Das Dilemma

Charles Lewinskys neues Buch erzählt auf wunderbare Weise die wahre Geschichte des Schauspielers Kurt Gerron.
Von Erwin Javor

Es hat schon Hannah Arendt beschäftigt und auch Doron Rabinovici oder Robert Schindel. Sie haben gleich leidenschaftlich entweder Anklage erhoben oder Rehabilitationsargumente konstruiert. Es beschäftigt auch mich schon sehr lange und immer wieder: Juden haben zur Vernichtung von Juden Beihilfe geleistet. Es gab die Judenräte, es gab Kapos, es gab Juden, die in bestimmten, persönlichen Situationen Entscheidungen getroffen haben, die äußerst unmoralisch waren.

Wir reden nicht gern öffentlich darüber. Denn es stellt uns vor ein unlösbares Dilemma.

Argumentieren wir, dass die Extremsituation des totalitären Nazi- Regimes jeden Versuch, das eigene und das Leben von Nahestehenden zu retten, rechtfertigt, stimmt das. Aber es entschuldigt gleichzeitig das Argument der Nazi-Mitläufer, die dasselbe behaupten, um zu verteidigen, dass sie Juden demütigten und ermordeten.

Argumentieren wir hingegen, dass es auf jeden Fall moralisch verwerflich war und verurteilen wir die Judenräte für ihre Taten, liefern wir Munition für nur allzu viele antisemitische Klischees. Man kann jede dieser Sichtweisen vertreten und Recht haben. Ich verstehe beides. Nichtsdestotrotz bleibt es unser Dilemma.

Der Schweizer Autor Charles Lewinsky hat ein wunderbares neues Buch geschrieben, Gerron, das genau diesen Konflikt thematisiert. Es erzählt die wahre Geschichte des Schauspielers, Kabarettisten und Chansoniers Kurt Gerron, Star von Brechts „Dreigroschenoper“ und „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich, der 1944 den Auftrag bekommt, im Film „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ das erniedrigende Leben der Juden im KZ Theresienstadt als Paradies zu schildern. Er steht vor der Wahl mitzumachen und Zeit und Hoffnung zu gewinnen oder sein und das Leben seiner Frau zu opfern.

Gerron steht vor der Situation, wieder einmal, einen Film zu drehen, der eine Lüge erzählt und brutal schönredet, das nicht schön ist: Theresienstadt. Happy Ends in Filmen sind nicht verwerflich, aber diese Lüge mit den Mitteln der Kunst war mehr als das und hat enormen Schaden angerichtet. Wie Lewinsky diese Geschichte erzählt, wie er Wunschdenken und Realität gleichzeitig in die Gedanken des Lesers schummelt, ist Weltliteratur. Er beschreibt immer wieder im Detail, wie Gerron der Verführung widersteht, seine Würde bewahrt und als moralischer Sieger hervorgeht. Der Leser wird sorgfältig in die Situation eingesponnen, glaubt sie und kann sie verstehen. Aber dann fügt Lewinsky zwei lapidare Sätze hinzu. „Aber so war es nicht. So war es:“

Dann erzählt er die vielen weniger heroischen, demütigenden und realen Situationen, wo Gerron nicht wie ein strahlender Held, sondern wie ein kleiner Verräter, ein zutiefst verletzlicher Mensch seine Würde auf- und hingibt und mit dem einzigen Mittel agiert, das ihm offensteht, um zu leben: der Kapitulation vor dem Bösen.

Will man sich diesem Dilemma aussetzen, ist Lewinskys Buch, seine geniale Sprache, sein Spielen mit den Gefühlen und Gedanken des Lesers, eine unübertroffene Methode, die ich nur empfehlen kann. Der Leser wird genauso verführt wie Gerron.

Am Ende des Romans stellt Lewinsky nur fest, was auf jeden Fall wahr ist: „Vieles in diesem Roman ist erfunden. Dieses leider nicht: Am 30. Oktober 1944 wurden Kurt Gerron und seine Frau Olga in Auschwitz ermordet.“

Charles Lewinsky
Gerron
Nagel & Kimche, München 2011, 544 Seiten, 24,90 €

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