Chabad Lubavitch

Die innerjüdische Missionsbewegung Chabad Lubavitch boomt weltweit. Ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte und den charismatischen Rebbe Mendel Menachem Schneerson, eingebettet in persönliche Erinnerungen.
Von Katja Sindemann

Meine erste Begegnung mit Chabad Lubavitch fand im August 2000 in New York statt, während des „UN Millennium Peace Summit of Religious and Spiritual Leaders of the World“. Erstmals kamen Vertreter aller Religionen zu einem Gipfeltreffen unter UN-Patronanz zusammen, um gemeinsam eine Deklaration über den Beitrag der Religionen zum Weltfrieden zu erarbeiten. Beim Empfang nach der Auftaktveranstaltung stolperte ich über eine Gruppe orthodoxer Juden, in deren Mitte sich ein altehrwürdiger Rabbiner mit schlohweißem langem Bart und warmherzigem Gesichtsausdruck befand. Es war der Oberrabbiner von Lettland, Natan Barkan aus Riga — ein Mitglied von Chabad Lubavitch. Ich bat ihn um ein Interview, das er mir gerne gewährte. Anfangs erfolgte die Kommunikation über einen Dolmetscher: Ich stellte meine Fragen auf Englisch, der Dolmetscher übersetzte, er antwortete auf Russisch, der Dolmetscher übersetzte. Doch bald fing Barkan an, gebrochen auf Deutsch direkt zu mir zu sprechen. Aus dem Interview war ein Gespräch geworden, oder besser gesagt eine persönliche Belehrung. Ohne dass es mir damals bewusst war, führte er mich in die Sichtweise von Chabad Lubavitch ein. Ob ich an Gott glaube? Ob es gut oder schlecht sei, dass heute so viele Paare unverheiratet zusammenleben? Dass es die gottgewollte Aufgabe einer Frau sei, zu heiraten, Kinder zu bekommen und diese religiös zu erziehen. Wie hätte ich ihm, eine junge, berufstätige, akademisch gebildete Frau plausibel machen können, dass es für unsereinen leichter ist, auf den Mond zu fliegen, als den passenden Mann zum Heiraten und Kinderkriegen zu finden? Auch wenn mir seine Predigt konservativ und utopisch vorkam, seine Warmherzigkeit und sein tiefer Glaube griffen mir ans Herz. Gerne hätte ich ihn auf der Stelle als Lieblingsopa adoptiert. Nur zögerlich trennte ich mich wieder von meinem Gesprächspartner, im Gefühl, kein Interview, sondern eine tiefe persönliche Bereicherung erfahren zu haben. Von Osteuropa nach Brooklyn Das Hauptquartier von Chabad Lubavitch befindet sich in Crown Heights, Brooklyn, einem heruntergekommenen Viertel von New York. Hier hat Mendel Menachem Schneerson (1902-1994) — von seinen Anhängern hochachtungsvoll „der Rebbe“ genannt — gelebt, von hier hat er seine Organisation zu einer erfolgreichen, weltweit operierenden, innerjüdischen Missions-bewegung aufgebaut. Heute sind Zentren von Chabad Lubavitch auf der ganzen Welt zu finden, in Amerika, Europa und in Asien. Besonders viele sind in den vergangenen Jahren in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion entstanden. Mendel Menachem Schneerson stammt aus einer Familie von berühmten Talmudgelehrten und Kabbalisten, sein Urgroßvater war der dritte Rebbe von Chabad Lubavitch. Er selbst wurde 1902 im russischen Nikolajew in der Nähe des Schwarzen Meers geboren. Laut der Homepage des Berliner Zentrums tat er sich bereits in seiner Jugend durch seine Intelligenz, Thorakenntnis und Menschlichkeit hervor. Er studierte an der Berliner Universität und der Sorbonne in Paris. 1929 heiratete er Chaja Mussia, die Tochter des sechsten Rebben der Lubawitscher Chabad-Bewegung. Gemeinsam mit seiner Frau floh er 1941 vor den Nazis über Paris nach New York, wo sich bereits sein Schwiegervater aufhielt. Unter dessen Leitung baute Schneerson mehrere Chabad-Organisationen auf: eine für Bildung, eine für Sozialdienste und einen Verlag. Ein wichtiges Ziel war, chassidische Gebetsbücher und Schriften in Umlauf zu bringen. Zahlreiche Juden in den USA waren zu diesem Zeitpunkt arme, überwiegend aus Osteuropa stammende Flüchtlinge, die kaum ein Wort Englisch konnten. Schneerson erwies sich als hochgelehrter Autor von Kommentaren zu kabbalistischen und chassidischen Werken sowie als begnadeter Thora-Interpret. Entstehung in der Ukraine Der Chassidismus entstand im 18. Jahrhundert in Osteuropa, initiiert von Israel Ben Eliezer, bekannt als Baal Schem Tow. Dieser berief sich auf die Kabbala, die mystische Lehre. Die Beziehung zu Gott sollte nicht nur durch das Studium von Thora und Talmud hergestellt werden, sondern auch durch leidenschaftliches Beten, Singen, Tanzen und Ekstase. Dies war besonders für das ungebildete Volk wichtig. Der Rabbiner, der „Rebbe“, fungierte dabei als Mittler zwischen Gott und den Menschen. Der Chassidismus teilte sich nach dem Tod des Baal Schem Tow in verschiedene Gruppen. Der Lubawitscher Chassidismus wurde von Rabbi Schneur Zalman Ende des 18. Jahrhunderts gegründet, der seine Lehre „Chabad“ nannte: Einsicht, Weisheit, Wissen. Ziel des Menschen ist, sich in einem lebenslangen Prozess mit Gott zu verbinden. Dabei spielen Selbstdisziplin und die Verbindung von Intellekt und Emotionen eine wichtige Rolle. Das Studium der Thora und die Einhaltung der Mitzwot führen den Gläubigen zur Erkenntnis. Dies unterschied Chabad Lubavitch von anderen chassidischen Bewegungen, die mehr die emotionale Gotteserfahrung betonen. Ein wichtiger Eckpfeiler war der Glaube an das Kommen des Messias. Nach dem Tod von Schneur Zalman, der sich in Lubavitch in der Ukraine niedergelassen hatte, übernahm sein Sohn die Führung — das Amt des Rebben wurde erblich weitergegeben. Von New York in die ganze Welt 1950 übernahm Mendel Menachem Schneerson nach dem Tod seines Schwiegervaters nach einigem Zögern als siebenter Rebbe die Leitung von Chabad Lubavitch. Sein Ziel war nun, nicht nur osteuropäische, sondern generell alle Juden religiös zu bilden. Anfangs wurden in Nordamerika in verschiedenen Städten Yeshivas gegründet, dann aber auch in anderen Ländern. Schneerson, der seine Arbeit als göttliche Aufgabe verstand, sandte Rabbiner in die ganze Welt. Obwohl die Bewegung unter seiner 40-jährigen Führerschaft explodierte und heute über 200.000 Mitglieder zählt, hat der Rebbe seinen Fuß kaum über Crown Heights hinausgesetzt. Er war beispielsweise nie in Israel, hat auch sonst keine Reisen unternommen. Er sei zu beschäftigt, hieß es aus seiner Umgebung. Dennoch wurde er weltweit als herausragende Persönlichkeit und göttlich inspirierter Ratgeber verehrt. Bedeutende Personen aus aller Herren Länder pilgerten zu ihm nach Brooklyn. Er führte einen bescheidenen Lebensstil, arbeitete oft die ganze Nacht durch und hatte immer ein offenes Ohr für Rat- und Hilfesuchende. Begeisterte Anhänger schwärmten von seinen durchdringenden blauen Augen, in denen Liebe und Weisheit strahlen würden. Amerikanische Präsidenten wie Bill Clinton und George W. Bush versäumten nicht, Chabad Lubavitch zu unterstützen. Junge Ehepaare missionieren Ziel der Bewegung war und ist, das Judentum — in seiner orthodox-chassidischen Form — unter den Juden weltweit zu verbreiten. So werden begeisterte junge Ehepaare, Schlichim („Gesandte“), nach ihrer Ausbildung in eine fremde Stadt geschickt, um dort ein neues Zentrum aufzubauen. Oft bekommen sie nur ein kleines Startgeld mit, dann müssen sie von der Unterstützung ansässiger Juden bzw. den Spenden für ihre Tätigkeit leben. Sie bieten religiöse Dienste wie Thora- und Talmudunterricht an, Hebräisch-Unterricht, Belehrung über koschere Ernährung und Küche, die Durchführung von Gottesdiensten, Segnungen und das Feiern der Festtage. Auch spezielle Angebote für jüdische Frauen gehören dazu. Schminktipps und Kochrezepte werden mit Vorträgen über die Rolle der Frau im Judentum verknüpft. Anfangs findet der Unterricht in der eigenen Wohnung statt, wenn sich die Anhängerschaft vergrößert, wird ein eigenes Zentrum errichtet. Ziel der Schlichim ist, säkulare Juden wieder für ihre Religion zu gewinnen. So haben sie in den USA regelmäßig Menschen auf der Straße angesprochen, ob sie jüdisch seien. Wenn ja, werden die Männer aufgefordert, zu den Gebetszeiten die Gebetsriemen anzulegen. Frauen und Mädchen werden angehalten, die Schabbat-Kerzen zu zünden. Erstaunlicherweise hatten die zunächst belächelten Missionare großen Erfolg. Viele moderne Juden, die ihrer Religion entfremdet sind, sich jedoch noch an die Erzählungen und Rituale ihrer Großeltern erinnern können, empfinden einen emotionalen Verlust darüber, die Tradition nicht fortgeführt zu haben. Sie möchten an die Religion anknüpfen, die sie teilweise kaum mehr kennen. In den USA ist inzwischen in jeder größeren Stadt ein Chabad-Lubavitch-Zentrum zu finden. Ebenso in Europa. Missionsarbeit in der Zentralschweiz Bei meinem Aufenthalt im schweizerischen Luzern lernte ich das dortige Rabbinerehepaar von Chabad Lubavitch kennen. Ich sollte im Rahmen eines Forschungsprojektes des Religionswissenschaftlichen Seminars der Universität Luzern die ansässigen Religionsgemeinschaften dokumentieren. Also bat ich Rabbi Chaim Drukman um ein Gespräch. Vorsichtshalber zog ich einen langen schwarzen Rock an, verzichtete auf Schminke und band meine Haare streng zurück. Und war umso erstaunter: Die junge hübsche Rebbezen, seine Frau, trug Jeans, das lange dunkle Haar offen, von Perücke keine Spur, war geschminkt, natürlich und unkompliziert. Er durfte mir nicht die Hand geben — ich bin schließlich nicht koscher. Stattdessen reichte mir seine Gattin die Hand. Drukman war jung, sympathisch und gern bereit, mich zu informieren. Er stammte aus Israel, hatte jedoch eine weltliche Karriere abgelehnt und sich stattdessen Chabad Lubavitch und der Missionsarbeit verschrieben. Seine Ehefrau war die Tochter des Chabad-Rabbiners aus Zürich. Er lieh mir auch gleich das Standardwerk von Sue Fishkoff, einer amerikanischen Journalistin: „The Rebbe’s Army. Inside The World of Chabad-Lubavitch“. In weiterer Folge arbeiteten wir gut zusammen: ich drehte ein an einem anderen Tag nachgestelltes Schabbat-Essen bei ihnen zuhause, dann eine Sukkot-Feier, die er an einer öffentlichen Schule mit schweizerischen und israelischen Jugendlichen veranstaltete. Auch konnte ich eine besondere Spezialität von Chabad Lubavitch filmisch festhalten: das Aufstellen und Entzünden eines riesigen Chanukka-Leuchters mitten auf dem Luzerner Bahnhofsplatz. Dieser Brauch wird bereits in allen amerikanischen Großstädten medien- und öffentlichkeitswirksam durchgeführt. Aspekte von Chabad Lubavitch Inhaltlich lehrte Schneerson die Erwartung an den bald kommenden Messias, der eine Zeit der Befreiung und ein höheres Dasein bringen wird. Es sind jedoch die guten Taten der Juden, die das messianische Reich herbeiführen. Dem Rebbe wird höchste göttliche Autorität zugesprochen. Er gilt als Mittler göttlicher Weisheit und kann kraft dessen die Schriften im Sinn des Ewigen auslegen. Von Menachem Schneerson sind zahlreiche Wundergeschichten und Wunderheilungen überliefert. Einige halten ihn daher auch für den Messias selbst, was zu Spannungen innerhalb der Or–ganisation führte. Schneerson, dessen Ehe kinderlos blieb und dessen Frau 1988 starb, erlitt 1992 einen Schlaganfall, nach dem er nicht mehr sprechen konnte. Er starb 1994, ohne einen Nachfolger zu bestimmen. Für die meisten Anhänger war sein Tod ein tiefer Schock, nach dem sie verwaist zurückblieben, doch die Missionstätigkeit wurde fortgesetzt. Chabad Lubavitch vergrößert sich auch weiterhin. Ein Grund für den Erfolg von Chabad Lubavitch ist auch die Nutzung moderner Medien. Eine ausführliche Homepage, über die alle Zentren vernetzt sind, die Online-Community der Schlichim, zentral produzierte, einfach ge-haltene Informationszeitschriften sowie Videos helfen den Missionaren vor Ort, in Kontakt mit der Gemeinschaft zu bleiben und Infos für ihre Anhänger zur Verfügung zu haben. Doch den entscheidenden Part spielen immer noch die jungen idealistischen Ehepaare. Heute gibt es mehr als 1.400 Chabad-Institutionen in 35 Ländern. Allein in Russland finden sich in 61 Städten Chabad-Zentren. In Österreich gibt es Chabad-Zentren in Wien und Salzburg, wobei es in Wien mehrere Institutionen gibt, vom Kindergarten über eine Schule und Akademie bis zur eigenen Synagoge. WEB-TIPPS: www.chabad.at   www.chabad.org www.chabadswitzerland.com   www.lubavitch.com

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