Bürokratie bis an den Rand der Verblödung

Der Wiener Schauspieler und Regisseur Otto Tausig, 85, über sein humanitäres Engagement und Österreichs widersinnige Abschiebungspolitik, über Brechts genialen Dilettantismus und die DDR-Zensur.
Von Stefan Grissemann (Text) und Peter Rigauld (Fotos)

Dem umfassenden Charme des Otto Tausig nicht in Sekundenschnelle zu erliegen, fällt einigermaßen schwer. Die so charakteristische Mischung aus Bescheidenheit und Mutterwitz, aus Liebenswürdigkeit und Empathie teilt sich schon mit, wenn man noch gar nichts weiß von den unzähligen Wohltätigkeitsaktivitäten des Schauspielers, die unter anderem zur Errichtung eines nach seiner Großmutter benannten Flüchtlingsheims im niederösterreichischen Hirtenberg geführt haben. In feinem Wienerisch alter Schule berichtet er im Café Schottenring lebhaft von den Filmen, an denen er dieser Tage mitgewirkt hat: In Michael Glawoggers Haslinger-Adaption „Das Vaterspiel“ habe er gerade eine schöne Nebenrolle absolviert, mit dem deutschen Regisseur Jan Schütte, mit dem er regelmäßig arbeitet (etwa in „Auf Wiedersehen Amerika“, 1994), habe er in den USA soeben einen neuen großen Film gedreht, in dem er einen Mann um die 80 spiele, der immer noch von seinen Liebesgeschichten in Atem gehalten werde.

Tausig bestellt eine Melange mit Süßstoff, meint nebenbei, dass solche Kinoauftritte doch nur Kleinigkeiten seien, und fügt breit grinsend an, dass auch sein gutes Aussehen, das ihm die Leute attestieren, nichts als Schimäre sei: alles bloß Schauspiel. Überhaupt sei ihm nur eines wichtig: sein Engagement für die Dritte Welt. Mit dem Wiener Entwicklungshilfeklub arbeitet er eng zusammen — und sein gesamtes künstlerisches Tun gilt inzwischen der Spendensammlung. Aus keinem anderen Grund gebe er Interviews und gehe auf die Bühne: um die Leute „anzustrudeln“, wie er das nennt. Die kostenlose Werbeeinschaltung an dieser Stelle versteht sich daher von selbst: Entwicklungshilfeklub, Böcklinstraße 44, 1020 Wien. Tel.: +43/(0)1/720 51 50, Fax: +43/(0)1/ 728 37 93, E-Mail: office@eh-klub.at. www.eh-klub.at. Kontonummer: ERSTE BANK 31005405150, BLZ: 20111. IBAN: AT952011131005405150. SWIFT: GIBAATWW.

NU: Das Auftreiben von Spendengeldern für die Dritte Welt, sagen Sie, sei inzwischen der einzige Zweck Ihrer Auftritte. Die Kunst an sich macht Ihnen gar keinen Spaß mehr? Otto

Tausig: Doch, schon, wieso? Aber ich nehme eben manchmal auch ganz blöde Sachen an, um Spenden zu lukrieren, gern auch bei „Schlosshotel Orth“, wenn’s was bringt für meine vielen Kinder in der Dritten Welt. Doch, mir macht das Schauspielen schon Spaß, aber wie soll ich sagen: Früher war das Theater mein Leben, es hat mir alles bedeutet. Das ist jetzt nicht mehr so. Nun ist eben das Helfen wichtiger geworden. Aber es ist doch herrlich, wenn man das verbinden kann: Wer hat denn schon einen Beruf, der ihn freut und außerdem noch zu etwas Vernünftigem gut ist?

Sie spenden tatsächlich alle Ihre Bühnen- und Filmhonorare — zur Gänze?

Ja, ich hab eine gute Pension, von der ich leben kann. Und ich stelle mein Licht nicht unter den Scheffel, sondern lasse durchaus wissen, was ich so tu, denn nur dann machen auch die Kollegen mit — und steuern selbst etwas bei. Das funktioniert recht gut. Zum Beispiel traf ich einmal den Operndirektor Ioan Holender auf der Straße, von dem ich gar nicht wusste, dass er mich kennt. Er sagte, er wolle eine Benefizvorstellung zu erhöhten Preisen und zugunsten des Entwicklungshilfeklubs machen — und tatsächlich fand am 12. April „Manon“ mit Publikumsliebling Anna Netrebko statt. Anschließend ging ich, wie ich das immer mache nach den Vorstellungen, noch sammeln für die Straßenkinder in der Dritten Welt und Direktor Holender begleitete mich dabei. Die Wiener sind Schauspielern ja zugänglich. Und wenn man ihnen schwört, dass das Geld nicht missbraucht wird, geht alles gut: Sie wollen ja was hergeben. Sie müssen nur wissen, dass es einen Sinn hat.

Haben Sie es mit dem Spendeneintreiben nicht manchmal schwerer, als Sie das gerade darstellen? Hat man, wenn man Benefizveranstaltungen organisieren will, nicht auch unentwegt mit Rückschlägen und Misserfolgen zu tun?

Ganz leicht ist es insofern nicht, als ich eine neue Hüfte habe und diverse Bandscheibengeschichten. Aber negative Erfahrungen? Eigentlich nicht. Gut, wenn ich beim Film meine Gage spende, hören die Kollegen das und spenden auch, manche einmal, andere, wie etwa Erwin Steinhauer, Rupert Henning und Ernst Stankovski, auch immer wieder … Der Witz der Aktion „Künstler für Entwicklungshilfe“ ist ja nicht, dass man Geld spendet, sondern seine Arbeitsleistung. Man hat, sagen wir, eine Lesung und widmet seine Gage eben einem guten Zweck. Schauspieler sind, wenn man sie auf solche Aktionen anspricht, fast immer bereit zu helfen. Widerspruch ist da selten. Man muss nur bei manchen etwas beharrlicher werden.

Sie waren immer ein sozial engagierter Mensch …

Na ja, ich war Kommunist!

… aber Ihr Einsatz für die Dritte Welt hat erst 1989 begonnen, als Sie in Bombay die Armut der Menschen auf der Straße sahen.

Ja, nachdem ich vom Kommunismus so bitter enttäuscht worden war: Das war furchtbar, dafür hatte man doch gelebt! Auf einmal sollte das alles falsch gewesen sein? Man kam drauf, dass man nicht für eine bessere Welt, sondern für den Gulag gelebt hatte. Also musste ich mich neu orientieren: Zunächst arbeitete ich bei amnesty international, dann erlebte ich das Elend in Indien — und fand plötzlich, dass ich da noch was zu tun hatte auf der Welt. Anfangs dachte ich allerdings noch, meine Spenden könnten steuerfrei an die Armen überwiesen werden. Das hat sich als Irrtum erwiesen. Ich muss nämlich trotzdem Steuer zahlen, auch wenn ich von meinen Gagen nachweislich keinen Groschen selbst verdiene.

Sie setzen sich auch für junge Asylwerber ein.

Natürlich. Ich schildere Ihnen einen aktuellen Fall: Ein indischer Bursche wartet derzeit auf sein zweites Asylverfahren. Der junge Mann spricht Deutsch, ist bestens integriert, er ist ein ausgezeichneter Schüler und wird in dreieinhalb Jahren Maschinenbauingenieur sein. Er lernt im Laufe seines Studiums Schweißen, Drehen und Fräsen. Das sind drei Berufe, die in Österreich verzweifelt gesucht werden. Wir müssen also, um die Stellen notdürftig zu besetzen, Leute aus dem Osten importieren: 850 solcher Facharbeiter wurden unlängst gesucht, nur 300 waren zu bekommen.

Dem jungen Inder droht dennoch die Abschiebung?

Ja, obwohl wir ihn brauchen. Die Bürokratie ist bei uns bis an den Rand der Verblödung verbaut. Dieser Bursche hat neben der Schule in seiner Freizeit bei einer Firma gelernt; der Chef war von ihm begeistert, wollte ihn unbedingt für seinen Betrieb haben, denn er hat einige indische Kunden, mit denen nur dieser eine Lehrling problemlos sprechen kann. Zudem hat er seine Arbeit stets ausgezeichnet gemacht. Diese Geschichte verfolge ich seit Jahren: Sogar der Bundespräsident hat sich damals für den jungen Mann eingesetzt, aber vom Innenministerium kam nur die Antwort, dass er ja noch nicht volljährig sei und bis zu seinem 18. Lebensjahr ohnehin Aufenthaltsgenehmigung habe. Inzwischen ist er aber 18, und ich fürchte nun, dass sein Asylgesuch abgelehnt werden wird, denn Indien gilt als friedliches Land. Leider kommt der Mann aber aus dem Kaschmir, wo es 60.000 Tote gegeben hat in den Kriegen zwischen Hindus und Moslems.

Innenminister Günther Platter kann in Kaschmir keine Gefahr erkennen?

Asyl wird nur Menschen gewährt, die in ihrer Heimat gefährdet sind. Die Eltern unseres Flüchtlings sind dort umgebracht worden. Er wird nie mehr dorthin zurückkehren können. Nun, für solche Fälle gibt es den Begriff der „innerstaatlichen Fluchtalternative“. Im Klartext: Der Bursche kann ja woanders hinziehen in Indien. Ist ja ein großes Land. Er selbst hat einen Beamten gefragt, was er denn arbeiten sollte, irgendwo in Indien: Rikschafahren oder so was, gab man ihm zur Antwort. Die Behörden hierzulande sind von einem geradezu unglaublichen Zynismus.

Das Gesetz wird umgesetzt, auch wenn der Kanzler das grauslich findet.

So ist es. Mich hat man aus Österreich rausgeschmissen, als ich so alt war wie der Bursche, den sie nun abschieben wollen. Der Unterschied ist nur: Ich durfte in England arbeiten, während er in Österreich leider keine Arbeitserlaubnis kriegt. Deshalb muss er jetzt auch rausgeschmissen werden.

Mit dem weithin publizierten Fall der Familie Zogaj hat sich doch auch in dieser Frage eine neue Stimmung im Land breitgemacht, sogar die „Kronen Zeitung“, deren soziales Engagement für ausländische Bürger sich bislang in engen Grenzen hielt, zieht da mit.

Die Geschichte dieses Burschen ist aber anders: Das ist keine Familie — er hat keine mehr, weil sie umgebracht wurde. Das Medieninteresse bündelt sich immer nur an solchen Fällen: Erst war’s die Kampusch, jetzt die Arigona Zogaj. Aber das geht schnell vorbei, Schlagzeilen ändern sich täglich: Hauptsache Drama, egal ob das ein menschlich bewegender Fall ist oder irgendeine Schauergeschichte. In meinem Heim in Hirtenberg finden sich unzählige menschliche Tragödien. Der Fall Zogaj hat etwas in die Köpfe gebracht, nun muss man aber klarmachen, dass das kein Einzelfall ist. Es geht nicht nur darum, dass Familien zerrissen werden: Unser Asylgesetz ist schlicht unter jeder Kritik.

Es gehört zu den härtesten Europas.

Ja, das wurde ja unlängst nachgewiesen. Ich glaube, nur zwei EULänder haben ein noch menschenfeindlicheres Gesetz. Aber so ist das eben: Man will die Wähler von rechts haben. Und die schreiten ja schon empört zur Urne, wenn irgendwo laute türkische Musik aus dem Fenster schallt.

In Wien kommt man unentwegt an Orten vorbei, an denen Sie künstlerisch gewirkt haben: vom ehemaligen Scala-Theater in der Favoritenstraße bis zur Burg. Wie stehen Sie denn heute zu dieser Stadt? Haben Sie es den Wienern nie übel genommen, dass Sie 1939 zur Flucht gezwungen wurden?

Ach, ja, andererseits ist es ein echtes Glücksgefühl, wenn ich über die Ringstraße fahre. Denn in der Emigration in Wales — daran kann ich mich genau erinnern — musste ich als Landarbeiter Kartoffeln einsetzen; während ich das tat, dachte ich nur eines: dass ich das nicht mein ganzes Leben lang tun werde. Wenn ich jetzt am Burgtheater vorbeikomme, wo ich so lange gespielt habe, kann ich nicht mehr bös sein. Natürlich: Mitläufer waren damals alle.

Als Sie 1947 wieder nach Wien kamen, mussten Sie sogar davon ausgehen, dass nahezu jeder, dem Sie begegneten, Mitläufer oder Täter war. Hat dies Ihre Heimkehr nicht auch schmerzhaft gemacht?

Es war ein gewisser Triumph. Ich hatte den Hitler überlebt, er war tot, und ich war noch immer da. Aber es war schon auch schwierig. Wir hatten ja keine Wohnung — und in unserer ehemaligen wohnte nun eine Familie mit drei Kindern. Was sollte ich machen? Soll der Jud’ kommen und sagen, raus mit euch? Das ging ja nicht. Ich wusste ja nicht einmal, ob das unanständige Leute waren oder nur Bombenopfer. Und dann dachte ich auch immer: Ich konnte kein Nazi sein. Ich konnte es nicht, da ich jüdischer Abstammung bin. Ich weiß ja nicht, ob ich nicht selbst begeistert mit einem HJ-Hemd herumgelaufen wäre. Ich hatte das Glück, noch nicht achtzehn zu sein und auf niemanden schießen zu müssen. Ich glaube nicht, dass ich ein Held gewesen wäre, der sofort gewusst hätte, was zu tun war. Ich bin ja auch auf den Kommunismus hereingefallen. Gut, das war schon was anderes. Da war wenigstens die Idee gut. Aber ich kann mich auch nicht freisprechen von dem Umstand, dass ich nach meiner Rückkehr nach Wien tatsächlich ein kommunistisches Österreich wollte. Heute bin ich froh, dass es dazu nicht gekommen ist. Als wir an der Scala arbeiteten, hab ich der Kulturfunktionärin der KP durchaus mitunter Bericht erstattet von den ideologischen Abweichungen einzelner Kollegen — weil ich das für meine Pflicht hielt. Gut, das waren keine Denunziationen, aber wenn ich so etwas in Russland gesagt hätte, wäre der Kollege, um den es gerade ging, möglicherweise im Gulag gelandet.

Sie waren schon als Kind literarisch bewegt — und haben sich, wie Sie schreiben, bereits als Zwölfjähriger mit Ihrem wenigen Geld lieber „Die Brüder Karamasow“ zugelegt als Kochsalat mit Erbsen. Das klingt wie gut erfunden.

Aber es ist wahr. Ich weiß genau, dass ich schon mit zwölf den „Faust“ fast auswendig konnte, daneben aber auch fasziniert Edgar Wallace las.

Hatten Sie denn mit zwölf schon Verständnis für Goethe?

Na ja, zum zweiten Teil nicht, den verstehe ich heute noch nicht. Aber der erste Teil ist so schwierig auch wieder nicht. Klar, vieles davon war auch Angeberei. Ich wollte den „Faust“ auswendig können, um damit prahlen zu können. Aber man hat das Werk dann ja trotzdem kennengelernt.

Sie waren sich schon damals sicher, dass Sie am Theater bleiben wollten?

Mit zwölf hab ich ja schon an der Schule gespielt, das war ein großes Erlebnis für mich.

Und Regie führten Sie auch gleich.

Ja, beim „Lumpazivagabundus“, wo ich nebenbei noch den Knieriem gespielt hab. Das Theater hat mich seit frühester Kindheit fasziniert. Ich war schon, glaub ich, mit fünf im Theater.

Sie wurden also systematisch zur Kunst erzogen.

Meine Eltern nahmen mich mit ins Theater, ja, ich bekam auch ein Jugendabonnement an der Burg.

Die meisten Kinder würden auf Hochkultur anders reagieren: Sie würden möglichst schnell das Weite suchen. Was hat Sie daran so fasziniert?

Das war Aufschneiderei, gemischt mit wirklichem Interesse. Ich war schon auch begeistert vom Theater — der Raoul Aslan etwa hat mir ungeheuer viel bedeutet. Ich hab mich oft bei ihm angestellt um Autogramme, aber jedes Mal kam er mit anderen Sonderwünschen: Erst wollte er nur auf bestimmten Autogrammkarten signieren, und als ich die besorgt hatte, meinte er, er wäre wohl bereit zu unterschreiben, aber nur in einem gerade erschienenen Buch über das Burgtheater. Ich glaube, er hat mir letztlich nie ein Autogramm gegeben. Er gab sich stets sehr bedeutend.

Auch das Kino war Ihnen als Kind schon nicht ganz unwichtig, oder?

Ja, ich liebte den Paul Hörbiger und natürlich die Marlene Dietrich; als ich in der Schule den Knieriem spielte, borgte ich mir bei Lambert Hofer einen bestimmten Zylinder aus, den einst leider nicht der Hörbiger, aber immerhin der Rühmann getragen hatte. Da war ich stolz drauf.

Im Zuge Ihrer Flucht nach Großbritannien kamen Sie schließlich in ein Internierungslager …

… auf der Isle of Man, ja. Alle Emigranten mussten da hin. Aber man konnte das schon verstehen. Hitlers Truppen standen am Kanal, hatten Frankreich eingenommen, nun zitterte alles vor der Invasion — auch wir Ausländer natürlich. Also sperrten die Briten erst mal alle Flüchtlinge ein, um etwaige Spione aussortieren zu können. Es waren ja auch Nazis dabei, Hitler-Sympathisanten, die schon länger in England waren. Im Lager organisierten sich die Gruppen dann schnell: Die Nazis trafen sich in der Dusche, die Kommunisten in der Bibliothek.

Im Lager waren Sie erst noch sehr christlich — und konvertierten dann von Gott zu Marx.

Das ergab sich auch aus Gesprächen mit einem hochgebildeten Jesuitenpater, den ich dort kennengelernt hatte. Ich hatte damals schon einen Trend zum wissenschaftlichen Denken: Erst schienen mir die Quäker, die ja extreme Protestanten waren, die beste Glaubenslösung zu sein. Aber dann las ich in Irving Stones Van- Gogh-Buch „Lust for Life“ den Satz „Es gibt keinen Gott“. Das war der Knackpunkt.

Sie haben noch im Lager begonnen, Marx zu lesen?

Ja, weil ich wissen wollte, was denn nun stimmte. Wenn ich nicht an Gott glauben konnte, musste etwas anderes her. Ich ließ mir also von meiner Freundin, die sehr gläubig war, die Schriften von Marx und Lenin schicken.

Wie kamen Sie so schnell nach Ihrer Rückkehr ins Ensemble der Wiener Scala?

Da war ich blutiger Anfänger. Das ließ man mich übrigens spüren: Die Gespräche stockten, wenn einer wie ich sich zu den richtigen Schauspielern gesellte. Nachdem ich zwei Jahre lang am Reinhardt-Seminar gelernt hatte, wurde die Scala gegründet, ich sprach dort frech vor — und wurde genommen. Ich brachte es bis zum Vizedirektor, hatte phasenweise auch die Direktion zu leiten.

In dieser Funktion lernten Sie Bert Brecht kennen?

Ja, als er an der Scala „Die Mutter“ inszenierte. Ausgerechnet zu einer Zeit, als ich gerade Direktionsstellvertreter war. Brecht war aus Berlin jeden Luxus gewöhnt, hatte dort seinen „Galilei“ mit acht Meter hohen Wänden aus Kupfer inszeniert! Und wir waren so arm, dass wir uns nicht einmal die Keramiktöpfe leisten konnten, die Brecht in einer Szene zerbrechen lassen wollte. Ich bat ihn darum, stattdessen Blumentöpfe zu nehmen. Brecht murrte nur schüchtern, dass das ja eigentlich nicht passte. Brecht war ein genialer Dilettant im Sinne Friedells: Er war frei von allen Konventionen.

Ein Amateur im ursprünglichen Wortsinn.

Genau, ein Liebender! So hat er auch geprobt: wenn er wollte, ein ganzes Jahr lang. Aber er konnte mit seinen erstaunlichen Einfällen eben Bedeutendes leisten. Manchmal waren seine Ergebnisse aber auch gar nicht gut. Mich hätte er engagieren wollen, aber das lehnte ich ab, weil ich Angst hatte, dass ich dann während der monatelangen Probezeiten nur spazieren gehen würde.

Tyrannisch war er nicht?

Überhaupt nicht. Allerdings: Bescheiden war er auch nicht. Und seine Liebschaften hat er immer mit einem Schmalzbrot begonnen: Wenn er einer Kollegin sein Brot angeboten hat, wusste man schon, jetzt geht’s wieder los. Aber das konnte schon lukrativ sein. Die Käthe Reichel hat so die Tantiemen des „Guten Menschen von Sezuan“ geerbt.

In den späten 50er Jahren waren Sie in Ostberlin, inszenierten an der Volksbühne und drehten Kinokurzfilme für die DEFA.

Ja, unter dem Titel „Stacheltier“ habe ich kleine satirische Filme, die so ein bisschen angriffig waren, gedreht. Oft wurden sie verboten, das war ein ewiger Kampf. Einer meiner Filme hieß „Schule für Kunden“: Darin machte ich mich lustig über die unfreundlichen Verkäufer in der DDR, indem ich Kundenlehrkurse zur Vorbereitung auf die Begegnung mit diesen mürrischen Menschen an der Kasse inszenierte. In der DDR wurde ja nur eingekauft, was da war, nicht was man brauchte. Wenn es gerade Decken gab, wurden eben Decken gekauft. Aber „Schule für Kunden“, in dem ich nichts weiter sagte, als dass die Verkäufer oft muffig waren, wurde von der Filmkommission verboten, weil es offenbar die DDR gefährdet hätte, wenn die Leute erfahren hätten, dass die Verkäufer muffig waren.

Die Zensur war auch ein Grund, warum Sie die DDR bald wieder hinter sich ließen?

Das politische Klima war einfach absurd. Jede Kritik, die Künstler an der DDR übten, wurde unterbunden. Als ich davon genug hatte, bekniete mich ein Theaterintendant schließlich, doch in der DDR zu bleiben — ob ich denn vielleicht eine Villa oder einen Mercedes wolle, das sei doch alles zu machen. Ich antwortete, dass ich vor allem einen Sozialismus wollte, in dem man als privilegierter Bürger nicht gefragt werde, ob man eine Villa oder einen Mercedes wolle.

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