Alltagsgeschichten

Von Erwin Javor

Vor einigen Monaten hatte mein sechzehnjähriger Sohn ein irritierendes Erlebnis. Ein etwa vierzigjähriger Mann kommentierte die Weltlage mit folgenden Worten: „Das mit den vielen Opfern am 11. September ist wirklich schrecklich, aber was sind schon dreitausend Tote gegen den Bombenterror der Alliierten im Zweiten Weltkrieg? Wenn die Amerikaner endlich aufhören würden, Israel zu unterstützen, dann gäbe es auch keinen Terror. Es ist doch evident, dass in den USA nicht der Präsident das Sagen hat, sondern die Wirtschaft – und die ist ja bekanntlich in jüdischer Hand.“

Diese Bemerkung fiel allerdings nicht im Wirtshaus oder am Sportplatz, sondern vor versammelter Schulklasse bei einer Gedenkfeier zum 11. September. Die Aussage stammte vom zuständigen Professor im – man höre und staune – Geschichtsunterricht! Dass solche „Sager“ mittlerweile zum Alltag gehören, bestätigen mir viele meiner Freunde, die wie ich mit ähnlichen Erlebnissen konfrontiert sind.

Das spielt sich dann folgendermaßen ab: Man trifft einen guten Bekannten im Kaffeehaus oder auf einer Abendgesellschaft und schon nach kurzer Zeit wird man auf die furchtbaren Zustände im Irak angesprochen und erwartungsvoll aufgefordert, zu den Folterungen der Amerikaner in den irakischen Gefängnissen Stellung zu nehmen. Wenn man dann den Fehler begeht, reflexartig und unzulässigerweise auf Enthauptungen von Geiseln, die von radikalen islamistischen Gruppen durchgeführt werden, hinzuweisen, heißt es, dies sei zwar schrecklich, aber auch irgendwie verständlich. Die Gier nach Öl und vor allem die Unterdrückung der Palästinenser fördern eben solche schrecklichen Taten. Kurz gesagt: Das Foltern der Gefangenen ist Teil eines amerikanischen Masterplans und zeigt das wahre Gesicht der USA, das Kehledurchschneiden von unschuldigen Zivilisten jedoch ist Teil der islamischen Geschichte und Kultur. Es wird mit einer gewissen Genugtuung argumentiert, die nicht zu übersehen ist, und man kann förmlich die darauf folgenden Sätze prophezeien: In Kenntnis der amerikanischen Untaten müsse man die Naziverbrechen nun doch ein wenig relativieren. Denn was die Amerikaner da machen, sei doch sehr wohl mit den Gräueltaten der KZ-Aufseher im Dritten Reich zu vergleichen. Und was machen die Juden in Palästina? Das ist doch auch Völkermord. Oder?

Das ständige Wiederholen von unzulässigen Vergleichen und das bewusste Vermengen von verschiedenen und voneinander unabhängigen Krisen in der Welt, hat einen sehr einfachen Grund, nämlich, endlich wieder antiamerikanischen und antijüdischen Ressentiments freien Lauf lassen zu dürfen. Als Vorwand dient stets das Argument, die Palästinenser könnten sich eben nicht anders als durch Terror zur Wehr setzen. Die Gründe für den blutigen und anhaltenden Konflikt im Nahen Osten sind aber viel komplexer.

Wäre die Besetzung Palästinas nämlich der einzige Grund für diesen anhaltenden Konflikt, würden die Waffen schon lange schweigen. Es gab bekanntlich den Osloer Friedensplan, der ein Test dafür war, ob Israel und seine Nachbarn für Frieden bereit wären. Dieser Test wurde von der überwältigenden Mehrheit der israelischen Bevölkerung unterstützt und Ehud Barak daher mit großer Mehrheit zum Ministerpräsidenten gewählt. Barak offerierte für die Schaffung eines Palästinenserstaates die Rückgabe von 94 Prozent der West Bank und weitere territoriale Kompensation für die restlichen sechs Prozent. Außerdem sah er vor, die Altstadt von Jerusalem zurückzugeben und großzügige Restitutionen zu leisten. Doch der Plan wurde von den Palästinensern nicht nur abgelehnt, sondern auch mit Gewalt beantwortet – die israelische Bevölkerung reagierte darauf bei den darauf folgenden Wahlen mit einem Machtwechsel.

Während man in Israel jetzt und in der Vergangenheit leidenschaftlich und heftig darüber diskutiert, wie ein gerechter und für beide Seiten zumutbarer Frieden aussehen könnte, hört man von arabischer Seite nur einseitige Schuldzuweisungen. In Tel Aviv werden regelmäßig Friedensdemonstrationen abgehalten, während in Gaza auf der Straße, in den Schulen und in den Moscheen Hass gepredigt wird.

Und wie reagieren internationale Medien auf diese Tatsache? Das Faktum, dass das Islamisten-Regime im Sudan systematisch ethnische Säuberungen durchführt und vor dem Terror arabischer Milizen bereits mehr als eine Million Menschen auf der Flucht sind, wird zur Randnotiz, während der Israel-Palästina-Konflikt als Hauptbedrohung für den Weltfrieden dargestellt wird. Und während in Nigeria nach wochenlangen blutigen Auseinandersetzungen zwischen muslimischen und christlichen Fundamentalisten Tausende Tote zu beklagen sind, über 60.000 Menschen flüchten müssen, wird im Sicherheitsrat die Zerstörung von palästinensischen Häusern nahe der ägyptischen Grenze verurteilt.

Im Judentum ist Selbstkritik, als wichtiger Beitrag zu Problemlösungen, seit Jahrtausenden Tradition. Solange auf arabischer Seite nicht ein ähnlich selbstkritischer Zugang gefunden wird, wird es keine Lösungsansätze geben.

Folgende schmerzhafte Fragen müsste sich die arabische Gesellschaft stellen: Wo steht die arabische Welt im Vergleich zur industrialisierten Welt? Wo steht sie, wenn es um Demokratie, Frauenrechte, Pressefreiheit und die Trennung von Staat und Religion geht? Warum hinken die arabischen Volkswirtschaften so hinter der übrigen Welt nach? Um nur ein Beispiel zu nennen: In den Fünfzigerjahren hat Südkorea das gleiche Prokopfeinkommen erwirtschaften können wie Syrien und Ägypten. Heute ist Südkorea, trotz der jahrzehntelangen blutigen Auseinandersetzung mit seinem Nachbarn, eine hoch entwickelte Industrienation. Die meisten moslemischen Staaten blieben hingegen Entwicklungsländer. Wie kann und sollte die arabische Welt auf die Internetrevolution und auf die zunehmende Globalisierung der Welt reagieren? Wo sind die Intellektuellen der arabischen Welt? Wieso hört man ihre kritischen Stimmen nicht?

Die interne Diskussion zur Klärung dieser Fragen ist unvermeidbar und müsste im Interesse aller offen geführt werden. Die Weltöffentlichkeit aber sollte endlich begreifen, dass palästinensische Selbstmordattentäter mit ihren Anschlägen nicht die israelische Regierung zwingen wollen, ihre Politik zu ändern, sondern dass es ihnen darum geht, den Judenstaat schlechthin zu vernichten.

 

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die derzeitigen Kosten unserer Kultusgemeinde nicht mehr seriös zu finanzieren sind. Und wir alle sollten vermeiden, vom Wohlwollen der heutigen oder auch jeder zukünftigen österreichischen Regierung abhängig zu sein.

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