„Das Letzte, was wir wollen, ist Krieg. Aber das ist nicht unsere Entscheidung.“

Israel und das iranische Atomprogramm: Zehn Fragen an den israelischen Botschafter in Österreich, Aviv Shir-On
Von David Rennert

„Die iranische Nation steht zu ihrem Anliegen der vollständigen Vernichtung Israels“, verkündete vor wenigen Wochen der iranische Generalstabschef Hassan Firouzabadi – just an jenem Tag, an dem der Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), Yukiya Amano, zu neuen Verhandlungen über die Inspektion der iranischen Atomanlagen in Teheran eintraf. Firouzabadi wiederholte damit nur, was schon oft aus Teheran zu vernehmen war: Dass man das „zionistische Krebsgeschwür im Nahen Osten herausschneiden“ und „Israel von der Landkarte ausradieren“ wolle.

Solche Aussagen stehen vor einem beängstigenden Hintergrund: Am nuklearen Waffenprogramm der islamischen Theokratie besteht kein Zweifel. Nach jahrelangem Katzund- Maus-Spiel mit den Inspektoren der IAEO stellte die UNO-Behörde Ende 2011 in einem Bericht fest: Es gibt klare Beweise für Entwicklungen im iranischen Atomprogramm, die keinen anderen Zweck als den Bau von Atomwaffen haben können. Während das iranische Regime weiterhin vorgibt, sein Atomprogramm ausschließlich zur Energieversorgung des Landes zu betreiben, rechnen Experten mittlerweile damit, dass der Iran binnen weniger Monate genügend hochangereichertes Uran zum Bau einer Atombombe herstellen kann.

NU: Herr Botschafter Shir-On, das iranische Regime droht seit langem und wiederholt mit der Vernichtung Israels. Wie ernst muss man diese Drohungen nehmen?

Shir-On: Wir kennen die Region, in der wir leben müssen, besser als viele andere und wissen, dass man gerade im Nahen Osten solche Drohungen besonders ernst nehmen muss. Aber dass hat nicht nur etwas mit dem Nahen Osten selbst, sondern auch mit unseren Erfahrungen – als unabhängiges Land seit 1948, der Vorgeschichte des Staates Israel, und leider auch mit der Geschichte des jüdischen Volkes zu tun. Seit dem, was hier in Wien am Heldenplatz 1938 geschehen ist, haben wir gelernt, denjenigen zu glauben, die mit unserer Vernichtung drohen. Lehren aus der Geschichte gibt es leider viele. Schon während der Diskussion über die Entstehung eines jüdischen Staates vor der UNO 1947 haben die Araber gedroht, sollte es zu einer jüdischen Unabhängigkeit kommen, würde man militärisch angreifen. Viele hielten das damals nur für Rhetorik. Zwei Stunden nach der Ausrufung des Staates Israel gab es Krieg, alle sind einmarschiert, um uns auszulöschen. Dass es ihnen nicht gelungen ist, war Glück, aber seitdem gibt es Kriegszustand zwischen Israel und seinen Nachbarn, mit einigen Ausnahmen. Drohungen haben wir schon oft gehört, und Angriffe auf israelische, auf jüdische Ziele im Inund Ausland sind nun einmal Tatsachen. Und wenn Ahmadinejad sagt, ich möchte Israel von der Landkarte ausradieren, nehmen wir diese Drohung ernst.

Der iranische Präsident Mahmoud Ahmadinejad musste in den vergangenen Parlamentswahlen einen Machtverlust hinnehmen. Ändert das irgendetwas an der Situation? In diplomatischer Hinsicht etwa?

Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied macht. Er ist immer noch der Präsident und für uns ist er eine Führungsfigur im Iran, er steht für den Iran. Übrigens: Wir haben nie den Iran oder das iranische Volk als unseren Feind gesehen. Das war eine iranische Entscheidung, und das Regime hat Schritte gemacht und Maßnahmen ergriffen, um diese Feindschaft hochzuspielen und zum Ausdruck zu bringen. Die Drohungen von Ahmadinejad sind ein Teil davon, und solange er Präsident ist, haben wir mit diesem Regime ein Problem. Es steht uns nicht zu, zu entscheiden, wer im Iran regieren soll. Wenn die Iraner dieses Regime wollen, ist es ihre Sache. Wir müssen uns aber vergewissern, dass es keine Gefahr für uns bedeutet.

Die größte Gefahr ist das iranische Atomprogramm, das allerdings sehr intransparent ist. Wie ist der derzeitige Stand der Dinge, was weiß man konkret?

Es gibt natürlich Kernkraftwerke, die für Energie gebraucht werden, es gibt nukleare Zentren, die der Forschung dienen – das gibt es fast überall auf dieser Welt. Tatsache ist aber: Es gibt Indizien, die auf ein atomares Waffenprogramm hinweisen. Das ist nicht einfach eine Einbildung Israels, das sind technische, wissenschaftliche Erkenntnisse. Nicht israelische Politiker, sondern Wissenschaftler auf der ganzen Welt haben ganz klar festgestellt, dass gewisse Dinge, die man im Iran entdeckt, gesehen und gehört hat, klar darauf hindeuten, dass es ein militärisches Nuklearprogramm gibt. Hinzu kommt noch die Entwicklung eines Raketenprogramms – ein Trägersystem von Raketen, die eine Reichweite von über 3000 Kilometern haben. Das ist keineswegs ein Verteidigungssystem. Wir haben auch ein Raketenabwehrsystem entwickelt – das „Arrow-System“ – aber das sind keine Trägerraketen, die 3000 oder 5000 Kilometer weit fliegen können. Schon als konventionelle Waffe ist das iranische Raketensystem ein Problem. Aber zusammen mit einem Programm, das erwiesenermaßen auf Atomwaffen zielt, ist es eine massive Bedrohung, und zwar nicht nur für Israel. Deswegen ist jetzt auch die internationale Gemeinschaft am Ball.

Ende 2011 hat die IAEO in einem Bericht festgehalten, dass es klare Hinweise auf ein iranisches Atomwaffenprogramm gibt. Trotzdem wird das von vielen Seiten immer noch relativiert und als unglaubwürdig bezeichnet. Wie erklären Sie sich das?

Zum einen ist es natürlich so, dass der Mensch wohl immer optimistisch bleiben möchte. So lange man keine Atombombe sieht oder der Iran den Bau offen zugibt, sagen viele Menschen: „Vielleicht ist es nur eingebildet oder es ist nur Propaganda“ – von Israel oder wem auch immer. Zum anderen sind viele, die daran zweifeln, keine Fachleute in Sachen Nuklearwaffen oder Kernforschung. Aber mittlerweile wurde durch die IAEO, im Weltsicherheitsrat, in Nachrichtendiensten und Regierungen rund um die Welt festgestellt, dass etwas dran ist. Der Weltsicherheitsrat, die EU und die USA haben Sanktionen über den Iran verhängt, viele einzelne Länder haben ihre eigenen Maßnahmen erklärt. Das alles ist nicht passiert, weil Israel die Welt überzeugen konnte, sondern, weil die Welt sich selbst davon überzeugt hat, was da los ist. Eine Bedrohung wird durch viele Faktoren festgelegt, im nachrichtendienstlichen Bereich gibt es aber zwei Hauptelemente zur Analyse einer Gefahr oder Bedrohung: Erstens Intentionen, zweitens Fähigkeiten. Wenn ein fünfjähriges Kind im Kindergarten sagt, „Ich werde morgen Israel oder USA oder Iran angreifen“, dann wird man sich sicher nicht freuen über eine solche Aussage, aber es steht nichts dahinter, keine Fähigkeiten. Wenn die Schweiz morgen erklären würde, ein Atomwaffenprogramm zu starten, wird man sich auch nicht darüber freuen, aber: Ein Atomwaffenprogramm in der Schweiz, einem neutralen, friedlichen Land im Zentrum Europas, würde wohl auch eher nicht als Bedrohung empfunden werden. Wenn aber Ahmadinejad, der sagt „Ich will Israel ausradieren“, Atomwaffen und Raketen entwickelt – diese zwei Elemente zusammen stellen eine klare Bedrohung dar, und das ist das Entscheidende.

Sollte der Iran tatsächlich Atomwaffen fertigstellen können, was würde das, abgesehen von den konkreten Vernichtungsdrohungen gegen Israel, für die Region bedeuten?

Wir glauben, dass es ein klarer destabilisierender Faktor in der ganzen Region wäre. Wenn Sie heute durch den Nahen Osten reisen, werden Sie hören und spüren, dass nicht nur Israel den Iran als Bedrohung empfindet. Eine weitere Destabilisierung des Nahen Osten könnte äußerst problematisch sein, besonders seit dem sogenannten „Arabischen Frühling“, wo in der arabischen Welt die Dinge sowieso nicht ganz stabil sind. Niemand weiß, wohin es geht, islamische Kräfte, ja oder nein, Demokratie, ja oder nein. Käme dann noch eine militärische Sicherheitsbedrohung durch Teheran hinzu, könnten die Auswirkungen verheerend sein – ein nuklearer Wettlauf wäre zu befürchten.

Welche Optionen gibt es zum jetzigen Zeitpunkt? Glauben Sie, durch Sanktionen kann eine iranische Atombombe überhaupt noch verhindert werden?

Das ist unsere Hoffnung. Wir haben Sanktionen schon lange als erforderlich gesehen, nun ist auch die internationale Gemeinschaft darauf eingegangen. Wir glauben, dass Sanktionen und Diplomatie den Iran durchaus noch zum Einlenken bewegen können, aber: Wir sind auch der Meinung, dass alle Optionen auf dem Tisch bleiben müssen, denn nur so ist der Druck glaubwürdig – vor dem Hintergrund von Konsequenzen. Und diese Konsequenzen sind ganz verschieden. Von schärferen politischen Maßnahmen, wirtschaftlichen Sanktionen bis hin zu möglichen militärischen Maßnahmen – was sicherlich erst ganz am Ende steht. Aber die Konsequenzen müssen glaubwürdig sein, gerade weil wir es mit einem undemokratischen Regime zu tun haben.

Wie bewerten Sie die Rolle der Europäischen Union im Umgang mit dem iranischen Regime?

In der EU hat es lange gedauert – zu lange – bis man die Gefahr erkannt hat und sich auf Maßnahmen einigen konnte. Aber das hat natürlich auch mit der Natur der EU zu tun. Wir wissen, dass es ist nicht einfach ist, 27 Länder auf einen gemeinsamen außenpolitischen Kurs zu bringen. Das hat nichts mit Iran oder mit Israel zu tun, das ist auch in anderen Bereichen so. Ich glaube, mittlerweile ist auch der EU das iranische Problem bewusst. Die EU ist ein bedeutender Faktor in der Weltpolitik und es ist wichtig, dass hier ein Signal ausgesendet wird. Wir hoffen, dass es auch weiter in diese Richtung geht.

Wie wahrscheinlich ist es, dass es zu militärischen Maßnahmen kommt?

Unser Ziel ist eins: Dass Irans Atomprogramm gestoppt wird. Wenn die Iraner jetzt durch politischen Druck und wirtschaftliche Sanktionen zu dem Schluss kommen, dass es auch für sie besser ist, wenn sie dieses Programm aufgeben, wäre es die beste Lösung. Wenn der Iran auf alle Maßnahmen der Internationalen Gemeinschaft pfeift, dann könnte es zu einer militärischen Kollision kommen. Ich hoffe, dass dies nicht der Fall sein wird, und ich glaube, gerade wir Israelis wissen, leider, was Krieg bedeutet. Ich bin 60 Jahre alt, bin in Israel geboren, ich habe schon acht Kriege miterlebt und mitgekämpft, als Kind, als Jugendlicher, als Panzeroffizier, als Diplomat – ich weiß, was Sache ist. Das Letzte, was wir wollen, ist Krieg. Aber das ist nicht unsere Entscheidung.

Wie geht die israelische Bevölkerung mit dieser Situation um? Ist es nicht schwierig, in so einem kleinen Land unter ständiger Bedrohung zu leben?

Die meisten Menschen in Europa kennen zum Glück keinen Krieg mehr. Manchmal fällt es mir schwer als Israeli – nicht nur als Botschafter – zu erklären, was es bedeutet, mit einer ständigen Sicherheitsbedrohung leben zu müssen. Das macht in der Mentalität, in der Psyche eines Menschen etwas aus, das macht in der täglichen Routine etwas aus. Wenn man bei uns in ein Einkaufszentrum, in ein Theater oder eine Bibliothek geht, wird man kontrolliert, die Taschen werden durchsucht. Das sind Dinge, mit denen man leben muss. Für manche ist es noch viel schlimmer, etwa für die Menschen, die am Gazastreifen leben und fast jeden Tag von Raketen angegriffen werden. Sie schicken ihre Kinder in den Kindergarten und zur Schule und wissen nicht, wann, wie und ob sie überhaupt wieder nach Hause kommen. Das macht das Leben unheimlich schwierig. In dieser Hinsicht macht es wenig Unterschied, ob es Raketen aus dem Gazastreifen oder aus dem Libanon sind, Selbstmordattentäter oder eine Rakete aus dem Iran. Wir haben gelernt, damit zu leben. Das heißt aber nicht, dass wir uns damit abfinden.

Israel ist unverhältnismäßig häufig Zielscheibe von Kritik – auch in Österreich. Erst kürzlich nannte der österreichische Verteidigungsminister Norbert Darabos den israelischen Außenminister Avigdor Liberman „unerträglich“ und konstatierte, Israel würde „Außenfeinde wie den Iran oder auch die Palästinenser in den Vordergrund“ stellen, um von inneren sozialen Problemen abzulenken. Was würden Sie ihm antworten?

Das ist sicherlich eine sehr undiplomatische Formulierung. Nachdem das Interview mit Minister Darabos veröffentlicht wurde, hat die österreichische Bundesregierung dazu Stellung bezogen und gesagt, dass die Aussagen des Ministers nicht den Stand der Beziehungen und Positionen der Regierung reflektieren. Insofern ist für mich die Sache erledigt. Ich habe nicht groß darauf reagiert, denn die Reaktion des Außenministeriums war unserer Meinung nach völlig in Ordnung. Die Behauptung, dass Israel Feinde in den Vordergrund stellt, nur um von internen Problemen abzulenken, ist jedenfalls absurd. Erstens, weil unsere innenpolitischen Probleme ganz offen und breit diskutiert werden – Israel ist eine Demokratie, eine pluralistische Gesellschaft. Niemand befasst sich mit unseren Problemen mehr als unsere eigenen Medien, und die werden natürlich auch in der ganzen Welt zitiert und kopiert. Wir sind bekannt als sehr selbstkritisch, manchmal ist es sogar unangenehm für einen israelischen Botschafter, zu lesen, was in den israelischen Zeitungen steht. Die Behauptung, wir wollen ablenken, ist völlig falsch, weil diese Diskussion ja öffentlich stattfindet, im Parlament, in den Medien, auf der Straße. Dazu kommt: Israel wurde ein paar Stunden nach seiner Entstehung angegriffen, um den Staat auszulöschen und uns Juden ins Meer zu werfen. Seitdem gibt es einen Kriegszustand im Nahen Osten, auch zwischen uns und den Palästinensern. Zu behaupten, dass wir die Palästinenser als Feinde in den Vordergrund stellen, um von Problemen abzulenken, ist absurd. Dieser Kriegszustand wurde uns aufgezwungen, von der ersten Stunde an. Mit Iran hatten wir einmal gute Beziehungen, dann hat man sich dort dazu entschieden, Israel auszulöschen, man entwickelt nukleare Waffen und Raketen als Trägersystem – und wir thematisieren das nur, um von unseren Problemen abzulenken? Hat die internationale Gemeinschaft alle Sanktionen und Resolutionen gegen den Iran verfasst, nur weil Israel von innenpolitischen Problemen ablenken will? Das ist eine völlig falsche Einschätzung der Lage.

Aviv Shir-On,
geboren 1952 in Israel, ist seit 2009 Botschafter des Staates Israel in Österreich und Slowenien. Nach dem Studium der Internationalen Politikwissenschaft trat er 1978 in den diplomatischen Dienst ein und war unter anderem in Washington D.C., Bonn und Bern tätig. Zudem fungierte er als mehrjähriger Pressesprecher des israelischen Außenministeriums. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder.

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