Auschwitz war die zweite Vertreibung aus dem Paradies

NU dokumentiert ein Gespräch zwischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész und dem Künstler Miguel Herz-Kestranek darüber, wie Literatur den Holocaust bewältigen kann – und auch wieder nicht.
Von Barbara Tóth

Herz-Kestranek: Herr Kertész, mich hat vor allem das Ende Ihres Drehbuches „Schritt für Schritt“ zum „Roman eines Schicksallosen“ sehr irritiert. Sie sprechen von den Momenten des Glücks im KZ, die Ihr Protagonist erlebt. Das habe ich noch nie so gelesen, weil es wahrscheinlich auch noch nie so ausgesprochen wurde. Wie viel ist da von Ihnen, oder haben Sie das dem Jungen stellvertretend auf den Leib geschrieben? Kertész: In der Einführung zum Drehbuch habe ich den Unterschied zwischen einem Roman und einem Drehbuch geschildert. Im Roman habe ich dieses Ende von Anfang an aufgebaut. Diese Worte, die skandalös klingen, sind von Anfang an da. Ich wollte das so. Am Ende sollte etwas passieren, das wie Sprengstoff wirkt. Vielleicht ist das schockierend, aber das war mein Ziel. Herz-Kestranek: Ja, offenbar, weil durch diesen Schock werden wir zu einer völlig anderen Stellungnahme aufgefordert. Wir haben uns – also ich kann nur von mir sprechen – in unserem Opferbild so gut eingerichtet und können sagen: Wir wissen, wie das war, wir wissen, wie die gefühlt haben, und wir wissen, wie wir uns heute dazu verhalten müssen. Und jetzt kriegen wir plötzlich einen Gedanken präsentiert, der sicher nicht untypisch für sehr viele war, und müssen sagen: Moment, da muss ich das ja alles überdenken. Kertész: Sie müssen die Last übernehmen, das stimmt. Bei einem Erinnerungsroman oder in einem moralisierenden Roman finden Sie das nicht. Der Junge in meinem Buch ist überhaupt kein Opfer, er fühlt sich nicht als Opfer. Er ist ein freier Mensch. Herz-Kestranek: Ist, nachdem Sie dieses Drehbuch geschrieben haben, das Thema für Sie zu Ende geschrieben? Oder wird das immer so bleiben, dass Sie sagen: Eigentlich ist das das Thema und alles, was ich schreibe, hat irgendwo damit zu tun? Kertész: Es ist so, wie Sie es sagen. Ich habe etwas erlebt, was für unsere Zivilisation, für die Geschichte überhaupt ganz entscheidend war. Ich blieb bei dem Thema. Ich schrieb noch drei Romane, aus immer ferneren Perspektiven. Im Roman „Liquidation” haben die Figuren überhaupt keine unmittelbaren Erlebnisse mehr in Auschwitz. Nur haben sie sie geerbt – und mit diesem schweren Erbe ringen sie jetzt. Herz-Kestranek: Und wie geht es Ihnen persönlich? Wird Ihre Last durch das Wegschreiben leichter oder bleibt die Last? Kertész: Wenn man Erinnerungen beschreibt, dann erinnert man sich an eine Wirklichkeit. Aber wenn man einen Roman schreibt, dann muss man diesen Stoff, dieses Material einfach erschaffen. Ich bin es gewesen, der dieses Auschwitz im Roman erfunden hat. Wie eine schreckliche Idee. Das ist meine Freude, meine Sünde, mein Leid und mein Triumph. Und dadurch, dass ich das alles neu schaffe, habe ich diese Realität von damals irgendwie verloren. Herz-Kestranek: Eine theoretische Frage: Wenn Sie noch hundert Jahre Zeit hätten und noch vierzig Romane schreiben würden, könnten Sie anfangen, etwas vollkommen anderes zu schreiben, das überhaupt nichts mehr mit dem Holocaust zu tun hat? Kertész: Das ist das Problem. Auschwitz ist überall da, wenn auch nicht direkt. In jedem Thema der Kunst von heute sieht man einen Bruch, eine Gebrochenheit. Etwas ist passiert, was unvergesslich ist. Herz-Kestranek: Das heißt, es war ein markanter Punkt, wie eine Zeitenwende, wie die Vertreibung aus dem Paradies. Auschwitz war eine zweite Vertreibung aus dem Paradies. Kertész: Genau. So präzise habe ich das noch nie formuliert gehört. Das ist so. Ja! Herz-Kestranek: Ein österreichischer Denker hat vor zwei Jahren gesagt: Mit der Betroffenheitsheuchelei von Menschen, die nicht betroffen sein können, die sich aber zur Betroffenheit verpflichtet fühlen, weil das politisch korrekt ist, muss Schluss sein. Man soll das der Geschichte überantworten, dort ist ihr Platz. Ist das möglich? Kertész: Ich glaube nicht, dass es möglich wäre. Jede Generation muss ihre Arbeit machen – sich mit der eigenen Nation im gesamten Ausmaß identifizieren. Die deutschsprachigen Generationen müssen sich mit dem Land Deutschland identifizieren, und dazu gehört auch dieses Erbe. Die Sache ist nicht erledigt. Auch nicht jetzt in der dritten Generation. Die Taten einer Generation werden von der zweiten Generation geleugnet, aber die dritte Generation nimmt vieles der ersten Generation, der Großvätergeneration, wieder an. Herz-Kestranek: Das ist aber dann ein europäisches Problem. Mit den Arabern können Sie darüber nicht sprechen, weil die sagen: Der Holocaust geht mich nichts an. Das heißt man kann einem Araber das auch gar nicht begreiflich machen. Er hat innerlich keinen Bezug dazu. Es ist ihm wurscht. Kertész: Es ist ihm wurscht, weil er hat diese Revolutionen, die die Europäer erlebt haben, nicht durchgemacht. Die Europäer haben einen großen Weg, Renaissance, Französische Revolution und so weiter hinter sich. Und Auschwitz hat das alles widerlegt. Das kann nur ein Europäer verstehen und nachfühlen. Herz-Kestranek: Gibt es eine Botschaft wie: Bleibt wachsam oder glaubt an das Leben oder seid trotz allem positiv? Als Nobelpreisträger haben Sie ja auch „gefälligst” einen Satz zu sagen, der ganz gültig ist, das muss ein Nobelpreisträger ja können. Gibt es so einen Satz? Kertész: Es gibt keinen. Imre Kertész war im Rahmen der Aktion „Eine STADT. Ein BUCH.” – bei dem hunderttausend Gratisexemplare seines Drehbuches „Schritt für Schritt“ verschenkt wurden – in Wien. Das Gespräch fand am Samstag, dem 22. November, im Galasaal des Hauptsponsors, der Fernwärme Wien, statt. Miguel Herz- Kestranek ist Schauspieler, Vizepräsident der Schriftstellervereinigung PEN und hat mehrere Bücher zum Thema Holocaust geschrieben.

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