(Alb-)Traumreise in zwölf Stationen

Wenn in den Erzählungen von Anatol Vitouch, in einer Parallelexistenz NU-Schachkolumnist, alles im grünen Bereich ist, dann heißt das ganz und gar nicht, dass kein Grund zur Beunruhigung besteht – im Gegenteil.
VON VERA RIBARICH

Jetzt hat er schon wieder was publiziert. Anatol Vitouch, von dem zuletzt (NU 59) als Co-Übersetzer von Die Pferde des Königs zu berichten war, legt mit Einstein in Zürich nun sein erstes literarisches Solo-Album vor: ein rundes Dutzend Erzählungen, „fantastische Satiren“, wie es im Untertitel des im Verlag Labor erschienenen Sammelbandes heißt.

Ob die Texte tatsächlich allesamt der Gattung Satire zuzurechnen sind, wäre diskutierbar, auf einige trifft die Bezeichnung aber punktgenau zu, so „Radio Radio“, wo sich der Autor als Satiriker sogar recht weit aus dem Fenster lehnt – Wien ist schließlich ein Dorf, und wer versuchte nicht, hinter den wenig schmeichelhaft gezeichneten Figuren eines „Radiodirektors“ und eines „leitenden Redakteurs“ vom Küniglberg die realen Personen zu erraten? Welche Anteile seiner Pointen und Figuren der Realität und welche Vitouchs Fantasie entsprungen sind, wird uns vom Autor natürlich kunstvoll verheimlicht. Immerhin bietet er zum Thema „unausweichliche Fragen“ und „keine einfachen Antworten“ eine programmatische Handreichung, in der ein – diesfalls unschwer zu erkennender – Starregisseur, der laut Vitouch wie ein Double des bösen Zauberers Saruman in Lord of the Rings aussieht, ein wenig durch den Kakao gezogen wird.

Böse wird die Sache, wenn ein Altlinker mit der unmenschlich stringenten Logik, die man als Studentin in den Siebzigern an den VertreterInnen diverser maoistischer und trotzkistischer Splittergruppen zu hassen gelernt hat, ausführt, warum (wieder einmal) nur Terror die Welt retten kann, diesmal halt Öko-Terror. Oder wenn ein Paul, in einer passenderweise „Robespierre“ betitelten Erzählung, der mit seinem triebhaften Hang zu Hackebeil und Guillotine so gern der „Schlächter von Wien“ geworden wäre, als politische Nachwuchshoffnung gezähmt, es dann doch nur zum Staatssekretär bringt.

Allerlei Todesarten

Von allerlei grausigen Todesarten ist auch sonst öfter die Rede. So steht der Ringelspielbesitzer Blaubart in der schönsten Tradition des Wienerisch- Sinistren und ist mit seinen kannibalischen Vorlieben ein naher Verwandter von Peter Wehles „Berufsgespenst im Prater auf der Geisterbahn“. Den Verweis auf eine andere vergangene Größe im Spiegelkabinett des Schreckens gibt der Autor gleich selbst – mit eingestreuten Zitaten aus dem „Krüppellied“ von Peter Hammerschlag.

Das surrealistische Drama Ionescos lässt grüßen, wenn in „R. wie Rhinozeros“ ein Feingeist in Nashornhaut an der „Anpassung an die Vertrottelung des Kulturbetriebs“ scheitert – und natürlich dürfen auch die Situationisten nicht fehlen, deren Leitfigur Guy Debord – oder war es sein Doppelgänger? – sich in Ausübung der von ihm proklamierten Praxis des urbanen Umherschweifens ausgerechnet in die Begegnungszone Mariahilfer Straße verirrt, mit fatalen Folgen. Er hat eben, wie der Autor trocken vermerkt, „seine Rechnung ohne die antagonistischen Kräfte der grünen Konterrevolution gemacht“.

Grüntöne durchziehen die Geschichten auch sonst, beginnend mit der titelgebenden Erzählung „Einstein in Zürich“, in der plötzlich ergrünendes Haar und ein ordentlicher Absinthrausch das Jahrhundertgenie auf die Reise von Princeton nach Zürich bringen … Absinth trinkt man auch im Café Slavia in Prag, irgendwann in grauer Zukunft „nach der Flut“, und isst dazu sauer eingelegte Würste, die auf Tschechisch „Wasserleichen“ (utopence) heißen. Nach Lissabon lockt den Erzähler ein grünäugiges Mädchen; um ihretwillen wird er zum Junkie, besorgt täglich für sie grünes Pulver in einer Apotheke der von bösen Zwergen regierten Stadt.

Die Verstrickungen, in denen sich die Figuren finden, entspinnen sich, wie es sich für eine (Alb-)Traumreise gehört, über dem gähnenden Abgrund zwischen Komik und Grauen. Wer wäre nicht panisch, würde er als regierender Schachweltmeister zu Beginn der entscheidenden Partie gegen den gefürchteten Herausforderer plötzlich herausfinden, dass hier etwas ganz anderes zu spielen sein wird?

„Das Wahrscheinlichste ist, dass Intelligenz ein gefährlicher Sonderfall ist“, wie der böse Wolf dem Mädchen mit der roten Kappe erklärt. Wenn das stimmt, sollte man sich bei der Lektüre der Vitouch’schen Geschichten besser in Acht nehmen.

Anatol Vitouch
Einstein in Zürich
Labor Verlag, Wien 2015
144 Seiten
14,90 EUR

Die mobile Version verlassen