Akiva Orr: Ein israelischer 68er

Akiva Orr gründete in den 60er-Jahren die linkssozialistische Organisation Matzpen. Er stand exemplarisch für den linken Antizionismus in Israel.
VON STEPHAN GRIGAT

Matzpen, Zeitung der israelischen sozialistischen Organisation

Linke israelische Antizionisten bedienen seit Jahrzehnten das europäische Bedürfnis nach vermeintlich legitimer, weil von jüdischen Israelis vorgetragener Israel-Kritik. Typisch für den israelischen, mit dem Antiimperialismus Lenins sowie dem Antikolonialismus Frantz Fanons ausgestatteten Linksradikalismus ist die mittlerweile aufgelöste „Sozialistische Organisation“ Israels mit ihrer Monatszeitung Matzpen, die sich Anfang der 1970er-Jahre in mehrere Strömungen aufgespalten hat. Einige ihrer ehemals führenden Mitglieder wie Michael Warschawski arbeiten heute im Alternative Information Centre in Jerusalem. Warschawski charakterisiert das Programm der Matzpen- Gruppe wie folgt: „Die Organisation schlug eine radikale Kritik des Zionismus vor: im Gegensatz zur traditionellen Linie der Kommunistischen Partei Israels verstand sie den Krieg von 1948 als ethnische Säuberungsaktion, nicht als nationalen Befreiungskrieg; sie setzte sich für die […] ‚Dezionisierung‘ Israels […] ein.“

Gegen die Mehrheitsmeinung
Eines der Gründungsmitglieder von Matzpen war der 1931 in Berlin- Charlottenburg geborene und 2013 in Israel verstorbene Akiva Orr, der in der Hagana und 1948 in der israelischen Armee gekämpft hatte. Danach ging er zur Handelsmarine, war an der Organisierung des großen Streiks von 1951 beteiligt und trat 1953 der Kommunistischen Partei bei, deren Mitglied er bis 1962 blieb. Später ging er wie ein weiterer Vordenker von Matzpen, Moshe Machover, nach London, kehrte aber Anfang der neunziger Jahre aus privaten Gründen nach Israel zurück. Orr war mit dem marxistischen Theoretiker Cornelius Castoriadis befreundet und engagierte sich in London beim englischen Ableger der Gruppe Socialisme ou Barbarie, wollte sich aber nie den Vorgaben irgendeiner Internationale unterwerfen. Als einige seiner ehemaligen Matzpen-Genossen sich den diversen Internationalen der Trotzkisten anschlossen, erklärte der im besten Sinne antiautoritäre Orr, er habe doch nicht mit der KP gebrochen, die eine Filiale Moskaus war, um nun eine Filiale Londons zu werden.

Orr opponierte regelmäßig gegen die Mehrheitsmeinung in der Matzpen- Gruppe und galt lange als parteiinterner Gegenpol zu den Positionen Warschawskis, dessen Unfähigkeit zur Kritik des palästinensischen Nationalismus er auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch scharf kritisierte. Gleichwohl sprach er sich stets dezidiert für die Abschaffung des israelischen Rechts auf Rückkehr aus und zielte damit auf den revolutionären Kern des Zionismus. Im Gegensatz zu jenen Strömungen innerhalb der Matzpen, welche die marxistischleninistische Vorstellung von einem „objektiv progressiven Nationalismus“ der Unterdrückten teilten, for mulierte Orr früh eine radikal antinationale Position – die geradezu gezwungen ist, die Besonderheiten der israelischen Nation zum Verschwinden zu bringen. Orr hat die von Machover formulierte Mehrheitsposition der Matzpen zur Begründung eines Rechts auf jüdische Selbstbestimmung jenseits des Zionismus stets abgelehnt. Diese Position, die Machover bis heute vertritt, wenn er von der „hebräischen Nation“ und den „ihr zustehenden nationalen Rechten“ nach der „Überwindung des Zionismus“ spricht, interessiert sich allerdings ebenso wenig für den Charakter des Zionismus als Antwort auf den Antisemitismus wie der abstrakte Antinationalismus Orrs.

Orr spricht statt von Antisemitismus stets von „anti-jüdischem Rassismus“, und der Rassismus wird bei ihm ausschließlich funktionalistisch verstanden. Er unterstellt den Zionisten, sie seien nicht von Angst vor physischer Vernichtung, sondern von Sorge um den Verlust ihrer jüdischen Identität getrieben, wobei doch Letzteres in vielerlei Hinsicht ein Resultat von Ersterem ist. Sigmund Freud und Albert Einstein werden von Orr als erfolgreiche Fälle von Assimilierung angeführt, obwohl beide vor den Nazis fliehen mussten. Auch Trotzki, der immer wieder Opfer der antisemitischen stalinistischen Agitation wurde, muss bei Orr als Beleg herhalten. Als Erfolgskriterium für die Assimilierung, die den Zionismus als Antwort auf den Antisemitismus überflüssig machen soll, wird von Orr ausschließlich das Bewusstsein und der Habitus der sich assimilierenden Personen herangezogen, nicht aber das doch entscheidende Verhalten der Gesellschaft gegenüber den Assimilierten. Dass es gerade dieses Verhalten der Mehrheitsgesellschaft ist, das dem Zionismus immer wieder aufs Neue Argumente liefert, wollte und konnte Orr nicht sehen. Er steht damit exemplarisch für den linken Antizionismus in Israel.

Gegen die Grundintentionen des Zionismus
Ganz ähnlich wie aktuelle linke Kritiker des Zionismus, welche die jüdische Selbstbehauptung in Form der staatlichen Selbstbestimmung als partikularistisch ablehnen, stellte Orr stets eine „universelle Moral“ als zentralen Bezugspunkt für seine Kritik des Zionismus heraus. Diese ermöglichte ihm allerdings auch eine Kritik an politischen Artikulationen auf palästinensischer Seite, während Jakob Taut von Warschawskis Matzpen- Fraktion in Jerusalem, auf den sich verurteilte antizionistische Schläger in Österreich und die Avantgarde der linken Kooperation mit dem Islamismus in Deutschland bis heute positiv beziehen, unmissverständlich dekretierte: „Der Nationalismus der entwickelten Länder ist kompromisslos immer zu bekämpfen; dagegen ist der Nationalismus der unterdrückten Völker grundsätzlich eine emanzipatorische Tat, muss also unterstützt werden.“

Orr hob sich Ende der achtziger Jahre auch durch eine dezidierte Kritik des politischen Islam von einer Vielzahl europäischer Antizionisten ab: „Das Schweigen der Atheisten über den Islam läuft auf Selbstaufgabe hinaus und ist ein weiterer Schritt hin zu religiös begründeten Exekutionen.“ In der Zeitschrift Khamsin, die von bedeutenden Matzpen-Aktivisten zusammen mit arabischen Linksintellektuellen seit Mitte der 1970er-Jahre in Paris herausgegeben wurde, fanden sich ebenfalls bemerkenswerte Kritiken des islamischen Djihadismus. Während sich maßgebliche Teile des europäischen Linksradikalismus lange Illusionen über die iranische Revolution machten, erschienen in Khamsin bald nach der Islamischen Revolution von 1979 scharfe Kritiken an den Entwicklungen im Iran, insbesondere von Kanan Makiya und dessen Frau Afsaneh Najmabadi.

Für jemanden wie Orr war es noch selbstverständlich, sich auch skeptisch gegenüber dem palästinensischen Nationalismus und der islamistischen Mobilisierung zu äußern. Im heute gängigen israelischen linken Antizionismus steht der grundsätzlichen Ablehnung des Zionismus jedoch die Idealisierung des palästinensischen Nationalismus gegenüber, mit der israelische Linksradikale der zaghaften und marginalisierten Kritik am Antisemitismus innerhalb der palästinensischen Gesellschaft regelmäßig in den Rücken fallen. Nachdrücklich hat eines der ehemaligen Vorbilder der grundsätzlichen Kritiker des israelischen Staatsgründungsprogramms auf die Verklärung der nationalen Bestrebungen der Palästinenser aufmerksam gemacht: Benny Morris. Es war dieser frühe Kritiker der zionistischen Gründungsmythen, der anlässlich einer Auseinandersetzung mit dem Antizionisten Ilan Pappe kurz nach dem Höhepunkt der zweiten Intifada darauf hinwies, dass nicht nur viele europäische Beobachter, sondern auch die Mehrzahl der radikalen Linken in Israel sich weigern, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Kampf großer Teile der palästinensischen Gesellschaft sich nicht allein gegen die Besatzung im Westjordanland und bis 2005 im Gazastreifen richtet, sondern fast immer gegen die Grundintentionen des Zionismus und gegen all jene Ausprägungen von menschlichem Dasein, die den religiösen und nationalistischen Djihadisten als Ausgeburt des „westlichen Satanismus“ gelten.

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