Den Opfern ihre Namen zurückgeben

Der US-Historiker Timothy Snyders ist Autor des Meisterwerks „Bloodlands“ über die Opfer von Hitler und Stalin. NU sprach mit ihm über die neuen Dimensionen des Holocausts, die sich aus seinen Forschungen ergeben.
Von Axel Reiserer

Am 31. Juli 1942 schrieb die zwölfjährige Junita Wischnatskaja aus dem jüdischen Getto in Minsk den letzten Brief ihres jungen Lebens an ihren Vater: „Ich sage auf Wiedersehen zu dir, bevor ich sterbe. Ich habe solche Angst vor diesem Tod, denn sie werfen kleine Kinder lebendig in das Massengrab. Auf Wiedersehen für immer. Ich küsse dich, ich küsse dich.“

In seinem neuen Buch „Bloodlands. Europe between Hitler und Stalin“ schildert der US-Historiker Timothy Snyder die Geschichte der Menschen zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer, die Opfer der Sowjet- und der Nazi-Diktatur wurden. Auf unfassbare 14 Millionen Menschen, die nicht durch direkte Kriegshandlungen, sondern durch gezielten Massenmord getötet wurden, beziffert Snyder ihre Zahl nach Auswertung von Archiven in Polen, der Ukraine, Weißrussland und Russland sowie unter Verwendung einer Vielzahl anderer Quellen. Manchmal war das Opfer von heute der Täter von morgen – und umgekehrt, und immer so weiter in einem blutigen Kreislauf, den die Tyranneien in Gang gesetzt hatten.

Snyder arbeitet eine Geschichte auf, die zwar in (nationalen) Fragmenten nicht unbekannt ist, in dieser Gesamtheit und Qualität aber noch nicht dargestellt worden ist. Ihm gelingt eine dramatische Korrektur unseres Geschichtsbildes: „Um den ganzen Schrecken des Holocaust zu verstehen, sofern das möglich ist, müssen wir unser Bild von Auschwitz ergänzen mit jenem von Treblinka und den Vernichtungsorten weiter östlich“, sagt er. Stalin tötete bewusst (mindestens) 3,3 Millionen Ukrainer während der Kollektivierung der Landwirtschaft im „Holodomor“, Hitlers Wehrmacht ließ 4,2 Millionen Sowjetbürger gezielt verhungern.

Was das Buch darüber hinaus auszeichnet, ist, dass Snyder Raum findet für die Menschen wie Junita Wischnatskaja. Den Opfern, die zu Nummern wurden, namenlos und zu Millionenmassen degradiert, gibt er ihre Namen, ihre Geschichte und ihre Würde zurück. „Jeder der Lebenden hatte einen Namen“, schreibt er, „jeder der Getöteten wurde eine Nummer.“ Ihm gelingt als Historiker, was Wassili Grossman als Literat vollbracht hat, vor allem in seinem Roman „Leben und Schicksal“.

Snyder zeigt, dass Gedenken von Denken kommt, darauf fußt und darüber hinausweist. „Die Opferzahl muss durch eins geteilt werden“, sagt er, „denn wir müssen uns jeden von ihnen als einzelnen Menschen vorstellen. Nur so können wir ihnen gerecht werden.“ „Ein Versuch, die Geschichte zu kontrollieren, ist immer auch ein Versuch, die Zukunft zu kontrollieren“

NU: Professor Snyder, die Geschichte der Menschen zwischen Hitler und Stalin zu schreiben, ist ein ehrgeiziges Unterfangen. Was war Ihre Ausgangsüberlegung?

Snyder: Die formale Prämisse des Buches ist geographisch: Ganz am Anfang halte ich fest, dass fast alle deutschen und ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz von sowjetischen Morden in einem bestimmten Territorium stattfinden. Das ist das Gebiet, das ich „Bloodlands“ nenne und sich vom heutigen St. Petersburg über das Baltikum nach Weißrussland, Poland und die Ukraine erstreckt. Ich beschreibe die Vernichtungspolitik der Sowjets in diesem Gebiet während der Kollektivierung und unter Stalins Großem Terror und danach die Vernichtungspolitik der Deutschen und der Sowjets. Es ist das Gebiet, das sich Hitler und Stalin im August 1939 aufteilen und danach in Polen einfallen. Die beiden Armeen begrüßen sich an der Demarkationslinie mit Blumen, im Hinterland beginnt sofort die Vernichtungspolitik. Dieser Betrachtungswinkel erlaubt mir drei Dinge: (1) Ich verliere nicht den Blick auf die Geschehnisse in dem Gebiet. (2) Ich kann die Geschehnisse gleichzeitig aus deutscher und sowjetischer Perspektive schildern, und (3) ich kann das Tun der Nazis und Sowjets an Ort und Stelle untersuchen, ohne alles aus dem Blickwinkel von Berlin oder Moskau zu verstehen zu versuchen.

Warum wurden die „Bloodlands“ zu solchen Vernichtungsschauplätzen? Das sind doch Gebiete und Länder, in denen über Jahrhunderte Völker neben- und miteinander lebten.

Für jede einzelne Politik der Nazis und der Sowjets gibt es eine Erklärung, und die versuche ich zu finden. Ich zögere, eine allumfassende Theorie aufzustellen, aber als äußere Bedingungen lassen sich festhalten: Die Sowjetunion und Nazi-Deutschland operierten in einer weltpolitischen Wirtschaftssituation, in der eine Expansion zur See unmöglich war. Es blieb nur die Kolonialisierung des Festlands. Die Länder zwischen Berlin und Moskau waren besonders wichtig, denn es war noch eine Epoche, in der die Landwirtschaft ein entscheidender Wirtschaftssektor war: Landwirtschaft war jener Wirtschaftszweig, den die Sowjets radikal umkrempeln wollten, und sie war auch der Schlüssel zu Hitlers Expansionsplänen.

In den deutschen Plänen von „Lebensraum“…

Genau. Und Lebensraum bedeutet vor allem die Ukraine. Die Ukraine ist aber auch zentral für die Pläne der Sowjetunion. Was ebenfalls von entscheidender Bedeutung ist: Es waren Territorien, die vom Erbe des polnisch-litauischen Reichs geprägt waren, das heißt, es waren nicht national homogene Gebiete. In dieser Region lebten die meisten Juden Europas, hier gab es national völlig durchmischte Gegenden. Sowohl die Sowjets als auch die Deutschen – und die Deutschen viel stärker – versuchten, dieses Gebiet von ihrem Rassen- oder Klassengesichtspunkt zu homogenisieren. Ich glaube, dass wir diese Tragödie erst in der Interaktion voll erfassen können.

Ist Ihr Buch damit auch ein Tribut an die 14 Millionen Menschen, die in diesem Gebiet ermordet wurden?

Es ist wichtig, vom Standpunkt der Opfer zu schreiben. Die meiste Geschichte wurde bisher vom Gesichtspunkt Moskaus oder Berlins geschrieben. Wir haben auch noch nicht wirklich verstanden, wer die Opfer waren, in welcher Anzahl, wo und wie sie lebten, bevor sie ermordet wurden. Doch Geschichte sollte über das Leben sein, und das macht mein Thema besonders schwierig. Die Opferzahl muss durch eins geteilt werden, denn wir müssen uns jeden von ihnen als einzelnen Menschen vorstellen.

Sie schildern die Verbrechen der Sowjets und der Nazis, oft in kurzem Zeitabstand an denselben Orten. In den Ortssitz des NKWD zieht die Gestapo ein, selbst die Gefängnisse sind oft dieselben, und wer gestern gefoltert wurde, kann morgen schon Folterer sein. Sind die beiden Regimes zwei Seiten derselben Münze?

Nein. Sie verfolgen zwei unterschiedliche Ansprüche. Wir sehen viele Ähnlichkeiten aus verschiedenen Gründen. In mancher Weise sind die Regimes ähnlich: Es sind beides Tyranneien und in beiden Fällen erzwingt der Führer eine utopische Vision, die viele, viele Millionen Opfer kostet, und gerade diese Opfer verwendet er dann als Rechtfertigung für die Notwendigkeit seiner Politik. Sie sind auch darin ähnlich, dass sie eine Vision rapider Entwicklung und Veränderung verfolgen, entweder im Namen der Rasse (Deutschland) oder der Klasse (Sowjetunion). Aber: Man kann viele Millionen Menschen töten und sogar in genau derselben Art und Weise, etwa durch Verhungern, ohne deshalb genau dasselbe Regime zu sein. Die Sowjets töteten innerhalb ihres eigenen Territoriums im Rahmen eines Projekts, das ich „interne Kolonialisierung“ nennen würde. Im Gegensatz dazu mordeten die Deutschen im allgemeinen jenseits ihrer eigentlichen Landesgrenzen in ihrem, wie ich es nennen würde, „rassistischen Imperium“. Was wir in den „Bloodlands“ sehen, ist die teilweise territoriale Überschneidung des Nazi- und Sowjet- Projekts und die verheerenden Folgen. Aber wir sehen auch die Unterschiede.

Aber machen nicht das Ausmaß und die Größe der Verbrechen all diese Unterscheidungen irrelevant?

Die Regimes bleiben dennoch sehr unterschiedlich. Stalin stammte aus dem Kaukasus und man kann sich nur sehr schwer vorstellen, dass ein Vertreter einer ethnischen Minderheit in Nazi-Deutschland das Sagen hat …

Hitler war Österreicher …

(Lacht.) Das kann man nicht vergleichen. Die Sowjetunion identifizierte und verwirklichte in einzelnen Fällen eine gezielte Förderungspolitik von Minderheiten. Es gab eine echte Vision des Internationalismus …

… aber es war doch die Sowjetunion, die interne Pässe einführte und in Birobidschan das erste jüdische Getto schuf, lange bevor die Nazis in £ódz waren…

Die ursprüngliche Politik der Sowjets wurde pervertiert und Stalin wurde in den 1930er-Jahren der Pionier der ethnischen Massaker. Dennoch ist es immer noch ein Unterschied zu einer Politik, die auf der Prämisse der ethnischen Überlegenheit beruht und der Behauptung, dass eine Rasse höher als alle anderen steht und andere eliminiert werden müssen. Es gibt Ähnlichkeiten, die größer sind als wir sehen und manchmal vielleicht zugeben wollen, aber ich würde nicht sagen, dass die Unterschiede unwichtig sind.

In Ihrem Buch argumentieren Sie gegen die „binäre Logik“ Hitlers und Stalins. Konnten sich die Länder der „Bloodlands“ davon schon befreien?

Die Ukraine ist ein Beispiel, wie schwierig das ist und warum Erinnerungspolitik problematisch ist. In einem Land haben wir zwei Visionen der Vergangenheit, die beide historisch unkorrekt sind. Erinnerungspolitik muss immer den Fakten gegenübergestellt werden. Jeder Versuch, die Geschichte zu kontrollieren, ist immer auch ein Versuch, die Zukunft zu kontrollieren.

Ziehen wir aus dem größeren historischen Wissen, das wir heute haben, die notwendigen Lehren?

Einerseits gibt es gewaltige Fortschritte in Forschung und Verständnis. Wenn Sie heute beliebige Historiker aus beliebigen Ländern zusammenbringen, gibt es einen viel breiteren Grundkonsens als noch vor zehn bis zwanzig Jahren. Andererseits bleibt die Nachkriegsgeschichte national, und seit dem Ende des Kalten Kriegs steht das Nationale mehr im Vordergrund denn je. Geschichte ist Teil der Privatsphäre in dem Sinn geworden ist, dass jeder ein Recht auf sein eigenes Narrativ hat – normalerweise ist es eine Geschichte des Leidens. Das erzeugt eine Situation, wo es in der Politik darum geht festzulegen, wer unsere historischen Feinde sind, selbst wenn dies etwa von einem ökonomischen Blickpunkt absurd ist.

Warum brauchen wir scheinbar immer Feinde? Gehen wir wieder dorthin, wo wir in den 1930er-Jahren waren?

Wir müssen keine Feinde haben. Weißrussland, Russland und die Ukraine sind alle in einer Legitimationskrise, weil es Staaten sind, die ihre Bürger nicht zuverlässig mit Wohlstand und Sicherheit versorgen können. Daher ist jeder von ihnen in unterschiedlichem Ausmaß von der Geschichte abhängig, aus der man sich Legitimität ableitet. Das bedeutet, dass der für nationale Geschichten typische Narzissmus – und das gilt genauso etwa für die USA, Frankreich oder Großbritannien – in diesen Ländern gefährlicher ist, weil die Geschichte mehr in der Politik gebraucht wird, aber auch, weil das Leid so ungleich größer war und entsprechend größer und stärker sind die Gefühle, mit denen gespielt werden kann: An jedem beliebigen Tag des Herbst 1941 starben so viele sowjetische Kriegsgefangene wie amerikanische oder britische Soldaten während des gesamten Zweiten Weltkriegs.

Ihr Buch konnte erst nach Ende des Kalten Kriegs geschrieben werden?

Ich denke, dass uns das Ende des Kalten Kriegs erlaubt hat, über Osteuropa nachzudenken wie nie zuvor. Es hat uns auch die Gelegenheit gegeben zu erkennen, dass es über Ereignisse, von denen wir dachten, dass wir sie sehr genau kennen wie etwa den Holocaust, noch neue Erkenntnisse zu gewinnen gibt. Die Orte, an denen die Nazi-Verbrechen stattfanden, verschwanden hinter dem Eisernen Vorhang und wurden Teil des Sowjet-Imperiums. Heute haben wir die Chance, beides zu verstehen.

Müssen wir unser Bild des Holocaust überdenken?

Wir müssen unser Bild von Auschwitz um jenes von Treblinka ergänzen und dazu noch mit den Vernichtungsorten weiter östlich. Wir glauben, dass wir den ganzen Horror des Holocaust erfasst haben, aber ich fürchte, dass das nicht wahr ist. Eines der Ziele meines Buchs war es, das Wissen um den Holocaust zu erweitern und zu verbreitern.

Im Zusammenhang mit dem Holodomor, dem Großen Terror und dem Gulag: Was ist das Besondere des Holocaust?

Ich glaube, man kann immer noch sagen, dass der Holocaust besonders, einzigartig oder – was ich als Formulierung bevorzugen würde – beispiellos war. Ich hoffe, dass ich in meinem Buch für den Holocaust einen Platz in der Geschichte gesichert haben, gerade weil ich Vergleiche anstelle und den Holocaust in einen größeren Zusammenhang stelle. Ich glaube, wenn wir davor zurückscheuen, wenn wir Angst vor dem Kontext haben und Tabus erhalten, untergraben wir die historische Integrität des Holocaust.

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