Arisierung als Mittel der Kriegsfinanzierung

Die Nazis transferierten geraubtes Vermögen der ermordeten Juden, eroberten Länder systematisch in ihre Staatskasse und finanzierten damit den Krieg. Der Historiker Götz Aly hat diesen bisher vernachlässigten Aspekt aufgearbeitet.
Von Herbert Voglmayr

Wenn man von Arisierung spricht, meint man gewöhnlich die Bereicherung privater Personen, Firmen und Banken an jüdischem Vermögen. Auch in der historischen Fachliteratur dominiert dieser Blickwinkel, der die Arisierungsgewinnler vor allem in den privaten Profiteuren sieht, die sich die Häuser und Aktien, die Möbel- und Kleidungsstücke, den Schmuck und die Kunstwerke der vertriebenen Juden angeeignet haben. Diese Sichtweise beantwortet aber nicht die Frage, wo das gesamte Eigentum der enteigneten und ermordeten Juden Europas geblieben ist.

Fast überall, wo in Europa arisiert wurde, hat der jeweilige Staats- oder Besatzungsapparat die jüdischen Vermögenswerte liquidiert. Dabei entwickelten die Nazi-Machthaber und ihre Wirtschaftsfachleute eine diabolische Effizienz, die derjenigen der Göbbels’schen Propagandamaschinerie um nichts nachstand. Götz Aly stellt in seinem Buch „Hitlers Volksstaat“ detailliert und mit ausführlichem Zahlenmaterial dar, wie die Enteignungsverfahren finanztechnisch abgewickelt wurden und die gewonnenen Mittel in die deutsche Kriegskasse flossen, wie der Massenmord und die Ausplünderung Europas zu einem wohlkalkulierten Mittel nationalsozialistischer Finanz- und Steuerpolitik wurde. Dabei verwendet er eine kühl-rationale Sprache, die der Darstellung den Charakter einer finanzwissenschaftlichen Abhandlung verleiht und sich dennoch streckenweise wie ein Krimi liest.

Bis 1937 waren die Juden in ihrem Privatleben und in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zwar zahlreichen Schikanen und Diskriminierungen ausgesetzt, konnten aber im Wesentlichen noch über ihr Vermögen verfügen. Die systematische Enteignung jüdischen Vermögens begann 1938, als der deutsche Fiskus Geld brauchte, weil die gigantischen Kredite, mit denen Aufrüstung und Vollbeschäftigung finanziert worden waren, den Staat in eine schwere finanzielle Krise gebracht hatten.

In einem ersten Schritt mussten alle Juden innerhalb von sechs Wochen ihr gesamtes Vermögen detailliert gegenüber den Finanzämtern deklarieren, soweit es 5000 Reichsmark überstieg. In einem zweiten Schritt wurden sie gezwungen, Vermögensbestände aller Art in Staatspapiere einzutauschen. Das Pogrom der sogenannten Reichskristallnacht vom November 1938 hatte unter anderem auch den Zweck, den Zwangsumtausch von jüdischem Vermögen in Staatsanleihen zu beschleunigen. Die Zinsen dieser Zwangsanleihen wurden den einzelnen jüdischen Besitzern für ihren Lebensunterhalt zugestanden.

Damit waren die Juden zwar de jure noch im Besitz ihres Vermögens, konnten aber de facto nicht mehr darüber verfügen. Und sobald sie das Land verließen oder ermordet wurden, verfiel ihr Vermögen dem Staat. Die Geschäfte, Lagerbestände, Möbel und Kunstwerke wurden an lokale Interessenten verkauft und die Erträge aus diesen Verkäufen in die Reichskasse gelenkt, was einen Spielraum von rund sieben Milliarden Reichsmark brachte. Um gegenüber dem Ausland das Gesicht zu wahren, wies das Auswärtige Amt seine Auslandsvertretungen an, darauf hinzuweisen, dass die jüdischen Vermögen nicht so wie die Kirchengüter während der Französischen Revolution entschädigungslos beschlagnahmt worden waren, vielmehr erhalte „der enteignete Jude für seinen Besitz Reichsschuldverschreibungen, deren Zinsen ihm zustehen“.

Obwohl die geschichtliche Rekonstruktion wegen der hohen Geheimhaltungsstufe außerordentlich schwierig war, hat Götz Aly umfangreiches Zahlenmaterial zu diesem System recherchiert. In dem Teil Polens, den die Deutschen als Generalgouvernement bezeichneten, lebten beispielsweise etwa zwei Millionen Juden. Schon kurz nach der Besetzung des Landes im September 1939 sperrten die Deutschen sämtliche Konten, Schließfächer und Depots, die auf den Namen eines Juden lauteten. Per Verordnung zwangen sie die Besitzer, all ihre Bankguthaben und Safes bei einer einzigen Bank zusammenzulegen. Barbeträge von mehr als 2.000 Zloty mussten auf Konten einbezahlt werden, von denen für den eigenen Lebensunterhalt 250 Zloty wöchentlich abgehoben werden konnten.

Im November 1939 wurde die Treuhandstelle der Regierung des Generalgouvernements gegründet. Sie übernahm im Generalgouvernement rund 3.600 Betriebe, die mehrheitlich aus jüdischem Besitz stammten und von denen 1.000 als „namhaft“ galten. Das Grundvermögen in Warschau umfasste 50.000 Objekte, die einen Wert von mindestens zwei Milliarden Zloty repräsentierten und verkauft werden sollten, „sobald das irgendwie möglich sei“. Für den Verkauf der riesenhaften Mengen an beweglichem Vermögen wurde die Treuhand-Verwertungs- GmbH gegründet, die den Hausrat und die Kleidungsstücke ghettoisierter Juden wie auch geflohener oder zu Staatsfeinden erklärter christlicher Polen versilberte. Die Arbeit dieser Organisation wurde im Laufe des Jahres 1942 mit einem Ergebnis von 50 Millionen Zloty abgeschlossen.

Götz Aly stellt auch die Frage, warum die so offensichtlich verbrecherische Politik des NS-Regimes ein derart hohes Maß an innenpolitischer Akzeptanz erreichen konnte. Er sieht die Antwort nicht in erster Linie darin, dass Nationalismus und Rassismus bei den Deutschen ausgeprägter gewesen wären als bei anderen europäischen Nationen, sondern eher darin, dass die NS-Herrschaft gemäß ihrer Ideologie des nationalen Sozialismus der Bevölkerung mehr Chancengleichheit versprach und sich ihre Zustimmung quasi erkaufte durch eine Mischung aus guter Versorgung, milder Steuerpolitik und sozialpolitischer Wohltaten für die sozial Schwächeren. So bekamen etwa die Familien der Soldaten 85 Prozent dessen, was der eingezogene Soldat zuletzt verdient hatte (die entsprechenden britischen und amerikanischen Familien bekamen im Vergleich dazu weniger als die Hälfte), und weder Bauern noch Arbeiter noch die kleinen und mittleren Angestellten und Beamten wurden je in nennenswertem Maß mit Kriegssteuern belastet. Auch dies ein wesentlicher Unterschied nicht nur zu Großbritannien und den USA, sondern auch zu Deutschland im Ersten Weltkrieg.

Dass diese „Gefälligkeitsdiktatur“, wie Aly es nennt, in der Praxis mit den Mitteln des Raub- und Rassenkrieges auf Kosten anderer finanziert wurde, dass Hitler die Deutschen mit direkten Kriegssteuern verschonte, dafür jedoch Bombenopfer mit dem Hausrat ermordeter Juden entschädigte und den Krieg weitgehend von den Völkern Europas bezahlen ließ, wollte man nicht wahrhaben. Und wenn heute immer noch manche Apologeten des NS-Regimes das Argument verwenden, Hitler habe ja auch gute Seiten gehabt, weil er „Autobahnen gebaut und den Arbeitslosen Beschäftigung gegeben habe“, dann ist das nur eine Teilwahrheit, die in diesem Zusammenhang einer ganzen Lüge gleichkommt.

ZUR PERSON
Götz Aly

Der 1947 in Heidelberg geborene Götz Aly absolviert zunächst eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München und studiert dann in Berlin Geschichte und Politische Wissenschaften. Neben seiner journalistischen Tätigkeit – für die taz und die Berliner Zeitung – promoviert und habilitiert er und macht sich einen Namen als Autor von geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, für die er 2002 mit dem Heinrich-Mann-Preis und 2003 mit dem Marion-Samuel- Preis ausgezeichnet wird. Der akademische Außenseiter sorgt mit neuen Fragestellungen an eine bekannte Vergangenheit für zahlreiche innovative Impulse und heftige Debatten zur Zeitgeschichte. In „Vordenker der Vernichtung“ (1991) untersucht er die Rolle wissenschaftlicher Experten im Dienste der Nazis, in „Endlösung“ (1999) rekonstruiert er die politischen Entscheidungsprozesse, die der Gräueltat vorausgingen, in „Das letzte Kapitel“ (2002) weist er nach, wie eng der Holocaust in Ungarn mit den ungarischen Verwaltungsstrukturen verwoben war, und in seinem letzten Werk „Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus“ (2006) untersucht er die Stimmungslage der Reichsdeutschen zwischen 1933 und 1945 anhand verschiedener Indikatoren wie etwa der „Adolf-Kurve“, mit der die schwankende Beliebtheit des Führer- Vornamens nachgezeichnet wird.

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