„Dann hätte doch Hitler gesiegt!“

Viktor „Wolvi“ Klein überlebte die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Mauthausen, Melk und Ebensee. Ein bewegendes Gespräch mit einem Mann, der trotz allem seinen Glauben bewahrt hat.
VON MARTIN ENGELBERG (INTERVIEW) UND MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER (FOTOS)

Viktor „Wolvi“ Klein war über Jahrzehnte in der jüdischen Gemeinde in Wien, im Bethaus Misrachi als Gabai (Tempelvorstand) und als Vorstandsmitglied tätig. Immer elegant gekleidet und von gepflegtem Äußeren, lebt er gemeinsam mit seiner Frau Pnina ein eher ruhiges Leben in Wien. Ihre Kinder sind schon seit vielen Jahren nach Israel und in die USA ausgewandert. Heute ist Wolvi Klein Teil der orthodoxen Agudat-Israel-Gemeinde unter Rabbiner Grünfeld mit den Bethäusern in der Grünangergasse und in der Tempelgasse.

An einem heißen Schabbat-Abend entdeckte ich, eher zufällig, die eintätowierte Nummer auf seinem Unterarm. Die Wenigsten wissen, dass Wolvi Klein die Gräuel von Auschwitz er- und überlebt hat und dennoch – oder deshalb – ein „Schomer Mizwot“ geblieben ist; also ein gläubiger Jude, der streng nach den jüdischen Gesetzen und Traditionen lebt. Im Gespräch erzählte Wolvi Klein, wie er seinen Gottesglauben behielt.

NU: Wie war der Alltag in Munkács?

Klein: Die Stadt war stark von jüdischem Leben geprägt. Der Großteil der Juden war chassidisch-orthodox, Samstag war Ruhetag in der ganzen Stadt, alle hatten die Geschäfte geschlossen. Vielleicht hat man ein, zwei Apotheken gefunden, die nicht Schabbat gehalten haben. In diesem Milieu bin ich aufgewachsen. Die Dynastie von Munkács, unter dem Munkácser Rebben, hatte schon Anfang des 19. Jahrhunderts angefangen und sich stark ausgebreitet. In meiner Kindheit amtierte Chaim Elazar Shapira als Munkácser Rebbe. Er war antizionistisch, gegen jede Reform.

Bis wann waren Sie in Munkács?

Bis 1944 wurden zwar vor allem Juden, die nicht ungarische Bürger waren, verfolgt, vertrieben und in die Ukraine verschickt, aber wir konnten weiterhin in Munkács leben. Am 19. März 1944 hat Deutschland Ungarn besetzt. Vom nächsten Tag an begann das Problem, dass sie alle Grenzen gesperrt haben. Wer unterwegs war, den hat man kontrolliert, ob er jüdischer Abstammung ist, und gleich verhaftet. Von Purim (ca. März) bis Pessach (ca. April) waren wir noch zu Hause. Man musste die Geschäfte schon an Leute mit arischen Papieren übergeben. Am letzten Tag von Pessach hat man schon begonnen, die Juden aus der Provinz hereinzubringen, und man hat das Gesetz herausgegeben, dass jeder in das Ghetto muss. Wir haben unsere Wohnung verlassen müssen und wir sind in eine Wohnung gezogen, in der mein Urgroßvater gewohnt hat.

Da waren Sie als Familie noch zusammen?

Ja, mit meinen Eltern und meinen vier Geschwistern. Der älteste Bruder Jossi war 21, er wurde gleich eingezogen, mit 21 ist er zum ungarischen Militär gegangen, dem Hilfsmilitär. In die reguläre Armee wurden Juden ja nicht aufgenommen. Das Hilfsmilitär war eine Arbeitsgruppe, die an der Front Schienen gelegt haben und Hilfsarbeit geleistet haben. Wir sind im Ghetto geblieben, und sechs Tage vor Schawuot (Wochenfest), ungefähr am 18. Mai, begann die Deportation, wurden wir einwaggoniert und verschickt. Die gesamte Familie von meinem Vater und die Familie meiner Mutter sind alle in einen Waggon gekommen. Wir waren ca. 80 Personen im Waggon. Als wir in Birkenau angekommen sind, begann sofort die Selektion und sie haben alle Sachen, die wir mit uns hatten, gleich weggenommen. Man musste Koffer und alles abgeben, und die Kinder und die älteren Leute hat man gleich nach links geschickt. Mein Vater, mein Onkel, mein Bruder Shlomo und ich sind nach rechts gegangen auf Arbeit. Der Rest musste auf die linke Seite nach Auschwitz. An diesem Tag – drei Tage vor Schawuot – halten wir deshalb die Jahrzeit (den jährlichen Trauertag um einen Verstorbenen) nach allen anderen Familienangehörigen.

Was geschah dann weiter mit Ihnen?

In Birkenau war ich acht Tage. In diesen acht Tagen hat es wenig zu essen gegeben. Selbstverständlich wurde uns alles abgenommen, man hat uns angekleidet mit den gestreiften Häftlingskleidern und tätowiert. Ich habe die Nummer 10201 bekommen, mein Vater die Nummer 10202 und der Bruder 10203. Wir sind tagelang gestanden und waren sehr hungrig. Nach drei solchen Tagen sah mein Freund Kraus mich und hat mir seinen Teil vom Brot gegeben. Das hat mich 50 Jahre begleitet, die Erinnerung an ihn. Ich habe ihn erst durch einen Zufall nach 50 Jahren in New York getroffen, und es war ein sehr bewegendes Wiedersehen. Das ist nur eine Episode, die uns in Erinnerung bleibt von Menschen, von der Freundschaft, dass er mir sein letztes Stück Brot gegeben hat.

Da waren Sie noch immer mit dem Vater und dem Bruder und dem Onkel zusammen?

Ja, in Oświęcim (Auschwitz) angekommen, sind wir eingeteilt worden in Block zwölf, dort waren schon andere Verhältnisse. Oświęcim ist ein Lager, das war vor dem Krieg eine Militärkaserne für die Polen. Nachher haben es die Deutschen umgebaut in ein Konzentrationslager mit Krematorium, aber die Blöcke sind geblieben, 30 Gebäude, rote einstöckige Ziegelhäuser. Jeder hat für sich ein Bett gehabt, eine Pritsche mit Decken und so weiter, das waren schon normalere Verhältnisse, unten war der Waschraum. Und wir waren ein paar Tage dort, dann wurden wir eingeteilt zu einem Kommando, dem Müllfahrer- Kommando. Den Mist von Auschwitz und Birkenau hat man zwei Kilometer vom Auschwitzer Lager und gegenüber dem Birkenauer Lager auf einem Platz konzentriert und dort hat man den ganzen Mist hineingeschmissen und Papier zu Papier, Blech zu Blech sortiert.

Was mussten Sie dort machen?

Ich habe Glück gehabt, ich bin zur Stanzerei gekommen, ich habe das Papier zu 50-Kilo-Ballen gemacht, das Blech separat gestanzt. Jeder, der in Auschwitz angekommen ist, hat seine Pakete abgegeben. Das war ein Kommando, das hat geheißen „Das große Kanada“. Das „große Kanada“ hat alle Koffer, alle Sachen, Essen und so weiter aussortiert. Kleidung hat man separat gelagert, Schuhe und so weiter, alles Essen, das übriggeblieben ist – Schmalz, Reis eingekocht mit Brot und so weiter –, das haben sie dort in den Mist hineingeschmissen und das ist zu uns gekommen, zu dem Müllfahrer-Kommando, das hat geheißen „Das kleine Kanada“. Dort habe ich auch Geld im Brot gefunden oder z.B. Dukaten. Der Befehl war, das an SS abzugeben und wenn die SS nicht dort war, musste man es an die Kapo oder an die Unterkapo abgeben. Wenn die es bekommen haben, haben sie es für sich weggelegt, aber was ich gefunden habe, habe ich für mich weggelegt. Das stand unter strenger Bestrafung. Ich habe es in das Lager hereingebracht und damit konnte ich tauschen. 400 Pengö (die damalige ungarische Währung) hat man getauscht gegen Brot, für vier Brot hat man eine Margarine bekommen, für vier Päckchen Margarine hat man eine Salami bekommen usw., also es war ein Schwarzmarkt. Das Geld haben wir dann polnischen Häftlingen gegeben, die es den Zivilarbeitern gegeben haben und auch den SS-lern, damit diese auf Heimaturlaub neue Sachen kaufen konnten. Das ist zwei, drei Monate gegangen, bis die Transporte aus Łódź von Theresienstadt angekommen sind. Dort hat man schon nichts gefunden. Im „kleinen Kanada“ habe ich auch Siddurim (Gebetbücher) und Sefarim (Torarollen), Talles (Gebetsschal) und Tefillin (Gebetsriemen) gefunden und das habe ich auch in das Lager hereingetragen.

Aber haben Sie dort Feiertage einhalten können? Hat man gedawent (gebetet), Tefillin gelegt, koscher gehalten? Sie sind aus einer sehr religiösen, orthodoxen Umgebung gekommen. Wie hat man im Lager damit gelebt?

Zuerst einmal, in Auschwitz selber, haben wir gewusst, wann Schabbat ist. Alle haben das gewusst. Da war auch der Rabbi Weiser (der nach der Shoa auch in Wien lebte und wirkte), und es gab noch andere Rabbiner. Am Schabbat-Nachmittag haben wir alle nicht gearbeitet. Es gab sogar Leute, die keine trejfenen (unkoscheren) Sachen gegessen haben, aber es waren sehr, sehr wenige. Denn es galt das – wie man sagt – „Chajecha Kodem“: Zuerst geht es darum, dein Leben zu retten – du musst zuerst auf dich schauen. Der Grund ist, ein Toter kann Gott nicht dienen. Daher ist es ein Gebot. In Auschwitz habe ich nahe dem Krematorium Birkenau gearbeitet, wir haben alles gesehen, wir haben es aber nicht geglaubt. Das ist nicht fassbar, der menschliche Verstand kann nicht begreifen, dass man von heute auf morgen so eine Masse an Menschen vernichtet.

Haben euch alle diese schrecklichen Dinge nicht in eurem Glauben an Gott erschüttert?

Es hat Leute gegeben, die im Glauben schwach waren und sehr pessimistisch waren. Die haben nachgelassen. Aber ein Beispiel war: Mein Vater war ein Vorarbeiter im Müllfahrer-Kommando, er sollte aufpassen, dass die Leute arbeiten. An einem Schabbat-Morgen kommt auf einmal die SS mit einem Fahrrad vorbei und sieht, wie die Leute stehen und nicht arbeiten. Sie fragten: „Wer ist der Vorarbeiter?“ Hat man auf meinen Vater gezeigt. Der SS-ler hat gesagt: „Komm, bück dich.“ Und mein Vater hat zwei Stecken bekommen und der SS-ler hat gleich einen anderen als Vorarbeiter hingestellt, der war schon ein strenger Mann, war nicht so religiös. Der hat schon besser aufgepasst. Aber mein gottseliger Vater, verstehst du, er konnte doch nicht den eigenen Sohn, Geschwister und Bekannte, fromme Leute, zu der Arbeit zwingen. Also das war auch sein fester Glauben, verstehst du? Wir haben die Gebote eingehalten, soweit wir es noch konnten. Zum Beispiel „Seuda Schlischit“ (Zelebration der dritten Mahlzeit am Schabbat), am Schabbat-Nachmittag. Zu Rosch Haschana (Neujahrsfest) haben wir Gebetbücher hereingebracht. Zu Jom Kippur (Versöhnungstag – höchster jüdischer Feiertag) haben wir zumindest Neila (letztes Gebet von Jom Kippur) gebetet, weil es schon spät war. Also hat sich noch während dieser Zeit der Glauben gehalten. Später hat es sich ergeben, dass vielleicht der Glaube bei dem einen oder anderen etwas nachgelassen hat.

Sie haben dann nach dem Krieg in Budapest gelebt und wieder ein orthodoxes Leben begonnen.

Ja, wir haben wieder ein orthodoxes Leben begonnen. Mein Vater hat angefangen zu arbeiten, er hat alte Verbindungen aufgenommen, er hat Obst und Wein nach Polen verkauft.

Das Faszinierende für mich ist, dass Sie – nach all dem, was passiert ist – zurückgekommen sind und das Leben, vor allem das jüdisch-orthodoxe, einfach wieder aufgenommen haben. Wie war das, was haben Sie sich gedacht?

Darauf werde ich dir Folgendes sagen: Der Glaube ist wichtiger als alles andere. Wenn wir unseren Glauben aufgegeben hätten, dann hätte doch Hitler gesiegt! Ich habe immer den Optimismus bewahrt und habe positiv gedacht. Ich gehöre zur Generation, die durch die Flammen gegangen ist. Und ich habe die Möglichkeit gehabt und Gott hat mir geholfen, dass ich nach dem Krieg mit meiner Frau Pnina zusammen wieder eine Familie aufbauen konnte. Ich habe immer darauf geachtet, dass wir die Familie erziehen sollen in dem Weg, in dem wir erzogen wurden, im Glauben.

Haben Sie sich nicht die Frage gestellt, wie man die Shoa verstehen kann? Im Judentum ist es doch so wichtig, alles verstehen zu wollen und zu können, auch das Göttliche. Wie kann man es verstehen, was da alles passiert ist? Im Fall der Shoa hat es so doch so viele fromme und gläubige Menschen gegeben, die gelitten haben und getötet wurden, so viele ganz kleine, unschuldige Kinder, die ermordet wurden!

Diese Frage haben sich natürlich viele Überlebende und viele Rabbiner gestellt, und sie sind zu dem Schluss gekommen, dass das eine göttliche Sache ist, auf die man nicht antworten kann. Unser Verstand begreift viele Sachen nicht, Gott ist auch nicht fassbar. Der Glaube ist individuell, man kann Verschiedenes auslegen. Aber zu verstehen, zu begreifen ist eine göttliche Sache, was unser menschlicher Verstand nicht imstande ist zu begreifen.

Viktor „Wolvi“ Klein wurde 1927 in Mukačevo geboren, wo er auch aufwuchs. Die Stadt, die damals zur Tschechoslowakei gehörte, hatte rund 35.000 Einwohner, von denen die Hälfte Juden waren, und war eines der großen Zentren des chassidischen Judentums. Bis 1918 hieß die Stadt Munkács; sie war über viele Jahrhunderte Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam sie zur Sowjetunion, und seit 1991 gehört sie als Mukatschewe zur Ukraine. Nach der Zerschlagung der demokratischen Republik Tschechoslowakei wurde Munkács 1938 wieder Ungarn zugeschlagen. Die Juden wurden – wie in ganz Ungarn – diskriminiert und verfolgt, die Deportation und Ermordung begann jedoch erst mit der Besetzung Ungarns durch Nazideutschland im März 1944. Wolvi Kleins gesamte Familie wurde nach Auschwitz deportiert. Nur er, sein Vater und ein Bruder überlebten und wurden im Jänner 1945 von Auschwitz nach Mauthausen evakuiert. Von Mauthausen kamen sie nach Melk und wurden schließlich in Ebensee am 7. Mai 1945 befreit. 1951 kam Wolvi Klein nach Wien.

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