Als Lise dem Otto die Atomspaltung erklärte

Lise Meitner, eine bedeutende Kernphysikerin aus der Leopoldstadt, hätte den Nobelpreis ebenso verdient wie Otto Hahn. Vielen gilt sie sogar als die eigentliche Entdeckerin der Kernspaltung.
VON HERBERT VOGLMAYR

Der Beginn des Atomzeitalters wird gerne mit dem 17. Dezember 1938 datiert, als dem deutschen Chemiker Otto Hahn und seinem Assistenten Fritz Straßmann die erste Uranspaltung gelungen war. Das ist aber nicht viel mehr als die halbe Wahrheit. Die Atomspaltung, wohl eine der spektakulärsten und folgenreichsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, war den beiden zunächst ein rätselhafter Vorgang, und so fragte Otto Hahn die im Sommer 1938 vor den Nazis nach Schweden geflüchtete Lise Meitner um Rat. Sie lieferte einige Wochen später brieflich die erste physikalische Erklärung für die Kernspaltung, die sie zusammen mit ihrem Neffen Otto Frisch erarbeitet hatte. Und sie erkannte und berechnete die gewaltige Energieentwicklung, die dadurch ausgelöst wird. Otto Hahn erhielt für die Entdeckung der Kernspaltung 1944 den Nobelpreis für Chemie, Fritz Straßmann und Lise Meitner wurden nicht berücksichtigt. Straßmann sagte später in einem Interview: „Lise Meitner war die geistig Führende in unserem Team gewesen.“

„Unbezahlter Gast“
Während sie noch jahrzehntelang als „Mitarbeiterin von Otto Hahn“ bezeichnet wurde, besteht in Fachkreisen heute weitgehend Konsens darüber, dass Meitner den Nobelpreis ebenso verdient hätte wie Hahn. Demütigungen dieser Art musste sie in ihrer bemerkenswerten Berufslaufbahn immer wieder hinnehmen. 1878 in eine säkularisierte jüdische Familie in Wien Leopoldstadt geboren, war ihr als Mädchen der Zugang zum Gymnasium verwehrt. Mit Unterstützung ihrer Eltern nahm sie Privatunterricht, legte 1901 am Akademischen Gymnasium Wien die Externistenmatura ab und studierte Physik an der Universität Wien, wo sie 1906 als zweite Frau im Hauptfach Physik promovierte. Ludwig Boltzmann, der ihr Talent erkannte und förderte, war ihr wichtigster akademischer Lehrer.

Anschließend ging sie nach Berlin, um bei Max Planck Vorlesungen zu hören. Dieser empfing sie mit der Bemerkung: „Sie haben doch schon den Doktortitel, was wollen Sie denn jetzt noch?“ Sie hatte ihn aber offenbar doch beeindruckt und durfte sich in seine Vorlesungen einschreiben. Dort lernte sie den Chemiker Otto Hahn kennen, der im Chemischen Institut der Uni Berlin auf dem Gebiet der Radioaktivität forschte. Es begann eine Zusammenarbeit, die über 30 Jahre dauern sollte. Sie arbeitete mit ihm als „unbezahlter Gast“ in einer ausrangierten Werkstatt des Haustischlers und musste das Gebäude durch den Hintereingang betreten, da Frauen an der Uni nicht zugelassen waren. Emil Fischer, der Institutsleiter, der Studentinnen weder in den Institutsräumen noch in den Vorlesungen duldete, sagte zu Otto Hahn: „Wenn sie im Keller bleibt und niemals das Institut betritt, soll es mir recht sein.“ Zum Institut hatten nur Putzfrauen Zugang. Das änderte sich, als 1909 das Frauenstudium offiziell eingeführt wurde.

In den Jahren 1912–15 war sie Assistentin bei Max Planck (die erste preußische Uni-Assistentin) tätig, 1922 habilitierte sie sich als erste Frau in Deutschland, und 1926 wurde sie Deutschlands erste Professorin für Physik. Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, verlor sie als Jüdin die Lehrbefugnis. Da sie aber noch den österreichischen Pass hatte, konnte sie ihre Forschungsarbeit im Status einer Ausländerin fortsetzen. Wie viele andere glaubte sie, dass die Nazis nur ein kurzer Spuk der Geschichte sein würden. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 war sie aber akut gefährdet und flüchtete – mit Hilfe von Otto Hahn und dem niederländischen Chemiker Dirk Coster – über die Niederlande und Dänemark nach Schweden, wo sie ihre Forschungen bis 1947 im Nobel-Institut fortsetzte.

Hahn war zwar ein hervorragender Chemiker, wie Meitner selbst immer betonte, von theoretischer Physik hatte er aber wenig Ahnung, wie etwa aus einer oft zitierten Bemerkung hervorgeht, die er sich bei einer hitzigen Debatte zwischen den beiden im Stiegenhaus anhören musste: „Hähnchen, von Physik verstehst du nichts, sei brav und geh nach oben!“ Tatsächlich war es Meitner, die die Versuche initiierte, die letztlich zur Kernspaltung führten. Sie war fasziniert von den Versuchen des Italieners Enrico Fermi und überredete Hahn, sie fortzusetzen. Fermi hatte Uran mit Neutronen beschossen, die in den Atomkern eindringen und so neue und schwerere Elemente als Uran schaffen sollten, die er Transurane nannte. Der chemische Nachweis dafür gelang ihm aber nicht. Bei den Versuchen von Hahn und Straßmann geschah nun etwas, was nach dem damaligen Stand der Wissenschaft als unmöglich galt, nämlich dass ein Atomkern in der Mitte auseinanderfliegt. Hahn hatte Meitner in Schweden über alle Experimente und Ergebnisse brieflich unterrichtet und fragte sie nun: „Wäre es möglich, dass das Uran 239 zerplatzt in ein Ba und ein Ma [Barium und Masurium]? Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören. Eventuell könntest Du etwas ausrechnen und publizieren.“ Hahn und Straßmann hatten einen physikalischen Prozess auf rein chemischem Weg nachgewiesen, Meitner und Frisch erklärten daraufhin den Spaltungsprozess physikalisch und zeigten, dass die beiden Bruchstücke (Atomkerne), die bei der Spaltung entstehen, zusammen eine geringere Masse haben als der ursprüngliche Atomkern, und sie errechneten mit Einsteins Formel E=mc², dass diese Massendifferenz als Energie frei wird – 200 Millionen Elektronenvolt pro gespaltenem Atomkern. Kurz danach entdeckten andere Forscher, dass bei der Spaltung neue Neutronen entstehen, die in einer Kettenreaktion wiederum Atomkerne spalten können, und arbeiteten daran, die Kernspaltung technisch nutzbar zu machen.

Die Nutzung der Kernspaltung für militärische Zwecke
Erst die Nachkriegsjahre brachten ans Licht, wie groß Meitners Verdienste um die Wissenschaft waren. Sie erhielt zahlreiche Ehrungen, der Nobelpreis für Physik blieb ihr jedoch versagt, obwohl sie dreimal dafür nominiert wurde, auch von Otto Hahn selbst. Meitner betonte immer wieder, dass Hahn den Nobelpreis zweifellos verdient habe, machte ihm allerdings Vorwürfe, dass er ihre Beiträge zur Aufklärung des Uranspaltungsprozesses nicht ausreichend würdigte und sie nur als seine Mitarbeiterin bezeichnete: „Was würdest Du dazu sagen, wenn Du auch charakterisiert würdest als der langjährige Mitarbeiter von mir?“

Ab 1947 hatte sie eine Professur an der Königlich-Technischen Hochschule in Stockholm inne und wurde zu Gastprofessuren an eine Reihe von Universitäten in den USA eingeladen. Sie setzte sich für die friedliche Nutzung der Kernenergie ein und betrachtete sie – wie viele andere auch – als die Lösung des Energieproblems der Menschheit. Deren negative Folgen, wie sie zuletzt in Fukushima zutage traten, wurden damals noch nicht ausreichend bedacht. Allerdings weigerte sie sich von vornherein – obwohl von den USA immer wieder dazu aufgefordert –, Forschungsaufträge für die Entwicklung der Atombombe anzunehmen. Dennoch wurde sie 1946 bei einer Vorlesungsreise in den USA von der amerikanischen Presse als „Mutter der Atombombe“ und „Frau des Jahres“ bezeichnet, und das nur ein Jahr nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki. Sie fühlte sich dadurch laut eigener Aussage „verletzt und beschmutzt“. Auch Hahn und Straßmann waren erschüttert über diese Folgen ihrer Entdeckung. Hahn bezeichnete die Nutzung der Kernspaltung für militärische Zwecke später als „Schweinerei, mit der ich nichts zu tun habe“.

Im Jahr 1960 übersiedelte Lise Meitner nach Cambridge, um in der Nähe ihrer Verwandten zu leben. Dort starb sie 89-jährig am 27. Oktober 1968. Auf ihrem Grabstein steht: „A physicist who never lost her humanity“.

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