Das Vermächtnis der Gelehrten

Bratislava hat ein reiches jüdisches Erbe zu zeigen – und doch liegt vieles im Verborgenen. Die Wunden, die der Stadt und ihren Bewohnern im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte geschlagen wurden, wirken noch nach. Das sieht man nicht nur im liebevoll gestalteten Jüdischen Museum der slowakischen Hauptstadt.
Von Fritz Neumann und Petra Stuiber (Text und Foto)

Ausgerechnet an einer vierspurigen stark befahrenen Ausfallstraße Bratislavas, dort, wo es lärmt und stinkt, steht dieser schwarze Kubus. Hoch, schlank, abweisend, hinter stählernen Zaunstäben, scheinbar unberührt vom Getöse der Umwelt. Der Kubus, klein aber stolz, hat als Gegenüber einen anderen, riesigen Würfel, das neue schicke Hotel Kempinsky International. Er wendet sich scheinbar ab, inmitten von Autolärm, umbraust von Straßenbahnen und Bussen, abgeschottet, unbehelligt, in sich gekehrt.

„Sanctuary, only for prayers“ steht groß auf der eleganten Rampe, die zu ihm führt, über ein gepflegtes, mit grauem Kiesel bestreutes Feld. Hinter dem Kubus ragt steil ein grüner Hügel empor, darüber, weithin sichtbar, liegt ein Friedhof. Den Hügel durchschneiden schmale Glasstelen, „sie stellen die Schatten all jener Gräber dar, die es nicht mehr gibt“, sagt Juraj Kohlmann leise. Es sind wenige Stelen, verglichen mit den Tausenden, die am ehemaligen Alten Jüdischen Friedhof von Bratislava für immer verschwunden sind.

Das Sakrileg, den Toten, die im Judentum unberührt ewig ruhen dürfen, ihre letzte Ruhestätte zu nehmen – hier wurde es begangen. 1942 baute das Nazi-Marionettenregime des katholischen Priesters und Faschisten Jozef Tiso diese Straße an der Donau. Tausende wurden für immer unter den Aufschüttungen für die Straße begraben, 6000 konnten von der Gemeinde im letzten Augenblick in Massengräber umgebettet werden, nur 23 Gräber, die Tomben der berühmtesten Rabbiner, blieben unberührt – aber auch nahezu unzugänglich, unter einer Straßenbahntrasse in einem Betonbunker förmlich eingegossen.

Das ist eine der großen Wunden der kleinen jüdischen Gemeinde in Bratislava, die nie ganz verheilen. Der so elegante wie abweisende schwarze Kubus, das „Chatam Sofer Memorial“ auf den Überresten des Alten Jüdischen Friedhofes, 2000 bis 2002 nach der Verlegung der Straßenbahntrasse mit US-Spendengeldern slowakischer jüdischer Auswanderer weithin sichtbar errichtet, hat vieles besser gemacht. Aber nicht alles gut. Einige in der jüdischen Gemeinde von Bratislava meinen bis heute, es sei angesichts der Tragödien der Ver- gangenheit besser, unter sich zu bleiben, sich zurückzuziehen und traditionell zu leben, wie es die Vorväter taten. Sie wollen nur Juden in das Heiligtum am Donauufer lassen, die dort am Grab des großen Gelehrten Chatam Sofer beten wollen. Es gibt andere, die meinen, man müsse möglichst vielen Touristen zeigen, was hier geschehen ist – damit sie verstehen, damit sie erzählen, auf dass es alle hören. Und dann gibt es noch Juraj Kohlmann. Er ist der Mann mit dem Schlüssel zu dieser heiligen jüdischen Gedenkstätte, und er verbindet beide Positionen. Mit denen, die beten wollen, betet er. Mit denen, die wissen wollen, spricht er. Die einen lässt er frei passieren – den anderen verlangt er einen Eintrittspreis ab. „Touristen sollen zahlen“, sagt er. Das sei so in Ordnung, wenn sie eine heilige Stätte besuchen wollten, findet Kohlmann, der fast täglich Besucher durch das Heiligtum führt.

Es ist mehr als ein vordergründiger Disput zwischen Orthodoxen und Liberalen, der in Bratislava geführt wird. Es ist auch die Fortführung einer Jahrhunderte alten Tradition, für die die k. u. k. Krönungsstadt Pressburg einst über die Grenzen der Habsburgermonarchie berühmt war. Hier lebte und lehrte 33 Jahre lang, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Moshe Chatam Sofer, Begründer der modernen Orthodoxie im Judentum, ein weiser Mann, „der letzte, der bis heute von allen Juden verehrt wird“, wie Kohlmann betont.

Chatam Sofer erlebte hautnah, wie das Toleranzpatent Josefs II. die Juden veränderte. Sie erwarben Grund und Boden, zogen in die gutbürgerlichen Viertel der Mehrheitsbevölkerung, pflegten nicht oder nur mehr schlampig die jüdischen Feiertage, schwänzten die Synagoge und assimilierten sich. Sofer, der Oberrabbiner, war überzeugt, dass dies nicht lange gutgehen konnte, dass nicht viel bleiben würde von den Juden, wenn sie Religion und Tradition missachteten. So schickte sich der gelehrte Mann an, den 613 Gesetzen der Thora die zahlreichen jüdischen Bräuche und Gewohnheiten hinzuzufügen und in Gesetzesrang zu heben – um eben die Einzigartigkeit des Judentums zu retten und zu pflegen. Bis heute wird der aus Frankfurt am Main stammende Oberrabbiner dafür weltweit verehrt, das beweisen die vielen Gläubigen, die ihm heute noch unter dem Kubus in Bratislava ihre Reverenz erweisen. Dort ruht der Verehrte in seinem Grab, rund um ihn 22 andere hoch geachtete Rabbiner. Die Legende sagt, der reaktionäre Katholik Tiso habe den biblischen Fluch des Chatam so sehr gefürchtet, dass er dessen sterblichen Überreste nicht anrühren ließ. Die Geschichte weiß, dass wohl viel Schmiergeld von Mitgliedern der verängstigten jüdischen Gemeinde an korrupte Bürokraten des Tiso-Regimes geflossen ist, um die Schändung des Grabs zu verhindern. „Ein Wunder ist es dennoch, dass Tiso nicht wortbrüchig geworden ist und die Sarkophage und Grabsteine erhalten wurden“, sagt Juraj Kohlmann.

Wenig genug zeugt in Bratislava vom blühenden jüdischen Leben vergangener Jahrhunderte. Die meisten Bauwerke sind verschwunden – wie die Menschen, die sie errichtet und in ihnen gelebt haben. Was die Nazis und ihre Büttel nicht vernichteten, „erledigten“ die Kommunisten. Das ehemalige jüdische Viertel, das mittelalterliche Ghetto, das sich an die steilen Hänge des Pressburger Burgberges schmiegte, musste den Straßenbauplänen der neuen Machthaber weichen. Von der Judengasse (Zidovská) existieren nur noch Reste, dicht an der Schnellstraße, die über die Neue Brücke (Nový most) in die Altstadt führt. Jene mittelalterlichen und barocken Häuser, die nicht den Straßen weichen mussten, verfielen – und wurden in den 60er-Jahren abgerissen. Von drei Synagogen gibt es heute nur noch eine.

Am „Fischplatz“, am unteren Ende der Altstadt, nahe der Donau, steht seit Mitte der 90er-Jahre eine fünf Meter hohe Bronzestatue des slowakischen Künstlers Milan Luka – an der Stelle, an der einst der prächtigste Tempel der Stadt stand. Sie gemahnt an jene 70.000 Juden, die zwischen 1942 und 1944 vom Tiso-Regime im Auftrag der Nazis deportiert und getötet wurden.

Tiso war ein williger Handlanger Hitlers. Er regierte die Slowakei als Satellitenstaat Hitler-Deutschlands, und das bedeutete, dass bereits im September 1940 der „Sonderberater der slowakischen Regierung für die jüdische Frage“, SS-Hauptsturmbannführer Dieter Wisliceny, in Bratislava eintraf. Dem engen Mitarbeiter Adolf Eichmanns gingen die bereits erlassenen „Arisierungs-Gesetze“ nicht weit genug. Auf sein Betreiben erließ das slowakische Regime im September 1941 jene berüchtigten „antijüdischen Gesetze“, die alle bisherigen Unterdrückungsmechanismen in den Schatten stellten. Sie stellten neben den Nürnberger Rassegesetzen die schärfsten antijüdischen Verordnungen in Europa dar. Sogar Briefe mussten mit einem Judenstern gekennzeichnet werden, eine Maßnahme, die nicht einmal für das Deutsche Reich eingeführt worden war.

An diese dunkle Zeit erinnert heute das „Museum der jüdischen Kultur“, das am oberen Ende der Zidovská in einem Bürgerpalais aus dem 16. Jahrhundert untergebracht ist. Doch man sieht nicht nur die Bilder der Deportierten, Dokumente aus jener Zeit und Fotos von jüdischen Männern und Frauen, die trotz aller Not und Gefahr ihren Mitmenschen halfen, wo sie konnten. Das Museum wird unterhalten und betrieben vom slowakischen Staat.

Gezeigt werden auf zwei Stockwerken Artefakte, die mit jüdischem Alltag und jüdischen Feiertagen verbunden sind. Ausgestellt ist auch der festlich gedeckte Sabbat-Tisch, das Interieur einer Synagoge, die Wände zieren Fotos von alten Gebäuden, die es längst nicht mehr gibt. Jüdischer Gelehrsamkeit und Bildung ist ein separater Teil der Ausstellung gewidmet, der von Porträts berühmter Rabbiner in der Slowakei dominiert wird. Im Keller finden sich noch ein paar von der Zerstörungswut gerettete Grabsteine, sie stellen symbolisch den zerstörten jüdischen Friedhof dar.

Im Erdgeschoß, im ehemaligen chassidischen Gebetshaus, sind die Namen jener großen jüdischen Persönlichkeiten aus der Slowakei aufgelistet, die über die Grenzen ihres Landes bekannt waren. Etwa Alfred Wetzler, dem 1944 gemeinsam mit Rudolf Vrba die Flucht aus dem Lager Birkenau gelang. Seine Schilderungen über die Zustände und Verbrechen im Konzentrationslager wurden später von den Amerikanern veröffentlicht und waren wichtiges Zeugnis der Anklage im Auschwitz-Prozess. Oder der Architekt Eugen Rosenberg, der bei Le Corbusier in Paris studierte und bis zu seinem Tod 1990 in London lebte.

Ebenfalls ein berühmter slowakischer Jude war Eugen Bárkóny, der Zivilingenieur und Architekt, der nicht nur die Architektur von Synagogen studierte und 1929 das erste jüdische Museum auf tschechoslowakischem Boden in Prešov erbaute, sondern auch die erste Enzyklopädie über die Juden in der Slowakei schrieb.

Doch der berühmteste slowakische Jude ist wohl Ladislav Löwenstein – besser bekannt unter seinem amerikanischen Künstlernamen Peter Lorre. Mit Filmen wie „Casablanca“ verarbeitete der kleine große Schauspieler mit den todtraurigen großen Augen wohl auch das Schicksal seiner eigenen Vertreibung.

Heute leben nur noch 3000 Juden in der Slowakei, die jüdische Gemeinde von Bratislava zählt ungefähr 700 Mitglieder. Der Glanz von „damals“, als der viel geliebte Gelehrte Chatam Sofer nachdenklich durch das Ghetto unter der Habsburger-Burg wandelte, ist längst verblichen. Lebt der Disput von damals zwischen Orthodoxen und Liberalen weiter? „Ach wissen Sie, alles halb so schlimm“, lacht Juraj Kohlmann vor dem Memorial des Gelehrten leise in sich hinein. „Die Gemeinde ist orthodox, aber die Mitglieder sind liberal.“

MUSEUM DER JÜDISCHEN KULTUR IN BRATISLAVA:
Zsigrayova Kúria, Zikdovská 17
Tel.: +421 2 54418507
Öffnungszeiten: So – Fr., 11:00 – 17:00 Uhr
Eintrittspreis: 7 Euro, ermäßigt 2 Euro
www.snm.sk

CHATAM SOFER MAUSOLEUM:
Nábrezie arm. Gen. L. Svobodu
Tel: +421 903 821 432, +421 903 221 842
E-Mail: znoba@znoba.sk
www.chatamsofer.com
Eintrittspreis: Bei Besichtigung
5 Euro pro Person
Bei Andacht und Gebet kein Eintrittspreis
Es ist notwendig, die Besichtigung im voraus zu reservieren.

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