wissenschaft die nötige Rückenfreiheit zu geben, damit das ermöglicht werden konnte. Das war noch nicht das Nonplusultra, aber zumindest ein Schritt in die Richtung einer seriösen, wissenschaftlichen Annäherung.

Es gibt einige leidige Themen wie die Frage der Restaurierung jüdischer Friedhöfe. Für den Währinger Friedhof wurde zwar eine Lösung gefunden, aber eine grundsätzliche Lösung scheint es noch nicht zu geben. Von Gusenbauer und Molterer gibt es zwar Aussagen dazu, aber diese sind sehr inhaltsleer. Und Vizekanzler Molterer sagte in einem Standard-Interview: „Die führende Rolle für den Erhalt jüdischer Friedhöfe fällt Wien zu.“ Was meinen Sie dazu?

Die Herren stimmen mich traurig, weil es sich um einen Rückfall in der Diskussionskultur handelt. Es war doch bereits eine klare Lösung festgelegt: Im Eizenstat- beziehungsweise im Washington-Vertrag steht konkret beschrieben, wer was zu übernehmen hat. Die Stadt Wien hat sich verpflichtet, den Hakoah-Platz zu restituieren und entsprechend herzurichten. Das haben wir übererfüllt, weil wir die gute Idee des Präsidenten der Kultusgemeinde aufgenommen haben, dort Schulen und das Pensionistenheim mit dem Sportplatz zu vereinigen. Das ist eine vernünftige Idee, weil unter anderem der Sportplatz jetzt außer durch die Hakoah auch durch die Schulen benutzt werden kann. Im gleichen Vertrag ist auch klar festgehalten, wer für die Restaurierung der Friedhöfe verantwortlich ist. Ich habe vor mehr als einem Jahr dem Kanzler das Angebot gemacht – weil ich die Diskussion für unwürdig erachte – der Bund soll seiner Aufgabe aus dem Vertrag nachkommen und die Restaurierung finanzieren und die Stadt Wien würde die Erhaltung übernehmen. Im Übrigen erhält die Kultusgemeinde bereits heute 300.000 Euro jährlich von der Stadt für die Erhaltung der Friedhöfe. Auf einen solchen fairen und würdigen Vorschlag bekommt man dann von den laut Vertrag Verantwortlichen die Antwort: „Das geht uns nichts an.“ Das leugnet klar die Fakten des Eizenstat-Vertrages, den die Spitzen der Republik unterschrieben haben.

Woran liegt das? Es geht hierbei ja nicht um Riesensummen.

Ich weiß nicht, woran das liegt. Es stimmt mich aber besonders traurig. Ich muss dazu sagen, ich habe mit Wolfgang Schüssel oft die heftigsten Auseinandersetzungen gehabt, aber in dieser Frage des Eizenstat-Vertrages hat es eine außerordentlich verlässliche, der Republik Österreich nützende Form der Zusammenarbeit gegeben. Die Stadt Wien hat sich nie geweigert mitzuzahlen. Und wir haben mit dem Hakoah-Platz und dem neuen Altersheim ein tolles Projekt für die Lebendigkeit der jüdischen Gemeinde in Wien auf die Beine gestellt. Die Reaktionen mancher Bundespolitiker sind kleingeistig und schädigend für das Image Österreichs und stellen eine Missachtung der Opfer dar.

Den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant, hat das aber nicht daran gehindert, über säumige Länder in Sachen Restitution an die Kultusgemeinde zu klagen. Muzicant drohte sogar mit der Kündigung des Washingtoner Abkommens. Fühlen Sie sich von dieser Kritik betroffen?

Es ist in Wirklichkeit um die Vorziehung von Raten gegenüber der ursprünglichen Vereinbarung gegangen. Das ist eine andere Geschichte. Eine Kündigung hätte sich daraus sicher nicht ableiten lassen. Das, was die Länder an die Kultusgemeinde gezahlt haben, fand außerhalb des Vertrages statt und war kein Bestandteil des Washingtoner Vertrages. Herr Präsident Muzicant hat meine volle Bewunderung. Er ist ein äußerst effizienter Vertreter der Kultusgemeinde. In diesem konkreten Fall könnte man allerdings salopp formulieren, dass man den Tempel besser im Stetl lassen sollte.

Sie sagen, in der Bundesregierung herrsche in Bezug auf die Friedhofsdiskussion Kleingeistigkeit. Haben Sie das Gefühl, dass es bei manchen politisch Zuständigen in der ÖVP einen Backlash gibt und der Gedanke wieder belebt wird, dass Österreich doch das erste Opfer Hitlers gewesen sein könnte.

Das sind zwei verschiedene paar Schuhe. Das eine wäre die Restitution und der Umgang mit den Opfern, insbesondere der jüdischen Opfern des Nationalsozialismus. Eine andere Diskussion ist die ewig kursierende These in der ÖVP von Österreich als das erste Opfer. Der erste gefallene Widerstandskämpfer war Dollfuß. Na ja.

Hat die von Ihnen angesprochene Kleingeistigkeit etwas damit zu tun?

Nur bedingt. Es handelt sich wohl mehr um ein konstitutives Element österreichischer Politik. Da hat die Sozialdemokratie mit ihren jährlichen Erinnerungen an die Februarkämpfer auch ihre entsprechenden Traditionen. Man könnte sagen: „Was soll denn das noch?“, der 12. Februar 1934 ist ja auch schon ewig lange her. Wie auch immer, ich bemühe mich dort stets, Grundsatzerklärungen abzugeben und mich mit heutigen reaktionären, faschistoiden und autoritären politischen Tendenzen auseinanderzusetzen. Es geht nicht nur darum, die Glut des Vergangenen zu hüten, sondern ein heutiges, reflexives Feuer zu entfachen.

Mit der Schwäche der Sozialdemokraten bei den letzten Wahlen hat die Freiheitliche Partei an Stimmen gewonnen. Macht Ihnen das als stellvertretender SPÖ-Chef in Hinblick auf nationalistische und antisemitische Tendenzen Sorgen?

Wenn man Unzufriedenheit hochrührt, kommt eine Menge mit. Vordergründig ist eine größere psychische als materielle Unzufriedenheit vorhanden. Mein Weg ist es, die Gründe für die Unzufriedenheit zu bekämpfen.

Uns und viele andere verbindet die schmerzvolle Zuneigung zur Wiener Austria. Es wurde immer gesagt, dass Matthias Sindelar ein antifaschistischer Held sei. Später konnten wir zeigen, dass er ein Kaffeehaus „arisiert“ hat. Trotzdem wurde ihm sein Ehrengrab belassen. Wie stehen Sie dazu?

Sindelar hat ja dieses Kaffeehaus nicht tatsächlich selbst „arisiert“. Er hat es vermutlich zugeteilt bekommen und es ist die Frage, ob er tatsächlich wusste, dass es arisiert war. Feststeht, dass er ein genialer Fußballer war. Und dass er ein Flanierer war, der so gut mit Geld umgehen konnte wie ein Franz Hasil (Anm.: österreichischer Fußballstar der 70er Jahre, der angeblich sein Geld verspielte) und niemals einen Nobelpreis bekommen hätte. Außerdem ist klar, dass er die Nazis nicht mochte und das ist ja schon etwas. Ob man anhand des Falles von Matthias Sindelar durch die Aberkennung des Ehrengrabs eine tolle, inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus provozieren hätte können, das wage ich jedenfalls heftigst zu bezweifeln. Und man kann auch nicht Matthias Sindelar auf eine Ebene mit dem Nazi-Flieger Walter Nowotny stellen. Daher habe ich auch die Meinung vertreten, man sollte das Ehrengrab belassen.

Es gibt innerhalb der jüdischen Community eine heftige Diskussion über die Aktion „Letters to the Stars“ mit unterschiedlichen Beurteilungen. Die einen finden das wäre ein zeitgemäßer Ansatz. Die anderen sehen darin ein geschmackloses Spektakel unter dem Motto „Miete dir ein Opfer und hole es nach Österreich.“ Wie sehen Sie das?

Ich würde, wäre ich Teilnehmer an dieser Community-Diskussion, die Meinung der Ersteren vertreten. Ich habe das auch mit den Mitarbeitern in meiner geliebten Organisation, dem Jewish Welcome Service, diskutiert, die sagen, es wäre weiterhin ihre Aufgabe, die alten Leute in ihre frühere Heimat zurückzuholen. Und auch deren Kinder und Enkelkinder, nachdem es jetzt wieder Geld für die Organisation gibt. Denn es hat ja die alte Regierung die Unterstützung gestrichen. Da hat übrigens niemand in der Jewish Community dagegen protestiert. Es ist aber auch in Ordnung, dass man dieses Thema als medienwirksames Spektakel für heutige Tage gestaltet. Da gibt es einfach unterschiedliche Bedürfnisse je nach Altersgruppe.

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