„Das ist als Aufhetzung zu verstehen“

Die Sprachwissenschafterin Ruth Wodak untersucht in ihren Studien die Entwicklung der Sprache als Symptom und Symbol für gesellschaftliche Entwicklungen. NU hat mit ihr wenige Tage nach dem Attentat von Norwegen gesprochen.
Von Peter Menasse (Interview) und Peter Rigaud (Fotos)

NU: Sie stammen aus einer jüdischen Familie. Erzählen Sie uns doch ein wenig über Ihre Wurzeln.

Wodak: Meine Eltern sind beide 1938 aus Wien geflüchtet und haben sich später im Exil in England kennengelernt. Mein Vater war immer schon ein sehr politischer Mensch, zunächst bei der Sozialdemokratischen Partei und dann bei den Revolutionären Sozialisten (RS) engagiert. Er ist über schwierige Umwege nach England gekommen. Meine Mutter hatte das Glück, eine Einladung als Putzfrau zu bekommen. Sie fuhr mit ihrem „affidavit“ (Anm.: „beglaubigte Bürgschaftserklärung“) mit dem Zug relativ unbelästigt nach England, weil sie anscheinend nicht so aussah, wie sich die Nazis eine Jüdin vorstellten.

Ihre Kernfamilie ist also relativ gut durch die Schoah gekommen?

Meine Mutter hatte in Wien äußerst traumatische Erlebnisse. Sie wurde aus der Uni geworfen, wo sie in Chemie bei Prof. Mark und bei Prof. Kratky ihre Dissertation begonnen hatte, und musste alle ihre Unterlagen liegen lassen. Dann hat man sie mehrmals gezwungen, „Straße zu waschen.“ Die Bilder solcher Aktionen sind ja bekannt, aber es gibt nur wenige autobiografische Schilderungen von Menschen, die dies tatsächlich erlebt haben. Sie hat mir das immer wieder erzählt und es war für mich wirklich schlimm zu hören, dass die eigene Mutter zu solch einer demütigen Handlung gezwungen wurde.

Und wie ist es ihr in England ergangen?

Nach einer schwierigen Anfangszeit hatte sie dann das Glück, eines von ganz wenigen Stipendien zu bekommen, die von der britischen Regierung an Flüchtlinge ausgegeben wurden. Was die Engländer im Übrigen zu meinem Bedauern heute nicht mehr machen. Sie konnte ihre Dissertation in Manchester zu Ende führen und hat in der Folge mit vielen anerkannten Chemikern, darunter auch mit dem späteren israelischen Ministerpräsidenten Chaim Weizmann zusammengearbeitet. Sie wollte eigentlich nicht mehr nach Wien zurück, ist aber meinem Vater zuliebe doch wieder hergekommen. Er verstand sich als Teil einer Wiederaufbaugeneration, betrat österreichischen Boden noch als englischer Soldat und wurde dann in den österreichischen diplomatischen Dienst aufgenommen. So bin ich also, wiewohl in London geboren, kurz nach meiner Geburt nach Wien verfrachtet worden. Die Biografie meiner Eltern hat mich natürlich sehr geprägt. Bei uns wurde während jeder Mahlzeit über Geschichte geredet, wobei mein Vater gerne endlos doziert und erklärt hat. Ich bin mit Politik und Geschichte groß geworden.

Wie ist es mit der Jüdischkeit heute? Haben Sie irgendeine Beziehung zur Religion?

Ich bin im Jahr 2000 sehr bewusst in die Kultusgemeinde eingetreten. Meine Eltern haben mich nie eingeschrieben, weil sie meinten, mich so beschützen zu können, wenn wieder etwas passieren sollte. Mein Beitritt will heißen, dass ich mich einer Schicksalsgemeinschaft zugehörig fühle, weniger einer religiösen Gemeinschaft.

Das heißt, Sie feiern auch keine jüdischen Feste?

Nein, wenn ich zu Festen eingeladen werde, gehe ich natürlich gerne hin, aber ich veranstalte das nicht. Ich habe dazu auch nichts im Elternhaus gelernt. Es wurde alles von mir ferngehalten. Mein Zugang zum Jüdischsein ist auch stark mit der Sprache verbunden. Ich selbst kann nicht Jiddisch, aber die Lieder und Witze sind für mich ganz wichtig. Mit denen bin ich auch aufgewachsen. Mein Vater war ein großer Witzeerzähler und hat stundenlang Gesellschaften unterhalten können. Der Witz als Mittel zum Überleben, Humor ganz allgemein, sind mir sehr wichtig. Das verbindet uns als Schicksalsgemeinschaft, so unterschiedlich wir auch sein mögen.

Jetzt sind Sie wieder in Ihr Geburtsland zurückgekehrt und unterrichten an der Universität von Lancaster. Wie fühlt sich das an?

Ja, ich arbeite während des Studienjahrs in England und verbringe die restliche Zeit mehr oder weniger in Österreich. Ich arbeite auch noch ein wenig an der Uni Wien und betreue eine kleine Gruppe von Dissertanten und Diplomanden.

Ist die Arbeit an der englischen Universität vergleichbar mit jener in Österreich?

An britischen Unis herrscht eine ganz andere Einstellung zur Lehre und Forschung als hier. Das ist leicht erklärbar, denn Studierende zahlen hohe Studiengebühren und erwerben damit ein Anrecht darauf, dass man sich Ihnen widmet. Sie haben sozusagen den Status von zahlenden Konsumenten. Daher ist alles sehr klar und strikt organisiert und die Studenten haben auch das Recht, sich zu beschweren. Wir Professoren dienen dazu, sie zufrieden zu stellen. Die An- und Abwesenheiten außerhalb der Unterrichtszeiten für uns Lehrende sind recht flexibel, solange man ständig erreichbar ist. Und es gibt genau vorgeschriebene Termine für das Korrigieren von Prüfungsarbeiten. Da ist man unglaublich rigide, anders als das teilweise gehandhabte Laisser-faire an den österreichischen Universitäten. Dieser Dienstleistungscharakter der Unis hat natürlich auch seine Vor- und Nachteile. Der Vorteil ist, dass alles wesentlich besser organisiert ist und die Verbindlichkeiten auf beiden Seiten größer sind. Der Nachteil ist, dass es bei manchen Professoren eine Noteninflation gibt, weil sie ihre Studenten nicht verärgern wollen. Man kennt diese Tendenz, die Studenten besonders nett zu behandeln, auch in den USA als „inflation of marks.“ Da muss man eine bessere Balance finden.

Sie sind Sprachwissenschaftlerin. Welche Sprachen sprechen Sie selbst?

Ich spreche natürlich Englisch und Deutsch fließend. Französisch lese ich sehr gut. Früher habe ich gut Russisch gesprochen, das ist irgendwo hinten in meinem Kopf versteckt, und wenn ich wieder hinführe, käme es wieder zu Tage. Mein Vater arbeitete sechs Jahre als Botschafter in Moskau und ich habe Slawistik im Nebenfach studiert. Da ich in Belgrad aufgewachsen bin, kann ich auch das, was früher Serbokroatisch hieß und jetzt völlig absurder Weise in zwei Sprachen geteilt wurde. Ein bisschen Italienisch verstehe ich auch.

Kommen wir zur sprachlichen Entwicklung der Gesellschaft. Gibt es zuletzt in Österreich identifizierbare Veränderungen der Sprache, wo Sie sagen, daran kann man deutlich sehen, wie sich die Gesellschaft verändert?

Ich glaube, das lässt sich nicht verallgemeinern, das ist in unterschiedlichen Bereichen sehr verschieden. Wir haben gerade eine Pilotstudie gemacht, ein Mitarbeiter von mir, Dr. Markus Rheindorf, und ich, ob sich die deutsche Sprache in Österreich verändert. Es wurden als Medien die APA, die „Kronen Zeitung“ und die „Presse“ analysiert, sowie Mission Statements im Netz und in Broschüren von großen Unternehmen, wie etwa der Voest oder des Verbundkonzerns. Es ist das natürlich keine repräsentative, aber doch gut fundierte Studie, die geeignet ist, Tendenzen aufzuzeigen. Wir haben unter anderem festgestellt, dass die Zeitungssprache verflacht. Das erkennt man aus ganz einfachen Indikatoren. Die Sätze werden kürzer, sind weniger komplex, es wird kaum argumentiert, es wird eher beschrieben und das sowohl in der „Kronen Zeitung“ als auch in der „Presse“. Nur bei den Kultur- und Wissenschaftsjournalisten lässt sich diese Verflachung nicht konstatieren.

Geht die deutsche Sprache jetzt also unter?

Dieser Sprachpessimismus ist sehr beliebt, also dass aufgrund des Fernsehens und der Neuen Medien die Kinder nicht mehr lesen lernen. Man kann das so nicht sagen, es stimmt einfach nicht. Die Sprache wird teilweise bunter, teilweise verflacht sie und teilweise kommen viel mehr englische Begriffe hinein. Auch die Sprache der Politik hat sich in diese Richtung hin geändert und da spielen die Medien, hier vor allem das Fernsehen eine große Rolle. Weil, wenn man im Interview genau dreißig Sekunden Zeit für ein Statement hat, dann kann man nicht unglaublich viel erklären und argumentativ ein Programm darlegen, sondern es geht ruck, zuck, also um „Soundbites,“ kleinste Informationshappen. Man kann beobachten, dass sich die Politik immer mehr auf solche Bilder und Soundbites reduziert.

Anhand welcher Aussagen analysieren Sie dann aber die Entwicklungen in der Politik?

Alles, was programmatisch und ausführlicher argumentiert ist, ist heute in andere Textsorten verbannt. Das findet sich in längeren Interviews, die nicht gerade in der besten Sendezeit im TV laufen. Oder man kann Argumente in Blogs lesen, was oft spannende Aufschlüsse ermöglicht oder man studiert Parteiprogramme. Es ist interessant zu lesen, wie Leute in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden wollen. Auch Reden sind ein gutes Material, um sich ein Bild zu machen.

Der Erfolg von Politikern ist also sehr stark von ihren Kurzbotschaften abhängig?

Wenn Politiker keine „media personalities“ sind, dann können sie nicht reüssieren. Ein gutes Beispiel, jetzt nicht aus Österreich, sondern aus England, ist Gordon Brown, der von vornherein keine Chance hatte. Seine linke Gesichtshälfte ist wegen einer Augenkrankheit aus der Pubertät gelähmt. Daher ist das Gesicht immer so verzerrt und er kann nicht lächeln. Keine Chance somit gegen Tony Blair, der ein absoluter Medienkünstler war, wie im Übrigen auch David Cameron einer ist. Brown hat folgerichtig in den TV-Debatten, die erstmalig in England im Jahr 2010 stattgefunden haben, verblüffend schlecht abgeschnitten. Er hat einfach zu ausführlich argumentiert und verloren, obwohl er inhaltlich sicher am meisten zu bieten hatte.

Welche anderen Entwicklungen in der Politik können Sie beschreiben?

Neben der Verflachung und Verkürzung ist auch eine Radikalisierung zu beobachten. Meines Erachtens gibt es auch hier nicht eine einzige Erklärung. Das ist eine internationale Erscheinung. Wenn wir jetzt über das Attentat in Norwegen reden, das uns alle so betroffen macht, musste ich an den Anschlag denken, bei dem die Senatorin Gabrielle Giffords so schwer verletzt wurde und der von vielen im Zusammenhang mit den Hassreden der Politikerin Sarah Palin gesehen wurde.

Im Radio hat ein deutscher Sozialwissenschaftler genau zu diesem Thema nicht über Sarah Palin gesprochen, sondern über Heinz-Christian Strache.

Wir haben das schon vor vielen Jahren aufgezeigt, dass unter Haider und unter Strache die FPÖ-Rhetorik aufhetzend ist, wobei sich kein kausaler Zusammenhang zu konkreten Taten herstellen lässt. Natürlich kann ich nicht beweisen, dass aufgrund einer Rede oder eines Posters wie jenes vom BZÖ „Wir säubern Graz“ irgendein Roma oder Jude oder ein Pole niedergeschlagen wurde. Aber solche infamen Aussagen tragen atmosphärisch zu einer Verrohung der Einstellungen und Sprache bei und reproduzieren Vorurteile. Im letzten Wiener Wahlkampf hatten wir ja nicht nur das „Wiener Blut,“ ein absolut rassistisches Poster der FPÖ, sondern auch den Cartoon mit dem Buben Mohammed, der unverhüllt eine direkte Aufforderung zum Steine- Schleudern enthielt. Auch wenn die FPÖ sagt, dass das fiktiv wäre, so ist das – meine ich – als Aufhetzung zu verstehen. Ähnliches findet man in Ungarn, dort sind ja einige Roma getötet worden, auch Juden. Ebenso in Polen, in Russland, in den baltischen Ländern oder in Holland.

Gibt es solche Entwicklungen auch in Israel?

Also in Israel habe ich weniger Zugang zu den Medien, weil ich nicht Hebräisch kann, aber von dem, was ich aus „Haaretz“ und der „Jerusalem Post“ zu lesen bekomme und auch von Freunden höre, gibt es Rechtsradikalismus und Fundamentalismus natürlich dort auch. Angeblich hat sich der Attentäter aus Norwegen unter anderem nicht nur auf Österreich und auf einen amerikanischen Dschihad, was immer das auch sein mag, sondern auch auf rechtsradikale Israelis bezogen.

Ist eine Sprachwissenschafterin so kontrolliert, dass sie Verallgemeinerungen vermeiden kann? Sagen Sie so etwas wie, „die Moslems“, oder „die Dicken“, „die Radfahrer?“

Nein, so kontrolliert kann niemand sein – und es ist wissenschaftlich belegt, dass man die Komplexität ständig reduzieren muss, um überleben zu können. Wir brauchen die Verallgemeinerung. Aber wir müssen klarerweise sehr vorsichtig sein, wenn mit Verallgemeinerungen bestimmte Eigenschaften einer scheinbar homogenen Gruppe zugeschrieben werden. Dann dienen sie nämlich dazu, ein starres Schema zu forcieren, das dann sehr schwer wieder zu ändern ist. Wobei das bei Jugendlichen noch ganz gut geht. Aber bei eingefleischten Vorurteilen ist es kaum mehr möglich, diese zu ändern. Wir finden dann häufig zwei Reaktionen. Wenn wir eine positive Geschichte zeigen, sagt man, es handle sich um eine Ausnahme, dann ist eben dieser Eine nett, der eine Jude oder der eine Türke. Und eine negative Geschichte bestätigt nur das Vorurteil. Wenn wir auf die Sprache der Politik zurückkommen, so erleben wir das immer wieder. Der „Mohammed“ steht für alle Türken, eine verschleierte Frau für alle muslimischen Frauen usw. Das setzt sich dann natürlich fest. Klarerweise entfaltet das auch konkrete Wirkungen, aber nicht eine unmittelbare, kausale. Darum können Politiker immer sagen: „Na ja, beweisen könnt ihr uns nicht, dass eine Tat unmittelbar mit unseren Worten in Verbindung steht.“ Und doch ist es leicht vorstellbar, welche Assoziationen auftreten, wenn wir an das BZÖ-Plakat mit der Aufschrift „Wir säubern Graz – Wir fegen das Übel aus der Stadt“ denken. Das ist eine indirekte Aufforderung, die in ihrer Eindeutigkeit wohl kaum mehr zu überbieten ist, nämlich, dass bestimmte Gruppen von Menschen quasi aus der Stadt „weggefegt“ gehören. Ganz abgesehen davon, dass ich aufgrund meiner Sozialisation eine paradoxe Wendung wahrnehme: Die Juden hat man mit der Zahnbürste die Straße putzen lassen, jetzt putzen wir feinen Politiker im weißen Hemd mit dem Besen das Böse von den Straßen weg. Gegen solche Bilder sollte sich die Gesellschaft wehren.

RUTH WODAK
ist Sprachwissenschafterin und unterrichtet an der Universität Wien sowie an der Lancaster University, England. Sie zählt zu den wichtigsten VertreterInnen der kritischen Diskursanalyse.

1996 erhielt sie den Ludwig- Wittgenstein-Preis, die höchstdotierte österreichische Auszeichnung für unabhängige Forschungsarbeit. Sie bildete und finanzierte mit diesem Geld ein Team, das sich mit dem Thema „Diskurs, Politik, Identität“ auseinandersetzte. Das Ergebnis nach sechs Jahren: etwa 40 Bücher und ca. 200 publizierte wissenschaftliche Aufsätze.

Ihre jüngste Publikation: Ruth Wodak: „The Discourse of Politics in Action: Politics as Usual.“ (2nd revised edition, paperback). Basingstoke: Palgrave 2011.

Mehr Informationen unter:
Bernhard Kuschey: „Die Wodaks – Exil und Rückkehr. eine Doppelbiografie.“
Wien: Braumüller 2008.
www.ling.lancs.ac.uk/profiles/265
de.wikipedia.org/wiki/Ruth_Wodak
www.wittgenstein-club.at

WORDRAP

Ruth Wodak über …

 

Volk? Der Begriff „Volk“ ist neutral im Sinne von Demokratie, das Recht geht vom Volk aus und so weiter. Es ist natürlich aber auch besetzt mit sehr rechtslastigen Bedeutungen wie Volksgemeinschaft und Ähnlichem.

Deutsche Sprache? „Deutsche Sprache“ ist interessant, weil es natürlich die Muttersprache ist und ich weiterhin sehr gerne auf Deutsch schreibe, obwohl es andere Kolleginnen und Kollegen nicht mehr machen. Es gibt aber auch den Sprachpurismus und die Debatten darüber, ob die deutsche Sprache untergeht.

Islamismus? „Islamismus“ ist ein inflationär gebrauchter Begriff, im Prinzip meint er den radikalen sowie den fundamentalistischen Islam. Er wird aber in den Medien und in der Alltagssprache oft auch auf alle Muslime angewendet. Dann sind plötzlich alle Islamisten und das ist dann ein sehr negativer Begriff.

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