Auswege aus Sackgassen und Verstrickungen

Vor vierzig Jahren starb Jacob Levy Moreno, der Begründer des Psychodramas, der Soziometrie und der Gruppenpsychotherapie. Ein Blick zurück in seine Wiener Jahre.
VON HARALD KATZMAIR

Gedenktafel für Jacob Moreno in Bulgarien

Verfolgt man die Wiener Jahre (1896 – 1925) von Jacob Levy Moreno, dem unter Psychologen und Soziologen bis heute weithin bekannten Arzt und Psychiater, Begründer der Soziometrie und des Psychodramas sowie der modernen Netzwerkanalyse, so lassen sich Umrisse einer Lebensgeschichte freilegen, die – gekennzeichnet durch Rastlosigkeit, Kreativität und Mut – zu den schillerndsten, aber auch am wenigsten erzählten jüdischen Geschichten gerechnet werden muss, die Wien in den Tiefen seines Gedächtnisses verborgen hält. In einer Welt, in der wir täglich mit Bildern aus dem Nahen Osten konfrontiert werden, die dem Weltgerichtstriptychon von Hieronymus Bosch entsprungen sein könnten – Bildern von Massenexekutionen, geköpften Kindern und gekreuzigten Männern, deren Todesangst und Qualen mit Smartphones gefilmt werden –, in einer Welt enthemmter politischer und religiöser Fundamentalismen ist das Grundmotiv des Werks von Jacob Moreno Levy von tiefgreifender Aktualität: Es ist der Versuch, die Menschheit aus dem erstickenden und für die meisten Kriege und Grausamkeiten verantwortlichen Gefängnis von erstarrten Rollen, Identitäten und Vorurteilen zu befreien und anstelle dessen die kathartischen Kräfte gemeinsamer Spontaneität und Kreativität zu setzen.

Revolutionäre Sozialexperimente
Iacov Morono Levy wurde 1889 in Bukarest als Sohn des Getreide- und Ölhändlers Moreno Nissim Levy und der Mutter Paulina Inancu als erstes von sechs Kindern geboren. Erst nach seiner Immigration in die USA (1926) wird Moreno den Vornamen seines Vaters als Familiennamen annehmen. Auch das Datum seiner Geburt wird Moreno verändern: Zum Gedenken an die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 wird er 1892 als Geburtsjahr anführen. Als Kind sephardischer Juden beginnt Moreno sein Bibelstudium im Alter von vier Jahren bei Rabbi Hayim Bejarano; von katholischen Einflüssen seiner Mutter geprägt, die einige Jahre in einem Konvent verbracht hatte, faszinieren ihn aber auch die Rituale der griechisch-orthodoxen Kirche. 1896/97 übersiedelt die Familie nach Wien, wo sie in der Lilienbrunngasse 11 im 2. Bezirk wohnt und Jacob Moreno Levy die Volksschule besucht. Seine Bar Mizwa wird in der türkischsephardischen Synagoge in der Zirkusgasse 22 gefeiert, 1909 bis 1917 studiert er zuerst Philosophie, dann Medizin an der Universität Wien. Moreno beginnt schon früh mit seinen revolutionären Sozialexperimenten. Bereits um 1907, also mit 18, initiiert er Stegreiftheater mit Kindern im Wiener Augarten und dokumentiert seine Arbeit im Text Das Kinderreich. Mit seinem Freund und Weggefährten, dem chassidischen Philosophiestudenten Chaim Kellner, gründet er 1909 im 2. Bezirk das „Haus der Begegnung“, eine Anlaufstelle für Flüchtlinge und Einwanderer, die es erlauben soll, gemachte Erfahrungen in Gruppen-Settings aufzuarbeiten.

Mit den Prostituierten am Spittelberg entwickelt er 1913 eine Art Selbsthilfegruppe und schult ältere Prostituierte, um durch „Peer-Coaching“ Geschlechtskrankheiten unter den jüngeren Kolleginnen zu minimieren. Während des Krieges ist Moreno 1915–1917 Hygienebeauftragter im Barackenlager Mitterndorf an der Fischa, wo er seine ersten größeren soziometrischen Experimente unter Flüchtlingen aus dem österreichischitalienischen Kriegsgebiet durchführt. Dabei sollten Konflikte unter den Insassen durch eine Optimierung der Nachbarschaften auf Basis von freien soziometrischen Wahlen (Sympathie–Abneigung) verringert werden, ein Konzept, das er später in der USA systematisch in unterschiedlichen Institutionen (z.B. im Sing- Sing-Gefängnis) anwenden wird.

Moreno ging der Versuch der sozialen Emanzipation, wie sie die Sozialdemokraten und Kommunisten forderten, nicht tief genug. Die Befreiung von ökonomischer Unterdrückung und Ausbeutung müsse von der Befreiung psychisch-kultureller Fesseln begleitet sein, sonst würden die Menschen nach der Revolution nur wieder in alte, eingefrorene, erstarrte Schemata, Verhaltensweisen und Rollen, ihre „Konserven“, zurückfallen.

Moreno war überzeugt davon, dass durch die Schaffung von Orten und Bühnen Menschen dazu „empowert“ werden können, in der Dramatisierung ihrer eigenen Lebenswelt, im Nachspielen ihrer täglichen Erlebnisse, selbsttätig Alternativen und Auswege aus psychischen und sozialen Sackgassen zu finden. Denn erst durch das Verlassen vorgegebener „Scripts“ und Rollen, die Überwindung der „Konserven“, könnten Lösungen für die drängendsten psychischen und sozialen Nöte und Fragen gefunden werden. Der Grundstein der sozialen Kreativität und Innovation liegt nach Moreno in der Begegnung von Menschen jenseits von Standesdünkel und ethnischer Herkunft, jenseits von parteipolitischer oder religiöser Zugehörigkeit, in ihrer Fähigkeit zur Spontaneität, der Fähigkeit, gemeinsam Neues hervorzubringen – ideales Experimentier- und Lernfeld dafür ist ihm das Stegreiftheater, das Begegnungen von Menschen ohne vorgefertigtes Drehbuch ermöglicht.

Morenos schillerndes Wirken
Die verbleibende Zeit nach dem Krieg in Wien ist weiter turbulent und schöpferisch: dadaistische Theateraufführungen im Wiener Komödienhaus (Das Narrentheater des Herrn der Welt Jacob von Levy), gruppenanalytische Experimente der freien Assoziation („Diwan-Experiment“), die Gründung eines Stegreiftheaters in der Maysedergasse 2 im 1. Bezirk, Skizzen zum „Theater ohne Zuschauer“, zahlreiche anonyme Schriften (darunter die 1924 erscheinenden, sprachlich imposanten Schlüsselwerke Rede über den Augenblick und Rede über die Begegnung) und das Experiment der „lebendigen Zeitung“, bei dem er Wiener Kaffeehausbesucher auffordert, die Schlagzeilen aus Zeitungsberichten nachzuspielen – ein Experiment, das er später in den USA weiterverfolgen wird. 1925 verlässt Moreno Wien und wandert über Hamburg in die USA aus, wo er sich mit einer Apparatur für Ton- und Bildspeicherung den ökonomischen Durchbruch erhofft, indes aber eine sehr erfolgreiche Karriere als Arzt, Therapeut und Mitbegründer der psychodramatischen Bewegung beginnen wird.

Morenos schillerndes Wirken in seiner Wiener Zeit wirft ein Licht auf die außergewöhnliche Vielfältigkeit, Kreativität und Dynamik einer sich am Höhepunkt befindlichen jüdischen Intelligenz und Kultur. Gleichzeitig geben Morenos frühe Arbeiten Einblick in die kulturellen Bedingungen und die soziale Ökologie, aus der heraus sich die moderne Netzwerkanalyse entwickelt, zeigen die frühen soziometrischen Darstellungen doch offensichtliche Ähnlichkeit mit den Lebensbaum-Darstellungen der Kabbala. In den Sephirot des Lebensbaums ist der schöpferische Gott nicht als singuläre Entität gedacht, sondern als komplexes Netzwerk von Eigenschaften, die aufeinander bezogen sind; und nur durch diese Bezogenheit sind lebendige schöpferische Prozesse möglich. Das ist der faszinierende Grundtenor in Morenos Werk: Katharsis ist nur dort möglich, wo die Bezogenheit zwischen den Menschen wiederhergestellt wird (in der „Begegnung“, wie Moreno formuliert) und das kreative Potenzial in den Beziehungen sich befreien und entfalten kann. Heilung und schöpferische Tätigkeit sind für Moreno ein und dieselbe Bewegung.

Das ist die eigentliche Botschaft des „jungen Moreno“ an uns: Eine Kultur der Fragmentierung, die durch Egoismus, Klüngeldenken und permanenten Wettbewerb jeder gegen jeden geprägt ist, schafft keine gesunde, innovative, erfolgreiche Gesellschaft. Umso dringlicher wäre es, inspiriert von Jacob Levy Moreno, neue soziale Experimente zu wagen, um neue Ausgänge aus Sackgassen und Verstrickungen freizulegen und um unser Leben neuen Begegnungen zu öffnen.

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