Alltagsgeschichten

Von Erwin Javor

I. SZENE: Sicherheitsrisiko

Unser Oberrabbiner wollte mich sprechen und bat mich in sein Büro. Ich betrat pünktlich das Gebäude in der Seitenstättengasse, wo mich ein sichtbar gelangweilter Sicherheitsbeamte in Augenschein nahm. Er stellte die üblichen Routinefragen, die ich anfänglich auch geduldig beantwortete. Scheinbar hatte ich ihn jedoch mit irgendeiner Reaktion verärgert, denn er begann mit aufreizender Langsamkeit meinen Personalausweis zu untersuchen und mich immer wieder zu fragen, was denn Chaim Eisenberg von mir wolle. Ich schlug ihm vor, diese Auskunft von unserem Oberrabbiner selbst zu erfragen, aber es nutzte nichts. Er genoß dieses Spiel ganz offensichtlich.

Er musste doch in der Diskussion schon längst erkannt haben, daß ich Gemeindemitglied bin und kein Sicherheitsrisiko darstellen würde. Ich stand nun vor der Wahl, betont höflich und devot dieses Spiel mitzumachen und dann huldvoll vorgelassen zu werden, oder unverrichteter Dinge abzuziehen. Ich entschloß mich zu Letzterem und zur Verblüffung meines Gegenübers verlangte ich resolut meinen Ausweis und verließ das Gebäude.

Unser Herr Oberrabbiner rief mich später an und bat mich eine schriftliche Beschwerde in der Kultusgemeinde zu deponieren, da in der Vergangenheit Vorkommnisse ähnlicher Art seine Arbeit unnötig erschwert hatten. Ich lehnte jedoch ab. Ereignisse dieser Art sind keine Seltenheit. Freunde berichten mir regelmäßig von ähnlichen Erlebnissen. Beschwerden haben, meines Wissens nach, in der Vergangenheit im Vorstand und in der Sicherheitskommission zu merkwürdigen Reaktionen geführt. Nicht die Sicherheitsbeamten, sondern die jeweiligen Beschwerdeführer mußten sich rechtfertigen.

Meine Hoffnung ist, daß die Verantwortlichen ihre Mitarbeiter zumindest sicherheitstechnisch besser schulen. Eine psychologische Ausbildung scheint es nämlich nicht zu geben. Es besteht kein wirkliches Vertrauensverhältnis zwischen den zu Schützenden und den Sicherheitsorganen. Gerade in einer Grenzsituation ist dies jedoch unbedingt erforderlich. Wir müssen uns außerdem vor Augen halten, daß dieser notwendige Dienst nicht gerade billig ist. Die Kosten für diese Agenden betrugen zuletzt nämlich sage und schreibe 24,6 Millionen Schilling. Für diese enorme Summe erwarten sich die Gemeindemitglieder mit Recht ein optimales Ergebnis.

 

 

II. SZENE: Purimspiel

Mein letzter Entschluss, künftig offizielle Feiern und Veranstaltungen der Kultusgemeinde zu meiden, war die Purimfeier im Gemeindezentrum vor einigen Monaten. Ich habe schon viele missglückte Veranstaltungen erlebt, aber diese Blamage wird so bald nicht zu übertreffen sein. Chaos pur. Verkleidete Schauspieler trugen, scheinbar ohne jemals geprobt zu haben, unverständliche Texte vor, die Musiker mühten sich redlich – ohne funktionierende Tonanlage jedoch völlig vergeblich. Insgesamt eine schlechte Improvisation. Der jüdische Charakter des Festes stand nicht im Mittelpunkt. Als besonders unangenehm empfand ich, dass geladene nichtjüdische Sympathisanten und Medienleute einen falschen Eindruck von diesem Fest mitnehmen mussten. Am Ende skandierte ein Teil des Publikums im Chor „Schande, Schande“. Und in diesem allgemeinen Chaos machte unser Präsident unbeeindruckt das, was er am besten kann: Er gab in- und ausländischen Fernsehanstalten Interviews.

Glücklicherweise war ich vorher zum Megillelesen mit meinen Kindern in der Misrachi gewesen, wo in intimer und ernsthafter Atmosphäre eine würdiger und warmherziger Purim gefeiert wurde.

 

III. SZENE: 175 Jahre Stadttempel

Mein Entschluß stand fest. Ich werde nicht gehen. Unter keinen Umständen. Ich hielt eine Einladung zu einem Festakt zum 175jährigen Bestehen des Wiener Stadttempels in Händen. Die letzten Ereignisse hatten mir gereicht!

Es muß Anfang der 60iger Jahre gewesen sein – ich war noch ein Kind- als mich mein Vater eines Tages zu einem Schabbatgottesdienst mitnahm und ich erstmals einen weltberühmten Operntenor als Kantor miterleben durfte. Richard Tucker (1913-75 ) gestaltete einen denkwürdigen Gottesdienst, dessen Schönheit und Vollkommenheit ich erst viele Jahre später erkannt habe.

Und jetzt sollte ich wegen dieser unzumutbaren Vorkommnisse Neil Shicoff im Stadttempel versäumen? Also lieber Augen zu und durch. Also alle peinlichen Szenen und Vorkommnisse negieren und sich auf den Auftritt von Shicoff konzentrieren.

Meine Frau und ich kamen also am 11.Juli in den Stadttempel. Die erste Verwunderung war groß. Wir wurden von den Sicherheitsorganen erkannt und freundlich begrüßt. Ohne Zeitverlust wurden wir zu – ich konnte es nicht fassen- reservierten Plätzen geführt Die Veranstaltung begann nach Eintreffen des Bundespräsidenten pünktlich. Die Begrüßung der Ehrengäste und die Eröffnung des Festaktes durch den Präsidenten Dr. Muzicant war kurz, nicht belehrend und doch voller Informationen.

Ein Lapsus lingue am Beginn seiner Ansprache machte ihn fast sympathisch. Der Herr Oberrabbiner war sichtlich vorbereitet, unser Oberkantor sang gefühlvoll „Schjibane Beth Hamikdasch“ und vermied hohe Töne. Das Programmheft war informativ und liebevoll zusammengestellt. Das wunderbare Amber Trio Jerusalem musizierte auf höchstem Niveau und zu guter Letzt rührte Neil Shicoff mit der Arie „Rachel, quand du Seigneur la grace tutelaire“ aus der Oper „Die Jüdin“ von Jacques Fromental Halévy die Festgäste zu Tränen. Jubel brach aus. Insgesamt ein hervorragend organisierter Festakt voll Würde und Schönheit.

Ich denke seit diesem Ereignis ständig über die Gründe nach, weshalb eine organisatorische Leistung manchmal vollbracht werden kann und manchmal nicht. Wie ist es möglich, daß es zu derartigen Qualitätsunterschieden kommt. Eine Veranstaltung, die hauptsächlich von Mitgliedern der Gemeinde besucht wird, sollte doch mindestens den selben Stellenwert für die Verantwortlichen darstellen, wie ein Fest für prominente Gäste. Oder haben wir Juden zu wenig Respekt für einander?

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