Das Theresienstädter Tagebuch der Helga Pollak-Kinsky

Das vor kurzem erschienene Kindertagebuch einer der letzten Zeitzeuginnen aus dem Ghetto Theresienstadt wirft Fragen nach der Vergangenheitsbewältigung in Österreich auf.
VON KATJA SINDEMANN

Helga Pollak-Kinsky ist eine freundliche alte Dame, der man nicht anmerkt, dass sie Schlimmes durchgemacht hat. Sie spricht konzentriert und nüchtern über das, was ihr in Theresienstadt, Auschwitz und Öderan, einem Nebenlager von Flossenbürg, widerfahren ist. Nur wenn die Rede auf ihre Verwandten, insbesondere ihren Vater kommt, treten Tränen in ihre Augen. Sie ist gewohnt, als Zeitzeugin in Schulen und Institutionen über ihre Erlebnisse zu sprechen. Dennoch: Dass sie beim heurigen Holocaust-Gedenktag vor der UNO in Genf vortragen sollte, war für sie eine Herausforderung. Angefangen hat es in den 1990er-Jahren. Damals trafen sich erstmals Überlebende, die als Kinder im Ghetto im Mädchenheim, Zimmer 28, untergebracht waren. Sie wollten die Erinnerung an die ermordeten Kameradinnen aufrechterhalten. Die deutsche Journalistin Hannelore Brenner-Wonschick machte es sich zur Aufgabe, über ihr Schicksal zu berichten. Damals war über die Kinder in Theresienstadt kaum etwas publiziert. Erst erschien ein Radiofeature über die Kinderoper Brundibar, 2004 das Buch Die Mädchen von Zimmer 28 mit Erinnerungen von zwölf Überlebenden und jetzt Mein Theresienstädter Tagebuch 1943–44 von Helga Pollak- Kinsky.

Vergleichbar dem Tagebuch der Anne Frank
Helga wuchs in Wien als einzige Tochter von Otto und Frieda Pollak auf, die ein Kaffeehaus beim Westbahnhof betrieben. 1938 wurde sie in die Tschechoslowakei gebracht, während die Mutter nach England flüchtete. Im Jänner 1943 wurde Helga mit ihrem Vater und weiteren Verwandten nach Theresienstadt deportiert. Ihr Tagebuch setzt am 17. Jänner ein: hektisches Packen, das Verlassen des vertrauten Heims, Fahrt und Ankunft. Helga wird in Gebäude L410 untergebracht: 30 Mädchen auf 28 m². Im Tagebuch schildert sie den Kontakt mit den Zimmergenossinnen und Reibereien mit den Betreuerinnen. Sie beschreibt, wie es ihrem Vater, Verwandten und Bekannten ergeht. Da sie oft krank ist, muss sie ins Marodenzimmer. Großen Raum in ihrem Denken nehmen Nahrungsmittel ein: Was es zu essen gibt, was per Paket gekommen ist. Von den Theater-, Konzert- und Opernaufführungen ist sie entzückt. Sie träumt davon, später Ärztin zu werden. Ergänzt werden ihre Einträge durch die Notizen ihres Vaters, die sich mit Helgas Entwicklung und Ereignissen im Ghetto befassen. Ergänzt wurden die Aufzeichnungen durch die Herausgeberin, die historische Hintergrundinformationen und Helgas heutige Erinnerungen im Buch präsentiert. Familienfotos, Kinderzeichnungen, Briefe, Postkarten und Dokumente veranschaulichen die Erzählung.

Das Tagebuch endet am 5. April 1944 – der folgende Band wurde zerstört. Ab da zeichnen Otto Pollaks Notizen und Helgas Erinnerungen ihren Weg nach: Transport nach Auschwitz im Oktober 1944, Selektion an der Rampe, Arbeitslager Öderan, Evakuierung, Rückkehr nach Theresienstadt und Befreiung. Das Buch endet mit Briefen aus der Nachkriegszeit, einem Abriss von Helgas weiterem Lebenslauf sowie einem Nachwort des Klagenfurter Erziehungswissenschaftlers und Mauthausen-Komitee-Vorstands Peter Gstettner, in dem er schreibt: „Die Geschichte der jugendlichen Helga Pollak ist ein Modellfall der Erinnerung und des Gedenkens an das Schicksal der europäischen jüdischen Kinder. Ihre autobiografischen Aufzeichnungen sind vergleichbar mit dem Tagebuch der Anne Frank.“

Ghetto-Kenntnis vorausgesetzt
So berührend sich das Tagebuch liest, insbesondere das liebevolle Verhältnis von Vater und Tochter, so muss doch bedacht werden, dass es um Gedanken eines damals 13-jährigen Kindes handelt. Großen Raum nehmen die typischen Probleme von Zu- und Abneigung junger Mädchen ein. Ausführlich beschreibt Helga die Nahrungsmittel, die verfügbar waren – eine Folge des steten Hungers. Hier könnte jedoch leicht ein falscher Eindruck entstehen. Manchmal wäre mehr Hintergrundinformation wünschenswert gewesen. Der Besuch der Delegation des Internationalen Roten Kreuzes am 23. Juni 1944 bleibt ebenso unkommentiert wie Helgas Mitwirken an den Dreharbeiten für den Propagandafilm Der Führer schenkt den Juden eine Stadt unter der Regie Kurt Gerrons. Auch die Zählung im Bauschowitzer Kessel am 11. November 1943, bei der etliche Insassen starben, hätte eine Erklärung verdient. Eine gewisse Grundkenntnis des Ghettos Theresienstadt ist jedenfalls für das Verständnis hilfreich. Und man darf nicht vergessen: Kinder waren in Theresienstadt besser versorgt, weil der Ältestenrat beschlossen hatte, in diese Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft zu investieren. Hingegen starben ältere Menschen zu Tausenden an Hunger, Entkräftung und Krankheiten.

Am Ende war ich der SA-Mann
Das Buch liefert auch Einblicke in die Nachkriegszeit: Während Helga zu ihrer Mutter nach London reiste, kehrte ihr Vater nach Wien zurück. Im Gespräch erzählt sie, dass dieser nach der Shoa ein gebrochener Mann war. Den Verlust seiner gesamten Familie hat er nicht verkraftet. Sein geliebtes Kaffeehaus konnte er nicht wiedereröffnen: Es war von der französischen Besatzungsmacht beschlagnahmt worden. Bezeichnend für das Klima in der Stadt sind die Briefe von Otto Pollak aus dem Jahr 1945: „In Wien musste ich das hastige Bestreben aller, die Vergangenheit vergessen zu machen, belächeln. Ich beobachte die Mimikry der Wiener, die sich einen neuen Anstrich geben wollen, um in der neuen Umwelt nicht aufzufallen. Die Korszil (Anm. eine Verwandte) wollte in unserem Hause eine Wohnung, und als man daran gehen wollte, eine Naziwohnung zu räumen, will niemand bei der Partei gewesen sein. So erlaubte ich mir das bittere Scherzwort ‚Zum Schluss werde ich der SA-Mann gewesen sein‘.“

Unterschied zwischen Deutschland und Österreich
Das Erscheinen des Tagebuches wurde von hiesigen Medien breit wahrgenommen. Erstaunlich ist jedoch, dass Helga Kinsky, die seit vielen Jahren als Zeitzeugin arbeitet, mehrheitlich von deutschen Stellen eingeladen wird, weniger von österreichischen. Sie war im Deutschen Bundestag, im Leipziger Gewandhaus, in der Berliner Akademie der Künste. Nach der Diskrepanz befragt, antwortet sie: „In Österreich wird nicht viel Zeitzeugenarbeit gemacht. Im Unterricht wird der Zweite Weltkrieg in zwei bis vier Stunden erklärt, inklusive Holocaust. Mauthausen wurde nicht adäquat als KZ gezeigt. Seit der Renovierung werden Zivildiener schnell geschult, während in Deutschland KZ-Guides richtig ausgebildet werden. Da besteht ein großer Unterschied.“

In Deutschland erlebt Helga Kinsky immer wieder große Offenheit, privates Engagement, persönliche Initiative. Für ihre Arbeit wurde sie vergangenen Herbst mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Wie war das: Der Prophet gilt nichts im eigenen Land?

Helga Pollak-Kinsky
Mein Theresienstädter Tagebuch 1943–1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak
Hannelore Brenner (Hg.)
Edition Room 28, Berlin 2014
286 Seiten, EUR 22,-

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