Abtreibungsfrage im Judentum – quo vadis?

Der bekannte israelische Rabbiner Benny Lau, Neffe des früheren Oberrabbiners von Israel, Israel Meir Lau, überraschte vor kurzem mit harter Kritik am rabbinischen Establishment: Dieses würde die halachische Auslegung in der Abtreibungsfrage in Richtung des christlich-katholischen Wertekanons bewegen und damit einen schweren Fehler begehen.
Von Martin Engelberg

Die jüngste Abtreibungs-Diskussion in Israel entzündete sich am geplanten Selbstmord zweier Teenager, weil das 17-jährige Mädchen schwanger geworden war. Es kam zu einem Schusswechsel mit der Polizei, bei dem der Bursch getötet wurde. Das Problem dabei: Die Familie des Mädchens behauptete, Mitarbeiterinnen der Organisation Efrat hätten versucht, sie mit „Brainwashing“ von einer Abtreibung abzubringen und hätten damit das junge Pärchen in völlige emotionale Verwirrung getrieben.

Efrat, eine jüdisch-religiöse Organisation mit etwa 2.800 Freiwilligen in Israel, wurde schon oft kritisiert, weil sie versuchen soll – praktisch unter allen Umständen – einen Schwangerschaftsabbruch zu verhindern, so z. B. auch in Fällen von Schwangerschaften Jugendlicher oder absehbarer medizinischer Probleme. Auf der Homepage von Efrat befindet sich auch folgender Leitsatz: „Was ist eine Abtreibung? Abtreibung bedeutet, das Leben eines Kindes zu beenden, welches noch nicht genügend entwickelt ist, um außerhalb des Körpers der Mutter zu überleben.“ Diese Definition von Abtreibung entspreche den Wertvorstellungen des Christentums und stehe klar im Widerspruch zur jüdisch-halachischen Tradition, stellen Kritiker wie Rabbiner Benny Lau fest.

Ist Abtreibung Mord oder nicht?

Die beiden Oberrabbiner Israels, Shlomo Amar und Yona Metzger, stellten sich daraufhin demonstrativ hinter Efrat und lobten deren Aktivitäten in höchsten Tönen. Efrat habe in den vergangen 30 Jahren zehntausende Föten gerettet. Der Brief von Amar und Metzger ging an alle Rabbiner Israels und gipfelte in der Feststellung: „Die breite Öffentlichkeit muss auf die gravierende Bedeutung der Tötung von Föten aufmerksam gemacht werden, welche wie tatsächlicher Mord ist.“

Als Reaktion auf diesen Brief beklagte Rabbiner Lau, es werde die Komplexität des Themas nicht mehr erfasst, es gäbe keine Diskussionen mehr. „Wir sind flach geworden, Republikaner, Katholiken“, sagte er in einem Interview mit der Zeitung Ha’aretz und schloss: „Der Slogan ‚Abtreibung ist Mord‘ entspricht weder dem rabbinischen Gesetz, noch gehört er zum Judentum.“

Daraufhin beeilte sich der Gründer von Efrat, Dr. Eli Schussheim, festzustellen, seine Organisation hätte nie behauptet, dass Abtreibung Mord sei und hätte diese Formulierung nie verwendet.

Was sagt die Halacha?

Die Position der Halacha (jüdischer Rechtskodex) gegenüber der Abtreibung ist – wie in vielen anderen Fragen – höchst komplex. Die Tora (die schriftliche Überlieferung) berührt das Thema Abtreibung gar nicht. Die Mischna (die mündliche Überlieferung) gebietet den Abbruch einer Schwangerschaft für den Fall, dass das Leben der Mutter durch diese in Gefahr ist. Der Talmud bezeichnet den Fötus bis zum 40. Tag schlicht als Wasser, und die Weisen sehen keinen Grund, die Gesetze über Mord auf den Fötus anzuwenden. Der Embryo wird nicht als Person bezeichnet, daher finden auch die jüdischen Trauergesetze für diesen keine Anwendung.

Andererseits stellt der Talmud jedoch fest, dass eine Abtreibung unter das Noachidische Verbot des Blutvergießens fällt. Viele Rabbiner argumentierten auch, dass Abtreibung ebenso wie Empfängnisverhütung der Mitzwa der fruchtbaren Vermehrung entgegensteht. Jedenfalls entwickelten sich auf Basis dieser Quellen zwei Stränge in den halachischen Überlegungen zur Abtreibung: Im Prinzip ist eine solche verboten. Ist jedoch das Leben der werdenden Mutter in Gefahr – egal ob physisch oder psychisch – so ist eine Abtreibung nicht nur zulässig, sondern z. B. nach Maimonides sogar geboten. Eine solche Abtreibung kann bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Geburt erfolgen, weil erst dann das Kind ein eigenständiger Mensch ist.

Ein Rabbiner kennt die Regeln, ein Oberrabbiner auch die Ausnahmen

Die Frage der Auslegung, wann das Leben bzw. auch nur die physische oder psychische Gesundheit der werdenden Mutter in Gefahr ist, was eine Abtreibung rechtfertigt, ist genau jener Bereich, der Rabbinern einen beträchtlichen Spielraum lässt. Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg wird äußerst selten mit einer Frage zu einer Abtreibung konfrontiert. Aber auch in diesem Bereich würde er seine persönliche Maxime anwenden: „Ein Rabbiner kennt die Regeln, ein Oberrabbiner kennt nicht nur die Regeln – er kennt auch die Ausnahmen.“ Im Übrigen kam es schon einmal vor, dass ihn ein Aktivist einer christlichen Organisation dazu bewegen wollte, an einer Anti-Abtreibungsdemonstration teilzunehmen. Als Eisenberg zögerlich reagierte, habe der Aktivist nochmals nachgesetzt und gefragt, ob der Oberrabbiner nicht ebenfalls gegen Abtreibung sei. Daraufhin habe Eisenberg geantwortet, dass er jedenfalls gegen Demonstrationen gegen Abtreibung ist.

In Israel muss vor einer Abtreibung die Zustimmung eines „Termination Committee“ eingeholt werden. Dieses besteht aus einer Gynäkologin, einem weiteren Arzt, der entweder der Familienarzt, ein Psychiater, Internist oder Gynäkologe ist und einer Sozialarbeiterin, wobei zumindest ein Mitglied eine Frau sein muss. Als Gründe für die Genehmigung einer Abtreibung gelten: Alter der Schwangeren (unter 17 oder über 40); illegales Zustandekommen der Schwangerschaft, z. B. durch Vergewaltigung, Inzest oder außerhalb einer Ehe; physische oder psychische Defekte des Fötus; oder Umstände, unter denen eine Fortsetzung der Schwangerschaft das Leben der Frau gefährden oder ihr physischen oder psychischen Schaden zufügen könnte. In der Praxis werden die meisten Anträge genehmigt, und es finden darüber hinaus viele Schwangerschaftsabbrüche illegal in Arztpraxen statt.

Position des konservativen und des Reformjudentums

Konservatives und Reformjudentum, welches vor allem in den USA beheimatet ist, hält Abtreibungen für gerechtfertigt, wenn die Fortsetzung einer Schwangerschaft der Frau schweren physischen oder psychologischen Schaden zufügen könnte oder wenn der Fötus aufgrund einer medizinischen Diagnose als schwer geschädigt eingeschätzt wird. Die Entscheidung zu einer Abtreibung solle nie leichtfertig getroffen werden; es wird der Frau angeraten, sich davor mit dem biologischen Vater, anderen Familienmitgliedern, ihrem Arzt, ihrem Rabbiner und jeder anderen Person beraten, die ihr helfen kann, diese schwerwiegende Entscheidung zu treffen. Das Reformjudentum erlaubt darüber hinaus einen Abbruch auch ausdrücklich im Falle einer Schwangerschaft infolge einer Vergewaltigung oder von Inzest.

Die Haltung zur Abtreibungsfrage gilt daher im Judentum als jene Frage, die am wenigsten umstritten ist. Eine jüdische US-amerikanische Publikation führte 2012 eine Umfrage durch, bei welcher 93 % der jüdischen Befragten angaben, in allen bzw. den meisten Fällen für das Recht einer Frau auf eine Abtreibung zu sein.

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