Das Schicksal setzt den Hobel an

Die österreichische Psychiatrie hat jahrzehntelang ein großes, gesellschaftliches Thema verdrängt. Hunderttausende Täter, Mitläufer und deren Kinder haben den Schrecken des Krieges miterlebt und nicht verarbeitet. Jetzt brechen die Bilder der damaligen Ereignisse nochmals in voller Schärfe über sie herein. Und die Symptome nach diesen traumatischen Erfahrungen ähneln frappant jenen, unter denen Shoah-Opfer zu leiden haben.
Von Peter Menasse

Fritz L. kämpfte in den 1930er Jahren in Spanien als Freiwilliger in der republikanischen Armee gegen das Faschisten-Heer Francos. Er wurde hinter der spanisch-deutschen Front im Feindgebiet eingesetzt, um dort, gemeinsam mit einem zweiten Kameraden, Brücken und Straßenverbindungen zu sprengen. Monate hindurch lebten die beiden jungen Männer in ständiger Todesangst. Nach der Niederlage der Demokraten kam Fritz L. in ein französisches Auffanglager, abgemagert bis auf die Knochen, entkräftet, dem Tod nah und immer in Gefahr, an die Deutschen ausgeliefert zu werden. Seine traumatischen Erfahrungen wurde er nie wirklich los. Am Abend seines Lebens brachen sie dann voll wieder durch. Er schob sich sein Bett nahe zur Eingangstür, um jeden Eindringling sofort zu hören, sprach in jahrzehntelang nicht mehr gebrauchten französischen Befehlen und legte nächtens einen alten Säbel neben sich, um die Faschisten abzuwehren. Sein Sohn, der ihn betreute, konnte ihn nicht davon überzeugen, dass ihm keine Gefahr drohe. Die Bilder von früher standen auf und bedrohten ihn, als ob nicht schon siebzig Jahre vergangen wären. Die nahezu selben Symptome zeigt ein anderer alter Mann. Franz M. (Name vom Verfasser geändert) liegt in einem Wiener Pflegeheim. Er ist ein unangenehmer Patient. Er kann nicht schlafen und stört die Ruhe im Heim. Nur wenn er vor dem Schlafengehen ein Glas Wein zu trinken bekommt und die Nacht hindurch ein Messer neben sich liegen haben darf, findet er Ruhe. Der Mann, so hat es den Anschein, halluziniert Verfolgungsideen und braucht ein Messer, um sich sicher zu fühlen. Also verschreiben die Mediziner Neuroleptika und steigern, als diese nicht die erwartete Wirkung zeigen, die Dosis. Bald leidet Franz M. an Nebenwirkungen, ohne dass sich sein Zustand verbessert hätte. Bis eines Tages David Vyssoki, der ärztliche Leiter von Esra und Spezialist für Trauma-Behandlung, ihn kennen lernt. Trauma des Täters Das Gespräch mit ihm gehörte zu den schwierigsten Erfahrungen, die Vyssoki in seiner bisherigen beruflichen Laufbahn zu bewältigen hatte. Sind es sonst Shoah-Opfer, die ihm ihre Leidensgeschichte berichten, ist er hier auf einmal mit einem Täter konfrontiert, der ihm über Morde an unschuldigen Menschen berichtet. Franz M. war Soldat der deutschen Wehrmacht und, wie der abgeklärte Psychiater Vyssoki es ausdrückt, „kein unbedingt friedlicher Zeitgenosse“. Er hatte mehrere Menschen ermordet, bevor er in russische Kriegsgefangenschaft geriet und zum Tode verurteilt wurde. In der Todeszelle erschienen ihm mit einem Mal all die Menschen, die er auf dem Gewissen hatte. Ständig sah er ihre Gesichter, wurde von ihnen verfolgt. Schließlich wurde seine Verurteilung in eine Haftstrafe umgewandelt, und einige Jahre nach dem Krieg durfte er nach Österreich zurückkehren, wo er sich eine bürgerliche Existenz aufbaute. Jetzt, an der Kippe zum Tod, schwach und pflegebedürftig, kommen die Toten plötzlich wieder über ihn. Sie tauchen in der Nacht auf, in derselben Bildqualität wie seinerzeit in der Todeszelle, ganz so, als ob nicht bereits mehr als sechzig Jahre vergangen wären. Nur mit einem Messer neben sich kann der Mörder durchhalten. Den beiden Männern, dem Antifaschisten wie dem faschistischen Täter, ist gemeinsam, dass sie ein Trauma erlitten haben. Sie sind durch Ereignisse gegangen, die außerhalb jeder vorstellbaren Norm liegen und für deren Bewältigung die psychische Struktur eines Menschen nicht geeignet ist. Die Folgen solcher Erlebnisse begleiten ihre Opfer das ganze Leben hindurch. Sie reichen von körperlicher Erkrankung, unterdrücktem Schmerz, Unruhe, Nervosität, Schlaflosigkeit, innerer Leere bis zu unkontrollierten Wutausbrüchen und Suchtverhalten. Die Fähigkeit von Menschen, traumatische Erfahrungen zu bewältigen, ist ungleich ausgebildet. David Vyssoki spricht davon, dass von 100 Personen, die denselben Schrecken erleben, nach Ablauf eines Jahres 90 mit der traumatischen Situation fertig geworden sind, während das zehn nicht schaffen. Als stärkend erweisen sich positive Erfahrungen in der Bindungszeit, also in den ersten Lebensjahren eines Menschen. Behütet aufgewachsene Kinder sind besser darauf vorbereitet, mit einem Trauma fertig zu werden, als solche, die schon im Kindesalter mit Gewalt oder anderen traumatisierenden Erfahrungen konfrontiert waren. Aus der Arbeit mit Überlebenden aus Konzentrationslagern hat man gelernt, dass Menschen mit einem religiösen oder politischen Anliegen besser zurechtgekommen sind als andere. Wer auch in der schwierigsten Zeit Handlungen setzt, noch so kleine Ergebnisse erzielt und damit das Handeln als sinnvoll erlebt, kann in der Regel später mit den Erlebnissen besser umgehen und entwickelt keine dramatischen Symptome. David Vyssoki und sein Team von Esra betreuen seit 1994 Überlebende der Shoah. Sie haben in ihrer Arbeit gelernt, dass chronisch Kranke – und das sind Shoah-Überlebende wegen der erlittenen Traumatisierung – nach jahrzehntelangen Phasen, während derer sie nicht reden wollten und ihnen auch niemand in der Gesellschaft zuhören wollte, im Alter die Kontrolle über dieses Schweigen verlieren. Als alte schwache Menschen sind sie plötzlich mit dem Schrecken wieder konfrontiert, der so lebensnah in ihnen aufersteht, als wäre er eben erst über sie gekommen. Der Einzelne leidet immer gleich Dasselbe geschieht in den letzten Jahren nun auch mit Menschen, die sich zwar nicht im Wartezimmer von Esra finden werden, aber dennoch traumatische Erfahrungen, wenn auch ganz anderer Art, während des Zweiten Weltkriegs und danach gemacht haben. Der Einzelne leidet immer gleich, egal auf welche Seite des politischen Geschehens ihn seine Herkunft gestellt hat. Und nicht immer lässt sich die Frage nach Schuld oder Unschuld schlüssig beantworten. Wer als Jugendlicher in die Wehrmacht gepresst wurde und im Geschosshagel Todesangst kennen lernte, wer als Kind vertrieben, wer als junge Frau von alliierten Soldaten vergewaltigt wurde, leidet unter denselben Symptomen wie die Opfer des nationalsozialistischen Systems. Aber auch Täter, wie Franz M., erleben das Geschehen ihrer eigenen Geschichte nach vielen Jahrzehnten in aller Schärfe noch einmal. In ihrem Buch „Gefangene Psychiatrie, Soldaten und Kriegstraumata“ hat Nadine Hauer beschrieben, dass eine große Zahl von Wehrmachtssoldaten den Anforderungen ihrer Einsätze nicht gewachsen war. Obwohl die Kriegstraumata dieser Soldaten die österreichische Gesellschaft nachhaltig geprägt hätten, wurden sie auch nach dem Krieg nicht als psychische Spätfolgen anerkannt. Es sei bezeichnend, dass sich viele, nach 1945 erstellte psychiatrische Gutachten kaum von jenen der NS-Zeit unterschieden hätten. Analog zur österreichischen Gesellschaft habe sich die Psychiatrie der Auseinandersetzung mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit entzogen. David Vyssoki, der neben seiner Tätigkeit bei Esra auch Kranke in Wiener Spitälern betreut, ist mit dieser Problematik voll belastet. Ihm, dem jüdischen Psychiater, kommt jetzt die Aufgabe zu, sich in therapeutischen Gesprächen mit der Geschichte der Täter auseinander zu setzen und zu konfrontieren. Die Geburtsjahrgänge 1930 bis 1942, von denen viele Traumatisches erlebten, sind heute zwischen 64 und 76 Jahren alt. Sie machen rund 22 Prozent der österreichischen Bevölkerung aus und kommen in ein Alter, in dem der oben beschriebene Prozess beginnt, dass sich Erlebtes nicht mehr länger verdrängen lässt. Dazu kommt, dass in den Familien und Schulen keine Reflexion des Erlebten geleistet wurde. Kinder, die früh ihren Vater verloren oder jahrelang vermisst haben, solche, die vertrieben wurden und in einer neuen Umgebung heimisch werden mussten, solche, die grausame Kriegsereignisse und Bombenangriffe miterleben mussten, haben über Jahrzehnte den Deckel auf der Truhe ihrer schrecklichen Erinnerungen niederhalten können. Langsam aber fehlt ihnen die Kraft dazu, der Deckel klappt hoch und das Geschehen kommt erneut über sie. Sollen diese Menschen richtig und zielführend behandelt werden, müssen sich die österreichischen Psychiater darauf einlassen, lange individuell wie auch gesellschaftlich Verdrängtes aufzuarbeiten. Und so paradox es auch scheinen mag, am Ende werden die Erfahrungen aus der psychiatrischen Arbeit mit Shoah-Opfern auch den Tätern, den Mitläufern, den Kindern der Täter und den vielen unschuldigen Opfern des Nationalsozialismus zugute kommen. Zur Person Primarius Dr. David Vyssoki ist Mitbegründer und ärztlicher Leiter von Esra (Hebräisch für „Hilfe“). Diese in Wien ansässige Institution versteht sich als „Zentrum zur medizinischen, therapeutischen und sozialarbeiterischen Versorgung von Opfern der Shoah und deren Angehörigen und zur Integrationshilfe für jüdische Migranten“.

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