Als die Sommerfrische „arisch“ wurde

Viele Jahrzehnte vor der systematischen Verfolgung und Ermordung der Juden wurden im deutschen Kaiserreich und in der Donaumonarchie Juden ausgegrenzt, dort wo man es nicht unbedingt erwartet: in Fremdenverkehrsorten. Die Schattenseiten des Ferienidylls beschreibt der Historiker Frank Bajohr in seinem neuen Buch. (Frank Bajohr: „Unser Hotel ist judenfrei“ – Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert)
Von Danielle Spera

Wer kennt sie nicht, jene berühmten Fotos, die etwa Sigmund Freud mit seiner Tochter Anna (wohlgemerkt im Dirndl), Arthur Schnitzler oder viele andere jüdische Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler entspannt in der Sommerfrische zeigen. Diese Bilder sind trügerisch. Man könnte annehmen, dass sich Juden in Kur- oder Badeorten lange vor der Nazi-Zeit willkommen fühlen konnten. Doch die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Antisemitismus und Ausgrenzung von Juden begannen schon lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Anfänge finden sich um 1870 an den Urlaubsstränden Nord- und Ostdeutschlands und wenig später in vielen Fremdenverkehrsorten der Donaumonarchie und später der Ersten Republik.

Worüber man bisher nur spekulieren konnte, ist jetzt belegt. Der deutsche Historiker Frank Bajohr von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg hat die Anfänge des Antisemitismus in Bade-und Kurorten oder der klassischen Sommerfrische untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass Juden sofort nach dem Beginn des einsetzenden Tourismus in Fremdenverkehrsorten nicht erwünscht waren.

Im deutschen Kaiserreich nahm die ostfriesische Insel Borkum eine Vorreiterrolle in Sachen Antisemitismus ein. „Juden und Hunde dürfen hier nicht herein!“ oder „Dieses Haus ist judenrein, verdammt soll jeder Jude sein“ war da an den Eingängen von Gasthöfen, Pensionen und Hotels zu lesen.

Beleidigungen, Bedrohungen und tätliche Angriffe auf jüdische, jüdischaussehende oder judenfreundliche Urlauber durch antisemitische Gäste und Einwohner gehörten ab etwa 1870 zur Tagesordnung. Wenige Jahre später gab es dann vom Kurorchester unter reger Beteiligung der Gäste die Borkumer Inselhymne zu hören: „Es herrscht im grünen Inselland ein echter deutscher Sinn, drum alle, die uns stammverwandt, ziehn freudig zu dir hin. An Borkums Strand nur Deutschtum gilt, nur deutsch ist das Panier. Wir halten rein den Ehrenschild Germania für und für! Doch wer dir naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haaren kraus, der soll nicht deinen Strand genießen, der muss hinaus, der muss hinaus! Hinaus!“

 

„Gesellschaftlicher“ Antisemitismus

Als Hintergrund für die Ausgrenzung der Juden vor dem Ersten Weltkrieg sieht Bajohr nicht einen religiös motivierten, sondern einen so genannten gesellschaftlichen Antisemitismus. Reisen war zu dieser Zeit noch ein Vorrecht der Oberschicht, des Hochadels und der Großbürger, das sollte sich bald ändern. Um die Jahrhundertwende hatte sich die Zahl der Gäste verzehnfacht.

Bajohr ortet – auch nach Auswertung vieler Berichte Betroffener und der Beurteilungen des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ – Neid als Auslöser für die Entstehung antisemitischer Gefühle und zwar ausgehend vorwiegend von den Gästen, die Druck auf die örtlichen Verwaltungen ausübten.

Mit dem Aufschwung des Tourismus Ende des 19. Jahrhunderts erklärten sich Seebäder, Kurorte und Sommerfrischen gern als „judenfrei“, um deutsche Antisemiten der besseren Gesellschaft anzusprechen. „Jeder Antisemit zog weitere Gesinnungsgenossen auf die Insel, und die Borkumer begannen mehr und mehr, sich mit der Majorität der Gäste zu arrangieren, unter deren Ansturm die Insel wirtschaftlich florierte“, schreibt Bajohr und spricht von einer Koalition des Neides. Borkum bildete bei weitem keine Ausnahme. „Reisen diente nicht nur allein der Gesundheit und persönlichen Erholung, sondern erfüllte auch eine Reihe wichtiger gesellschaftlicher Funktionen. Kontakte zu knüpfen, die Bäder waren Heiratsmärkte, Orte der Selbstdarstellung und mit Selbstdarstellung, war eben auch immer mit Ausgrenzung und Abgrenzung verbunden“, heißt es im Buch. Und die Juden, so Bajohr, waren die Ausgegrenzten: „Die Juden zählten nun zu denen, die sich eine Reise ins Bad leisten konnten, die, verglichen mit der Bevölkerung, gesellschaftlich höher gestellt waren, und das zog natürlich Ressentiments nach sich, und das führte dazu, dass sich diese Ressentiments auch bemerkbar machten.“

Die deutschen Nordseebäder und die Ostseestrände waren durch die Bank antisemitisch bis auf wenige Orte, die dann bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten jüdische „Urlaubsenklaven“ darstellten. Während sich Borkum als deutsche Insel hervortat, betonten andere Gemeinden ihren Antisemitismus nach außen hin etwas verhaltener – vor allem in Bayern und Österreich, da verkauften sich die Gemeinden oft als „christlicher“ Erholungsort – im Alltag war er aber umso schlimmer. Nach 1933 wurden Juden ganz offiziell aus sämtlichen Kur- und Badeorten vertrieben. Nun war der Antisemitismus ja von oben abgesegnet.

 

Unrühmliches Österreich

Der Bäder-Antisemitismus war kein deutsches Phänomen, wie Frank Bajohr betont. In Österreich wütete der „Sommerfrischen- Antisemitismus“ noch schlimmer als in Deutschland. Jüdische Zeitungen warnten immer wieder vor unliebsamen antisemitischen Überraschungen. Das Israelitische Familienblatt bezeichnete die Habsburgermonarchie schon 1904 als das „gelobte Land des Radauantisemitismus“. Im Detail ging man dann immer wieder auf den Sommerfrischen-Antisemitismus ein, der in Österreich in größerer Intensität und Schärfe auftrat, schreibt Bajohr.

Hier sorgten die Aufrufe des radikalen Deutschnationalen Georg von Schönerer oder des Wiener Bürgermeisters Lueger für ein Klima, in dem der Sommerfrischen-Antisemitismus – im Gegensatz zum Deutschen Reich – nicht nur von den antijüdisch gesinnten Gästen ausging, sondern zentral von den Tourismusorganisationen, den Gemeindeverwaltungen oder Fremdenverkehrsvereinen. Beispiel Kitzbühel in Tirol: Schon 1897 beschloss die Generalversammlung des Fremdenvereins, dass Anfragen von Juden unberücksichtigt zu bleiben hätten. Die Sommerfrische Tragöß ließ 1908 Bänke mit der Aufschrift: „Für Juden und Judensprösslinge kein Platz“ aufstellen. Bergsteiger berichten von Worten wie „Saujud“ oder „Judengesindel“ in Gipfelbüchern. Wander-, Alpen- und Skivereine begannen schon früh, Juden auszuschließen.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie verschärfte sich die Gangart. Aus Sicht der Deutschnationalen waren von allen Nationalitäten im österreichischen Kernland die Juden als Minderheit übrig geblieben. Bald kam es in den Fremdenverkehrsorten zu antisemitischen Übergriffen. Ein regelrechter Wettbewerb unter den „judenreinen“ Orten setzte ein. Bajohr nennt u. a. Eferding in Oberösterreich, St. Margarethen in Kärnten, Mattsee, Krems an der Donau. Pöllau brüstete sich als „arische Sommerfrische ersten Ranges“, es hieß: „Judenreines Mittersill“, Tamsweg oder St. Veit im Mühlkreis bewilligten „den Aufenthalt nur Ariern“. In der Wachau oder in Schladming war überall zu lesen: „Juden nicht erwünscht“, während man es in Trofaiach etwas diskreter hielt: „Angenehmer Aufenthalt für christliche Familien“…

Die Zahl der „judenreinen Fremdenverkehrsorte“ war jedenfalls in Österreich mehr als doppelt so hoch wie im Deutschen Reich. Das Wort „arisch“ wurde hier geradezu inflationär verwendet, schreibt Bajohr.

Das jüdische Bürgertum suchte dennoch in den Erholungsorten die in den Städten verwehrte Integration und die soziale Anerkennung als Bürger unter Bürgern. So gab es in Österreich trotz der vielen antisemitischen Orte vor 1938 auch zahlreiche Gemeinden, die traditionell einen hohen Prozentsatz jüdischer Gäste hatten (Bad Gastein, Bad Ischl oder Bad Aussee). Bajohr nennt es ein fragiles Idyll, da Juden nur aus wirtschaftlichen Gründen als Gäste akzeptiert wurden. In diesem Zusammenhang konnte man in Österreich einen „saisonalen“ Antisemitismus in den ländlichen Regionen feststellen. „Viele sehr stark besuchte Sommerfrischen in Österreich sind bis Mitte Juni radikal antisemitisch, von Mitte Juni bis Mitte September verlogen judenfreundlich – Judengeld ist eben doch auch Geld – und vom halben September an wieder radikal antisemitisch“, so die Wiener Allgemeine Zeitung 1927.

 

„Juden unerwünscht“ – in Europa und den USA

Außer in den Niederlanden und Großbritannien waren Juden europaweit in Badeund Kurorten unerwünscht. Beklemmend ist der Blick in die Vereinigten Staaten. Dort akzeptierten noch in den fünfziger Jahren etwa 30 Prozent der Ferienhotels keine jüdischen Gäste. Bajohr spricht vom „Resort Antisemitism“ in den USA. Man warb mit Slogans wie „Keine Juden, keine Hunde, keine Schwindsüchtigen“.

Das Phänomen war also auch in den USA weit verbreitet – doch ohne direkte Auswirkungen auf die Politik. Nach einer landesweiten Untersuchung der seit 1913 tätigen Menschenrechtsorganisation „Anti-Defamation League“ gaben 23 Prozent aller amerikanischen Hotels 1957 unumwunden zu, dass sie keine jüdischen Gäste wollten. Der Antisemitismus in den Tourismusgebieten bildete sich in den USA zeitgleich mit Europa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts heraus. 1877 gab es den ersten dokumentierten Vorfall, als Henry Hilton in Saratoga Springs dem deutschen Bankier Joseph Seligman, einem Freund des damaligen US-Präsidenten Grant, die Aufnahme in sein Hotel verweigerte. Wenig später breitete sich der „Resort Antisemitism“ wie eine Seuche aus. „Hebräer begehren vergeblich Einlass“ oder „Keine Moskitos, keine Malaria, keine Juden“, hieß es bald in vielen Hotels. Durch die Ausgrenzung von Juden hofften viele Hoteliers, eine sozial exklusive Klientel anzuziehen. „Die höchsten Kreise kommen nicht, wenn Juden da sind“, war die Begründung der Hotelbesitzer. Später hieß es dann statt „No Hebrews Wanted“: „Restricted Clientel“ oder „Selected Guests“. Gleichzeitig kam es in vielen Regionen zur Bildung regelrechter jüdischer Orte. Da gab es ein, zwei Hotels in jüdischem Besitz und schon blieben die nichtjüdischen Gäste fern.

Die Ausgrenzung war auch in den USA nicht auf den Fremdenverkehr beschränkt, Juden blieben auch bestimmte Wohngegenden verwehrt, oder die Mitgliedschaft in verschiedenen Clubs, Colleges und Universitäten.

Nach einer Untersuchung der Anti-Defamation League akzeptierten noch 1962 mehr als die Hälfte der amerikanischen Clubs keine jüdischen Mitglieder. „Umso mehr überrascht, dass der weitverbreitete gesellschaftliche Antisemitismus in den USA kaum Auswirkungen auf die politische Sphäre zeitigte. In der zutiefst individualistischen politischen Kultur der USA hatten politische Bewegungen keine Chance, die den Kampf gegen Juden in den Mittelpunkt ihrer Ideologie stellten … Dementsprechend war auch der Resort Antisemitism nicht von massiver antisemitischer Agitation begleitet, die für deutsche Seebäder wie Borkum nach dem Ersten Weltkrieg typisch war“, schreibt Bajohr.

Der gesellschaftliche Antisemitismus hatte also in den anderen Ländern kaum Einfluss auf die Politik. In Deutschland und Österreich förderte er Vorurteile und Abneigungen gegen die Juden, ohne die die Ausgrenzungsmaßnahmen der Nazi-Diktatur vielleicht nicht so erfolgreich verlaufen wären. In diesem Sinn hat er den Boden für den politischen Antisemitismus und damit auch die Vernichtung der Juden mitbereitet.

Frank Bajohrs Buch bietet tiefe Einblicke nicht nur in einen bisher unerforschten Aspekt des Antisemitismus. Auch das gesellschaftliche Denken des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das Judenfeindschaft erst ermöglicht hat, wird transparent. Ein spannendes Buch, auch für jene, die sich schon eingehend mit dem Thema Antisemitismus auseinander gesetzt haben.

 

Frank Bajohr: „Unser Hotel ist judenfrei“ – Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert.

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2003, 232 Seiten.

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