Das war die schwerste Zeit meines Lebens

Leon Zelman über seine neue Hoffnungen für ein „Haus der Geschichte“ unter einem sozialdemokratischen Kanzler, FPÖ-Chef Heinz-Christian Straches Bilderkrampf und die Zukunft seines Jewish Welcome Service.
Von Peter Menasse und Barbara Tóth (Text) unf Jacqueline Gobany (Foto)

NU: Herr Zelman, wir haben eine neue Regierung, wir haben eine neue Parlamentspräsidentin – was ändert das für Ihr Projekt eines „Hauses der Geschichte“ im Palais Epstein?

Leon Zelman: Ich war mit Herrn Andreas Khol so weit, dass das Palais Epstein eine Ausstellung über das jüdische Leben in Wien bekommen hat. Das Problem war, dass die mittleren Säle nicht als Büro zu verwenden sind, weil sie denkmalgeschützt sind. Dort wäre ein idealer Ort für die Ausstellung gewesen. Aber Herr Khol war, wie soll ich das sagen, nicht mit dem Herzen bei diesem Projekt. Er hat mich zwar umarmt, ich habe gekämpft und diskutiert mit ihm – aber es war da nichts zu machen. Mit seiner Nachfolgerin Barbara Prammer können wir, glaube ich, neu beginnen. Sie ist begeistert.

NU: Im Regierungsübereinkommen ist von einem „Haus der Geschichte“ keine Rede, dafür sind zwei historische Großprojekte erwähnt: ein Habsburger-Museum im Schloss Schönbrunn und ein Museum für die Zeit des Kalten Krieges bis 1989. Was halten Sie davon?

Leon Zelman: Überhaupt nichts. Das „Haus der Geschichte“ hingegen, das Palais Epstein steht für den langen Weg der Wiener Juden zu gleichen Rechten. Es ist ist Symbol für den Aufstieg des Wiener Judentums ins Großbürgertum und in die Aristokratie. Viele jüdische Familien waren maßgeblich am wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beteiligt. Das muss man erzählen, das ist ein wesentlicher Teil unserer Geschichte, der Geschichte dieser Stadt. Ich werde die Menschen nicht lebendig machen, aber wir müssen erreichen, dass das, was uns hinterlassen worden ist, lebendig bleibt. Das ist auch ein Problem mit mir und der jüdischen Gemeinde.

NU: Wo genau liegt das Problem?

Leon Zelman: Viele Freunde in der Kultusgemeinde habe ich nicht. Sie haben sogar einen Brief geschrieben, in dem sie sich gegen das Projekt Epstein aussprechen. Auch Ariel Muzicant war nicht dafür. Er hat einfach einen anderen Horizont, der entspricht nicht meiner Welt. Mir ist die Jugend besonders wichtig: Der Jugend muss vermittelt werden, wie der Nationalsozialismus begonnen hat.

NU: Wenn Sie sagen, wir müssen verstehen, wie es angefangen hat: Wie erging es Ihnen dann, wenn Sie die Debatte über die Bilder von Wehrsportübungen von FPÖ-Chef Heinz Christian Strache verfolgten? Ist es nicht so eine Art Anfang?

Leon Zelman: Ja.

NU: Was müsste man da jetzt machen?

Leon Zelman: Auschwitz war nicht der Beginn, Auschwitz war das Ende. Daher kann ich nicht genug betonen, wie wichtig mir die Bildungs- und Informationsarbeit, die wir auch seit Jahren machen, ist. Ich selbst war ja in vielen Schulen und gehe auch noch heute dorthin. Ich meine, wir haben eine gute Jugend hier im Land. Das Problem ist oft, dass die Lehrer, die sie unterrichten, ihre Eltern und Großeltern nicht zur Rede stellen konnten oder wollten. Wenn ich den Kindern von Auschwitz erzähle, sehe ich Tränen in ihren Augen. Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, wie ich mit dieser Erinnerung leben kann? Es ist meine moralische Verpflichtung und deshalb höre ich nicht auf, darüber zu sprechen.

NU: Nach 1945 gab es zwei Lebenseinstellungen unter Juden: Die einen haben gesagt, in dem Land kann man nicht mehr leben. Und die anderen sind hergekommen und haben eine Aufgabe übernommen, so wie Sie. Im Rückblick: Haben Sie sich richtig entschieden?

Leon Zelman: Ja. Ich bin nicht nur überzeugt davon, ich bin stolz darauf. Wenn ich heute auf der Straße gehe und mich zwei junge Leute, ein Mann und eine Dame, grüßen und ich nicht weiß, wie ich antworten soll, und dann sagen sie zu mir: „Herr Doktor Zelman, sie waren bei uns in Floridsdorf in der Schule. Ich bin der Lehrer gewesen, meine Frau ist auch Lehrerin. Wir denken jeden Tag im Jahr daran, wie Sie damals zu den jungen Leuten gesprochen haben …“.

NU: Aber wenn dann eben Fotos wie jene Straches auftauchen, fragen Sie sich da nicht manchmal, ob Ihre Arbeit nicht gereicht hat?

Leon Zelman: Nein. Solche Dinge passieren nicht wegen Kindern oder Lehrern, sondern wegen der Regierung und wegen jenen Verantwortlichen, die geschwiegen haben. Nach dem Krieg war das ja üblich.

NU: Das heißt, Sie haben nie gezweifelt, auch nicht in der Waldheim-Zeit?

Leon Zelman: Das war die schwerste Zeit meines Lebens!

NU: Sie dachten sich nie: Verdammt noch mal, in dem Land kann man nicht?

Leon Zelman: Nein. Ich bin raus­gekommen 1945, ich war genau 17 Jahre alt. Mit einem Freund habe ich dann später 1946 in Wien in einem Heimkehrer-Haus ein Zimmer mit einem Bett bekommen. Ich habe in der Badewanne geschlafen und das Bett hab ich meinem Freund überlassen, weil er lungenkrank war. Ich habe die Matura gemacht. Ich habe begonnen zu studieren. Ich wollte begreifen, nachdem ich sechs Jahre ausgeschlossen von der Welt war. Ich habe begonnen, mir ein Leben zu gestalten, in dem ich begreifen und verstehen will, wie das alles geschehen konnte.

NU: Aber warum sagen Sie dann, dass Waldheim die schwerste Zeit Ihres Lebens war?

Leon Zelman: Weil ich enttäuscht war, dass dieses Land nicht im Stande war zu begreifen, dass ein Mann wie Waldheim lügt. Und dass es das Land selbst betrifft. Gleichzeitig war ich nicht enttäuscht, weil die Jugend mobilisiert war. Das war mir das Wichtigste.

NU: Sie haben ja damals mitgeholfen, dass die Waldheim-Affäre an das Licht der Öffentlichkeit kommt. Sie haben den Jüdischen Weltkongress informiert?

Leon Zelman: Ich habe damals gehört, dass es in Waldheims Vergangenheit dunkle Flecken gibt. Wir haben begonnen zu recherchieren und haben Dokumente gefunden, die bewiesen haben, dass er am Balkan war und dass er wissen musste, was um ihn herum geschah. Der Journalist Ari Rath war gerade in Wien zu Besuch. Gerold Christian, der Sprecher von Waldheim, hat mich ein paar Mal angerufen und gefragt: „Was können wir tun?“ Darauf habe ich ihm geantwortet: „Gerold, er muss drei Worte sagen: ‚Ich war dabei.‘“ Waldheim wollte mit mir sprechen, und ich meinte, nein, es ist besser, wenn er mit jemand anderem spricht, und habe Ari Rath angerufen. Wir haben uns alle getroffen und Waldheim ist reingekommen und hat gesagt: „Wie kann ich das Rad zurückdrehen?“ Rath meinte: „Sie waren doch dabei!“ „Sie sollten darüber reden.“ Ich bin weggegangen mit der Überzeugung, dass Waldheim bei seiner Neujahrsansprache im Fernsehen deutlichere Worte finden wird. Ich habe meine Freunde in Israel angerufen und ihnen gesagt, dass sie schweigen sollen. Ich war bitter enttäuscht, als er dann wieder nicht die richtigen Worte gefunden hat. Ich wollte dieses Land zu etwas machen, ich träume noch heute davon, dass kein Mensch zu mir sagt: „Wie kannst Du nur hier leben?“

NU: Hören Sie diesen Satz noch oft: „Wie kannst Du dort nur leben?“

Leon Zelman: Es sind die Kinder und Enkelkinder der Überlebenden, die jungen Leute, die fragen: Wie kann man nur in diesem Land leben? Es sind weniger die, die 1938 vertrieben wurden. Die
alten Leute kommen nach Wien und erinnern sich an das Theater in der Josefstadt, an den Besuch im Stadttempel, daran, wie sie mit ihrer Mutter oder ihrem Vater da und dort hingegangen sind.

NU: Es ist Ihnen gut gelungen, Juden, die im Ausland leben, nach Wien zu
bringen?

Leon Zelman: Die alten ja, bei den jungen haben wir sicher noch nicht alle erreicht. Obwohl unsere Gäste meist von ihren Kindern und Enkelkindern begleitet werden.

NU: Meine These ist: Wenn die Juden im Ausland leben, sind sie nette Juden, die man sich einmal für eine Kaffeejause mit dem Leon holt …

Leon Zelman: Das ist ein Irrtum. Ich sage bei jeder Gelegenheit den Juden, die hier in Wien leben, sie sollen auch mitkommen. Ich muss nur eine Sache sagen: Die Art, wie man die Wiedergutmachung erkauft hat, ärgert mich. Das ist gestohlen worden, das ist keine Wiedergutmachung.

NU: Jetzt gebe ich Ihnen ein Beispiel: Mein Vater, der vor 2 Jahren gestorben
ist, wurde zwar immer von den Engländern in die Botschaft zum Veterans Day eingeladen, weil er ein englischer Soldat war. Von den Österreichern wurde er aber nie von irgendwem eingeladen.

Leon Zelman: Nein, aber ich mache es doch. Für diesbezügliche Versäumnisse der Republik Österreich fühle gerade ich mich wirklich nicht zuständig.

NU: Wie kann man sich das Jewish Welcome Service in 10, 15, 20 Jahren vorstellen?

Leon Zelman: Ja, da mache ich mir auch Gedanken. Wie lange ich das persönlich machen kann, weiß ich nicht, aber die Pläne sind da.

NU: Haben Sie das Gefühl, dass das Bewusstsein in der Stadt inzwischen so groß ist, dass das Jewish Welcome Service auch ohne Sie weiterleben wird?

Leon Zelman: Ich mache das ja nicht allein. Ich habe hinter mir seit Jahren ein gut eingespieltes Team. Meine engste Mitarbeiterin seit 10 Jahren ist so engagiert und ihr traue ich es zu, die Arbeit in meinem Sinn fortzusetzen. Sie ist keine Jüdin, aber ich habe sie ausgewählt.

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